Kindheitserinnerungen
Ich entsinne mich noch gut des Tages, an dem ich meine Mutter und meine jüngere Schwester Jean beinahe umgebracht hätte.
Meine Mutter hatte sich hinters Steuer gesetzt, drehte sich nun zu mir um und sagte: »Hier, dein Hut. Du möchtest doch bestimmt hübsch aussehen, wenn du zu deinem Sprachlehrer gehst, nicht wahr?« Sie stülpte mir den blauen Samthut bis über beide Ohren auf den Kopf, wandte sich nach vorne und ließ den Motor an.
Ich hatte das Gefühl, als würden meine Ohren zu einem einzigen riesigen Ohr zusammengequetscht. Das Hutband saß straff an meinem Kinn. Ich riss mir den Hut vom Kopf und brüllte los. Schreien war die einzige Möglichkeit, meiner Mutter klarzumachen, dass ich den Hut nicht aufhaben wollte. Er tat mir weh und zerdrückte mir das Haar. Ich konnte ihn nicht ausstehen und wollte ihn nicht tragen, wenn es in die »Sprechschule« ging.
An der Ampel drehte sich meine Mutter zu mir um und sah mich an. »Setz den Hut wieder auf«, befahl sie und fuhr auf die Schnellstraße.
Ich befingerte den mir Schmerzen bereitenden Hut und versuchte die Ränder des Gewebes wegzurubbeln. Ich summte tonlos vor mich hin und knetete endlos an der Kopfbedeckung herum, bis sie als unförmiger blauer Klumpen auf meinem Schoß lag. Irgendwie musste ich den Hut loswerden, also beschloss ich, ihn aus dem Fenster zu werfen. Mutter würde gar nichts davon mitbekommen, hatte sie doch auf den Verkehr zu achten. Doch ich war erst etwas über drei Jahre alt und konnte das Fenster nicht selbst nach unten kurbeln. Der Hut fühlte sich mittlerweile höchst unangenehm an, lauernd wie ein Ungeheuer lag er da. Einem plötzlichen Impuls folgend, beugte ich mich nach vorne und schleuderte ihn aus Mutters Fenster.
Sie schrie auf. Ich hielt mir die Ohren zu, um diesen schmerzhaften Laut von mir fernzuhalten. Sie versuchte, den Hut zu erwischen, wobei der Wagen ins Schleudern geriet und wir uns plötzlich auf der Gegenfahrbahn befanden. Ich lehnte mich zurück und genoss das Schaukeln des Wagens. Jean saß auf dem Rücksitz neben mir und weinte. Ich sehe noch genau die Büsche und Sträucher vor mir, die entlang der Schnellstraße gepflanzt waren. Wenn ich die Augen schließe, kann ich die warmen Sonnenstrahlen spüren, wie sie durchs Fenster fluten, die Auspuffgase riechen, und ich sehe den roten Sattelschlepper immer näher kommen.
Mutter versuchte, das Steuerrad herumzureißen, doch es war zu spät. Ich hörte das knirschende Krachen aufeinanderprallenden Metalls und spürte einen heftigen Stoß, als wir den Sattelschlepper streiften und plötzlich zum Stehen kamen. Glassplitter regneten auf mich herab, und ich rief: »Eis, Eis, Eis«. Angst verspürte ich überhaupt nicht, alles war viel zu aufregend.
Unser Auto war auf der Seite eingedrückt. Es grenzte an ein Wunder, dass ich uns nicht ins Jenseits befördert hatte. Darüber hinaus war es ein Wunder, dass ich das Wort »Eis« deutlich und prägnant hatte aussprechen können. Das Sprechen war für mich als autistisches Kind eines der größten Probleme. Ich verstand zwar alles, was man zu mir sagte, doch ich konnte nur bedingt darauf reagieren. Ich versuchte es, doch in der Regel brachte ich nichts Vernünftiges zustande. Der Vergleich mit dem Stottern drängt sich auf: Es wollten einfach keine Wörter über meine Lippen kommen. Und dennoch gab es Situationen, in denen ich Begriffe wie »Eis« deutlich aussprechen konnte. So etwas ereignete sich häufig dann, wenn ich, wie bei dem Autounfall, unter Stress stand und die Blockaden überwunden wurden, die mich in der Regel am Sprechen hinderten.
Dies ist wahrlich ein verwirrender und frustrierender Aspekt des kindlichen Autismus, der die Erwachsenen zur Verzweiflung treibt. Die Menschen um mich herum fragten sich, warum ich in bestimmten Situationen sprechen konnte und in anderen nicht. Hatte ich einfach keine Lust, oder war ich gar ein verzogener Fratz? Spekulationen wie diese machten mir das Leben dann noch schwerer.
