Empathische Fähigkeiten
Empathie ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Und genau das ist es: eine Fähigkeit, die man trainieren, die man ausbauen oder die man als unnütz ansehen und sie beiseitelegen kann. Immer öfter staune ich, wie viele Menschen, die eigentlich alles Erdenkliche haben, um sich und ihr Leben glücklich schätzen zu können, dennoch kaum Empathie besitzen.
Das beobachte ich beispielsweise an der Kasse im Warenhaus. Etliche, die einen vollgestopften Einkaufswagen vor sich herschieben, würden niemals daran denken, den Kunden hinter sich, der es gegebenenfalls eilig hat und lediglich zwei Artikel mit sich trägt, vorzulassen. Oder wie viele Menschen geben eine auf der Straße gefundene Brieftasche mitsamt dem ganzen Inhalt beim Fundbüro ab? Nur sehr wenige.
Schon lange beschäftige ich mich mit dem prosozialen Verhalten. Diesem menschlichen Verhalten, das primär anderen Menschen dient und nicht an erster Stelle mir selbst.
Viele entschuldigen ihr egoistisches Verhalten mit Ausreden wie »Ich hatte keine Zeit und wäre zu spät zur Arbeit gekommen, hätte ich dem älteren Herrn, der auf dem Glatteis gestürzt ist, geholfen.« Auch sind solche Ausreden beliebt, die auf der Annahme beruhen, dass alle anderen ebenfalls egoistisch seien: »Hätte ich meine Brieftasche auf der Straße verloren, so hätte ich diese, wenn überhaupt, auch nur ohne Geld zurückerhalten. Und außerdem: Hätte ich das Geld nicht genommen, so hätte es jemand anderes bekommen.« Verantwortungsdiffusion, Abgabe der eigenen Verantwortung.
Die Menschen versuchen also, ihr Verhalten immer zu entschuldigen. Sei es, dass die Zeit fehlt oder dass sie die Verantwortung auf andere übertragen. Selten bis nie höre ich: »Hätte ich meine Brieftasche verloren, so würde ich mich freuen, wenn ich diese vollständig zurückbekommen würde.« Und genau in diesem einen Satz ist sie enthalten. Genau hier drin befindet sie sich, die Empathie. Das Gefühl, sich in andere hineinversetzen zu können. Wenn du das machst, so bist du allen anderen bereits jetzt einen großen Schritt voraus. Oft traut man sich nicht, diese Einstellung einzunehmen. Die Abneigung gegenüber der Empathie ist meist überhaupt nicht böse gemeint. Es ist ein gewöhnlicher Schutzmechanismus des Menschen. Wir haben im Laufe unserer Evolution gelernt, dass es besser ist, dass wir, sollte unser Steinzeitfreund von Feinden aufgespießt werden, ihm nicht helfen, sondern davonlaufen. Es ist besser, sein eigenes Leben nicht auch noch aufs Spiel zu setzen, zumal es für das Leben des Freundes sowieso zu spät ist.
Etliche Menschen vermeiden prosoziales Verhalten, weil sie Angst haben, die Situation falsch zu bewerten. Wenn ich beispielsweise einen Menschen auf dem Boden liegen sehe, so könnte der dort auch einfach nur schlafen oder sich hingelegt haben. Oder vielleicht ist es ein Obdachloser, der nur seine Ruhe haben möchte. Und wenn schon alle anderen nicht reagieren, so werde ich die Situation wohl nicht anders einschätzen müssen als alle anderen. Genauso kann es auch mit dem Empathievermögen sein. Viele Menschen trauen sich nicht, empathisch zu sein. Aus Angst davor, falsch zu liegen, Fehler zu begehen und alles zu vermasseln.
Doch was kann Empathie bewirken? Eigentlich ist sie eine Wunderwaffe. Eine geheime Waffe, die, richtig angewendet, in Verbindung mit paar Tipps und Tricks und insbesondere mit mentalem Wissen, uns deutlich weiter bringen kann, als sämtliches egoistisches Verhalten es tut. Sei es bei einem Verkaufsgespräch oder beim Umwerben eines potenziellen Partners.
Angenommen, ich stehe einem Menschen gegenüber, von dem ich irgendetwas möchte, was er mir mit nur geringer Wahrscheinlichkeit geben wird. So habe ich diesbezüglich zwei Möglichkeiten. Entweder ich zeige ihm, dass ich hart und direkt bin und etwas von ihm will, oder ich versuche, meine Empathie spielen zu lassen. Durch die Empathie habe ich deutlich mehr Vorteile. Beispielsweise kann ich auf diese Weise meine Fähigkeiten im Gedankenlesen respektive im Fühlen der Gedanken ausbauen. Wenn ich mich in mein Gegenüber hineinversetzen kann, weiß, was es sieht, fühlt, hört und was es denkt, dann fällt es mir leichter, seinen momentanen Gedanken zu folgen. Auf diese Weise kann ich versuchen zu erahnen, was mein Gegenüber am liebsten hören möchte.
Oft machen das zum Beispiel Männer mit ihren Frauen. Jedoch meist leider ohne allzu großes Empathievermögen. Der Mann will etwas von der Frau und weiß aus Erfahrung, was sie hören will. Et voilà – es klappt.
Diese Art der situativen Empathie ist nicht allzu schwierig. Schwieriger wird es, wenn die ganze Persönlichkeit und deren Vergangenheit mit ins Spiel kommen. Schaue ich mir mein Gegenüber ganz genau an, erkenne ich, welche Kleidung es trägt, welchen Schmuck. Wie der Drang zur Ästhetik wirkt und wie ausgeprägt die Körperpflege ist, so kann ich daraus schon einiges über die Persönlichkeit ableiten. Und ich kann versuchen, mich in das Gegenüber hineinzuversetzen, kann versuchen zu verstehen, weshalb genau dieser Schmuck und genau diese Schuhe getragen werden.
