1. Meine Geschichte
Menschen, die nicht an Autismus leiden, fragen mich immer, wann ich gelernt habe, Tiere zu verstehen. Sie glauben, ich hätte irgendwann eine Art göttliche Eingebung gehabt.
Aber so war es nicht. Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich merkte, dass ich Dinge an Tieren wahrnehme, die andere nicht wahrnehmen. Ich musste vierzig werden, bis mir auffiel, dass ich den Tierbesitzern, die ich beriet, etwas Entscheidendes voraushatte: Ich war Autistin. Der Autismus bereitete mir in der Schule und im Leben einige Probleme, erleichterte mir aber den Zugang zu Tieren.
Als ich klein war, merkte ich gar nicht, dass ich einen speziellen Draht zu Tieren hatte. Ich mochte sie, war aber schon damit überfordert, einen kleinen Hund von einer Katze unterscheiden zu können. Das war eine schlimme Zeit damals. Alle Hunde, die ich kannte, waren ziemlich groß und ich hatte mir angewöhnt, sie anhand ihrer Größe zu erkennen. Doch dann schafften sich unsere Nachbarn einen Dackel an und ich war völlig verwirrt. »Wie kann das bloß ein Hund sein?«, fragte ich mich verzweifelt. Ich sah mir das Tier immer wieder an und versuchte, dem Geheimnis auf die Schliche zu kommen. Endlich erkannte ich, dass der Dackel dieselbe Schnauze hatte wie mein Golden Retriever. Jetzt begriff ich: Hunde haben Hundeschnauzen.
Das war mein Wissensstand, als ich fünf Jahre alt war.
In der High School fraß ich dann einen richtigen Narren an Tieren. Ich ging auf ein spezielles Internat für »verhaltensauffällige« Hochbegabte. Meine Mutter hatte eine neue Schule für mich suchen müssen, da ich wegen meiner ständigen Raufereien von der alten geflogen war. Ich geriet ständig in irgendwelche Schlägereien, weil mich die anderen Kinder ärgerten. Sie nannten mich »Doofi« oder »Tonbandgerät«.
Tonbandgerät deshalb, weil ich in meinem Gehirn feste Formulierungen gespeichert hatte, die ich in jeder Unterhaltung mehrmals verwendete. Einmal ganz abgesehen davon, dass ich mich sowieso nur über eine sehr beschränkte Anzahl von Themen unterhalten wollte, was den Effekt noch verstärkte. Am liebsten redete ich über das Kettenkarussell auf dem Jahrmarkt. Ich ging einfach auf die nächstbeste Person zu und sagte: »Ich war im Nantasket Park und bin Karussell gefahren. Ich fand’s toll, wie ich nach außen gedrückt wurde.« Anschließend fragte ich: »Und, wie hat’s dir gefallen?«, nur um gleich darauf alles noch mal zu erzählen – und zwar von Anfang bis Ende. Kein Wunder, dass mich die Kinder »Tonbandgerät« nannten!
Doch die ewigen Hänseleien verletzten mich. Die Kinder ärgerten mich, ich wurde wütend und ging auf sie los. So einfach war das. Angefangen haben stets die anderen, denn es machte ihnen Spaß, mich zu provozieren.
In meiner neuen Schule sollte sich dieses Problem bald legen. Dort gab es Pferde, auf denen die Kinder reiten konnten. Sobald ich auf jemanden losging, bekam ich Reitverbot. Nachdem mir das Reiten mehrere Male verboten worden war, gewöhnte ich mir an, einfach nur zu weinen, wenn mich jemand verletzt hatte. Ich weinte, und meine Aggression verflog. Ich weine heute noch, wenn man mir wehtut. Und obwohl mich die Kinder nach wie vor hänselten, ließ ich sie in Ruhe.
Ironischerweise waren die Pferde an dieser Schule ebenfalls verhaltensauffällig. Weil der Direktor sparen wollte, kaufte er nur billige Pferde. Und dass sie so billig waren, lag daran, dass sie massive Verhaltensprobleme hatten. Sie sahen schön aus, waren aber völlig gestört. Insgesamt gab es neun Pferde. Zwei von ihnen konnte man überhaupt nicht reiten. Die Hälfte der Pferde in diesem Stall hatte ernsthafte psychologische Probleme, aber das wusste ich damals mit vierzehn noch nicht.
Und so lebten wir alle zusammen in diesem Internat – ein Haufen verhaltensauffälliger Teenager und ebenso verhaltensauffällige Pferde. Eine Stute namens Lady war lammfromm in der Halle, aber sobald man mit ihr ausritt, flippte sie aus. Sie bäumte sich auf, sprang und bockte, und wenn man die Zügel nicht fest in die Hand nahm, raste sie sofort zurück in den Stall.
Dann war da noch Beauty, der die schlechte Angewohnheit hatte, nach einem zu treten und zu beißen, sobald man im Sattel saß. Er winkelte sein Bein an und trat einem vors Schienbein. Oder aber er drehte den Kopf und biss einem ins Knie. Vor ihm musste man ständig auf der Hut sein. Sobald man versuchte, aufzusteigen, trat und biss Beauty gleichzeitig, sodass man gar nicht wusste, worauf man mehr achten sollte.
Aber das war rein gar nichts im Vergleich zu Goldie, die sich aufbäumte und bockte, sobald man ihr zu nahe kam. Sie hatte richtig Panik davor, geritten zu werden. Von Reiten konnte bei diesem Pferd keine Rede sein, denn man war voll und ganz damit beschäftigt, überhaupt in den Sattel zu kommen. Wenn einem das gelang, tobte Goldie derart, dass sie in kürzester Zeit völlig schweißbedeckt war.
Goldie war ein wunderschönes Pferd, hellbraun mit einer goldenen Mähne und einem ebensolchen Schweif. Sie war gebaut wie ein Araber, so schlank und zierlich war sie, und sie besaß perfekte Manieren. Sie ließ sich bereitwillig am Zügel führen und striegeln – im Grunde konnte man alles mit ihr machen –, nur reiten durfte man sie nicht. Das klingt nach einem weit verbreiteten Problem bei übernervösen Pferden, doch es gibt auch den umgekehrten Fall. Ich kenne Pferde, von denen ihre Besitzer sagen: »Reiten kann man sie, aber mehr auch nicht.« Solche Pferde sind kreuzbrav, sobald man im Sattel sitzt. Doch kaum steigt man ab, verwandeln sie sich in richtige Bestien.
Alle Pferde, die zum Internat gehörten, waren schwer misshandelt worden. Die Vorbesitzerin von Goldie hatte eine ganz gemeine, scharfkantige Trense verwendet, an der sie zerrte, so fest sie konnte, bis Goldies Zunge völlig verdreht und entstellt war. Beauty dagegen war den ganzen Tag in einem winzigen Pferch eingesperrt gewesen – warum, weiß ich nicht. Die armen Tiere hatten so einiges mitmachen müssen und waren in einer schlimmen Verfassung.
Aber als kleines Mädchen konnte ich das alles nicht wissen. Ich ärgerte die Pferde zwar nicht wie andere Kinder, war aber weit davon entfernt, eine Autistin mit der Sonderbegabung zur Pferdeflüsterin zu sein. Ich war eine Pferdenärrin, mehr nicht.
Ich war so verrückt nach diesen Tieren, dass ich jede freie Minute im Stall verbrachte. Ich mistete die Boxen aus und sorgte dafür, dass die Pferde immer schön gestriegelt waren. Mit das Schönste an meiner ganzen Schulzeit war der Moment, als mir meine Mutter ein wunderschönes englisches Zaumzeug mit dem dazugehörigen Sattel schenkte. Ich freute mich riesig – nicht nur, weil ich endlich etwas hatte, das nur mir gehörte, sondern auch, weil die Sättel der Schule so alt und abgewetzt waren. Wir ritten auf alten McClelland-Sätteln, die schon im amerikanischen Bürgerkrieg verwendet wurden. Unsere stammten noch aus dem Zweiten Weltkrieg, als es noch so etwas wie berittene Einheiten gab. Der McClelland-Sattel hat vorn einen Schlitz, um den Hals des Tieres zu schonen. Dieser Schlitz mag gut für das Pferd sein, ist aber die reinste Katastrophe für den Reiter. Meiner Meinung nach gibt es auf der ganzen Welt keinen unbequemeren Sattel. Höchstens die aus Holz, die von den Soldaten der afghanischen Nordallianz benutzt werden sollen.
Meine Güte, was habe ich meinen englischen Sattel gepflegt! Ich hing so sehr an ihm, dass ich ihn nicht in der Sattelkammer ließ, wo er eigentlich hingehörte, sondern ihn jeden Abend mit auf mein Zimmer nahm. Ich kaufte ein spezielles Sattel-Pflegemittel und konnte Stunden damit verbringen, ihn zu waschen und zu polieren.
Doch so schön es mit den Pferden war, so schrecklich war es in der Schule. Als ich in die Pubertät kam, hatte ich schreckliche Angstzustände. Eine Angst, die nur mit der bei der Verteidigung meiner Doktorarbeit zu vergleichen ist – mit dem Unterschied, dass ich mich damals ständig so fühlte. Dabei gab es überhaupt keinen Grund dafür – wahrscheinlich war das mein Autismus-Gen, das wieder mal verrückt spielte. (Autismus weist nämlich viele Gemeinsamkeiten mit Zwangs- und Angststörungen auf.)
Die Tiere waren meine Rettung. Eines Sommers, als ich meine Tante auf ihrer Ferienranch in Arizona besuchte, sah ich, wie auf der Nachbarsranch gerade eine Rinderherde in einen Fang- und Behandlungsstand getrieben wurde. Darin werden die Rinder so eng zusammengepfercht, dass sie sich nicht mehr von der Stelle rühren und gefahrlos geimpft werden können. So einen Fang- und Behandlungsstand muss man sich wie ein großes V aus zwei Metallgittern vorstellen, die unten am Boden miteinander verbunden sind. Sobald eine Kuh den Stand betritt, sorgt ein Kompressor dafür, dass dieses V geschlossen wird und das Tier an Ort und Stelle festhält. Dem Rancher bleibt zwischen den Metallstreben noch genügend Platz für die Spritze, um die Impfung vollziehen zu können. Im Internet gibt es Bilder davon.
Kaum hatte ich dieses Ding entdeckt, bat ich meine Tante, den Wagen anzuhalten, damit ich mir die Sache aus der Nähe ansehen konnte. Ich war völlig fasziniert von dem Anblick der in diese Maschine gepferchten Tiere. Man sollte meinen, dass die Rinder panisch reagieren, wenn sie so in die Zange genommen werden, doch das Gegenteil ist der Fall. Sie werden plötzlich ganz ruhig. Das ist gar nicht so unlogisch, wenn man bedenkt, dass starker Druck äußerst beruhigend wirkt. Aus demselben Grund empfinden wir auch Massagen als angenehm. Der Fang- und Behandlungsstand gibt den Rindern...