An dieser Stelle wäre es falsch, irgendwelche Allgemeinplätze aufzulisten. Jeder Mensch hat seine eigene Persönlichkeit. Jeder wuchs in einem Elternhaus auf, das eigene Normen und Einstellungen hatte, politisch wie religiös.
Oft fällt es uns nicht leicht, zu erkennen, welche Persönlichkeit vor uns steht. Manchmal braucht es ein paar Minuten, um die Person und deren Charakter zu erkennen. Und bitte, verlasse dich nicht auf den angeblich »entscheidenden ersten Augenblick«. Denn auch dieser ist niemals derart mächtig, wie viele Menschen meinen. Im Gegenteil. Er ist eben nur so lange entscheidend, bis dein Gegenüber dir gezeigt hat, wer sie oder er wirklich ist, und nicht, wer du glaubst, dass sie oder er ist. Der erste Eindruck ist lediglich der Eindruck, der im Kopf des Gegenübers entsteht. Dieser entspricht oft überhaupt nicht der Wahrheit und wird meist auch binnen weniger Minuten widerlegt. Häufig ändert sich der Eindruck nach dem ersten intensiveren Gespräch erneut. Achte mal darauf.
Die neue Mitarbeiterin scheint auf den ersten Blick sehr arrogant zu sein. Als sie dich nach wenigen Minuten fragt, ob du mit ihr in die Raucherpause gehen magst, und du dich darüber freust, dass sie ebenfalls wie du Raucherin ist, wird sie dir schon viel sympathischer und kann damit deinen ersten Eindruck einer neuen, spießigen Kollegin widerlegen. Und wenn sie dir am zweiten Arbeitstag eine Tasse Kaffee an den Tisch bringt, erkennst du, wie fürsorglich und normal sie wirklich ist. Auf einmal kann aus der auf den ersten Eindruck spießigen, neuen Mitarbeiterin deine beste Freundin werden. Hättest du aber gleich deine empathischen Fähigkeiten eingesetzt und versucht, dich in ihre Haut zu versetzen, so wäre es dir wohl logisch erschienen, dass sie am ersten Arbeitstag etwas ordentlichere Kleider anziehen würde, die entsprechend von Professionalität und Kompetenz zeugen. Hättest du alle deine Sinne verwendet, so hättest du gerochen, dass ihre Kleider ganz dezent nach kaltem Rauch riechen. Also rauchte sie wahrscheinlich, noch bevor sie ins Büro kam, eine Zigarette. Wahrscheinlich war sie nervös und aufgeregt am ersten Arbeitstag. Damit wissen wir schon, dass sie lediglich akzeptiert werden möchte und sicherlich unheimliche Angst hatte vor diesem ersten Arbeitstag. Die Zigarette hat sie beruhigt.
Natürlich muss man nicht alle Menschen verstehen. Serienmörder, Kinderschänder und anderweitig kriminelle Menschen, die anderen Schaden zufügen, müssen aus meiner Sicht nicht verstanden werden. Mir ist klar, dass diese eventuell auch eine schwierige Kindheit hatten oder dass ihnen dieses entsprechende Verhalten vielleicht als »normal« mitgegeben wurde. Dennoch muss ich keine Empathie für sie empfinden. Zumeist kann ein derartiger Mensch, wenn er andere Menschen missbraucht, keine Empathie aufbringen. So einer kann sich meist nicht in andere hineinversetzen und führt anderen bewusst Schaden und Schmerzen zu.
Aber konzentrieren wir uns lieber auf ein harmloseres Szenario. Beispielsweise den Straßenverkehr. Oftmals regen wir uns als Autofahrer über die Fußgänger auf, ohne daran zu denken, dass wir am selben Tag auch schon Fußgänger waren. Oder wir regen uns über den Autofahrer vor uns auf, ohne zu verstehen, dass der wohl gerade eine bestimmte Adresse sucht und etwas hilflos ist. Leider versuchen wir, uns im Straßenverkehr immer gegenseitig herauszufordern. Wir wollen immer schneller sein und bessere Autos fahren können als alle unsere anderen Mitbewerber. Dieser evolutionsbedingte Drang, schneller zu sein als alle anderen – damit wir eher beim Mammut ankommen und zweihundert Gramm mehr Fleisch vom Knochen knabbern können –, ist ein plumper Steinzeitdrang. Dieser wirkt insbesondere in unseren westlichen Staaten, hier, wo wir genügend zu Essen und eine unbezahlbare Lebensqualität haben, wie ein überholtes Relikt. Wenn wir unseren unbekannten Kollegen auf der Autobahn mit drei Kilometern mehr auf dem Tacho überholen, so sind wir nicht schneller zu Hause als der. Aber wir haben den Drang, schneller sein zu wollen als die anderen, befriedigt. Bei der nächsten roten Ampel stehen wir wieder friedlich hintereinander und außer eventuell der Polizei hat der Kampf um die Geschwindigkeit keinem von uns beiden gedient.
Es gibt kein Mammut mehr. Es gibt keinen Wettkampf mit den anderen Verkehrsteilnehmern. Es gibt lediglich den Wettkampf zwischen unserem Bewusstsein und unserem Unterbewusstsein, das geprägt ist von unserer Evolution und der Erfahrung aus unserer Kindheit.
Die Fähigkeit zur Empathie kann man trainieren, mittels...