Vielleicht sind mir die Szenen aus meiner Kindheit deshalb in so lebendiger Erinnerung geblieben, weil ich nicht in der Lage war, vernünftig mit anderen zu kommunizieren, und weil ich mich in meine innere Welt zurückgezogen hatte. Wie ein Film laufen die Erinnerungen auf der großen Leinwand meines inneren Auges vor mir ab.
Meine Mutter war erst neunzehn, als sie mich zur Welt brachte, und sie sagte mir später, dass ich anfangs ein normales, gesundes Neugeborenes mit großen blauen Augen, fülligem braunem Haar und einem Grübchen am Kinn gewesen sei. Ein ruhiges, braves kleines Mädchen namens Temple.
Wenn ich mich an die ersten Tage und Wochen meines Lebens erinnern könnte, wäre mir dann damals schon bewusst gewesen, dass ich mich auf dem Weg in einen Abgrund der Einsamkeit befand? Abgesondert von meinen Mitmenschen wegen meiner Überreaktionen oder der unzureichenden Empfindungen meiner fünf Sinne? Wäre ich in der Lage gewesen, die Entfremdung zu spüren, mit der ich mich aufgrund einer vor der Geburt erlittenen Hirnverletzung auseinandersetzen musste? Ein Gehirnschaden, der erkennbar wurde, als sich mein Gehirn auszubilden begann?
Ich war sechs Monate alt, als meine Mutter feststellen musste, dass ich mich nicht knuddeln lassen wollte und erstarrte, wenn sie mich herumtrug. Als sie mich in den Arm nehmen wollte, reagierte ich wie ein gefangenes Tier und kratzte sie. Meine Mutter erzählte mir später, dass sie nicht begriff, was in mir vorging, und sich aufgrund meiner ablehnenden Haltung verletzt fühlte. Sie hatte gesehen, wie andere Babys sich eng an ihre Mutter schmiegten und sich sichtlich zufrieden und aufgehoben fühlten. Sie zerbrach sich den Kopf darüber, was sie eigentlich falsch machte, schrieb es dann aber ihrer Jugend und Unerfahrenheit zu. Der Umgang mit einem - wie sich später herausstellte - autistischen Kind hatte etwas Beängstigendes für sie, da sie nicht wusste, wie sie mit einem Wesen zurechtkommen sollte, das ihr deutliche Ablehnung entgegenbrachte. Vielleicht war meine offenkundige Zurückweisung tatsächlich nichts Ungewöhnliches, dachte sie und achtete nicht weiter auf ihr ungutes Gefühl. Immerhin war ich ein gesundes Mädchen, wach und intelligent, das keinerlei Anzeichen von Koordinationsstörungen zeigte. Ich war das erste Kind, so dass meine Mutter auch den Eindruck gewann, meine Verweigerungshaltung könnte im Zuge meines Reifungsprozesses durchaus normal sein.
Zu dieser für autistische Kinder so charakteristischen Tendenz, Körperkontakt zu vermeiden, kamen in den folgenden Jahren weitere typische Verhaltensweisen eines Autisten hinzu: Fixierung auf sich drehende Gegenstände, der Wunsch, für sich zu bleiben, Zerstörungswut, Wutanfälle, Unfähigkeit zu sprechen, empfindliche Reaktionen auf plötzlich auftretende Geräusche, scheinbare Taubheit sowie großes Interesse an Gerüchen.
Ich war ein zerstörungswütiges Kind und bemalte mit Vorliebe die Wände, und zwar nicht nur gelegentlich, sondern jedes Mal, wenn ich einen Bleistift oder Buntstift in die Finger bekam. Ich erinnere mich daran, wie man mir gehörig die Leviten las, weil ich auf den Teppich gepinkelt hatte. Beim nächsten Mal klemmte ich mir einfach den langen Vorhang zwischen die Beine. Ich dachte, der Vorhang würde schnell wieder trocken sein, ohne dass Mutter etwas bemerkte. Normale Kinder nehmen Ton zum Modellieren, ich benutzte meine Ausscheidungen und verteilte meine Schöpfungen dann im gesamten Zimmer. Ich zerkaute Puzzlespiele und spuckte den Brei aus Pappe dann auf den Boden. Außerdem wurde ich sehr leicht wütend, und wenn etwas Mal nicht nach meinem Kopf ging, warf ich alles durch die Gegend, was mir gerade in die Finger geriet. Das konnten eine wertvolle Vase sein oder eben meine eigenen Ausscheidungen. Ich kreischte pausenlos und wurde bei starkem Lärm gewalttätig, während ich manches Mal überhaupt nichts zu hören schien.
Als ich drei Jahre alt war, ging meine Mutter mit mir zum Neurologen, um mich untersuchen zu lassen, da ich anders war als die gleichaltrigen Mädchen aus der Nachbarschaft. Ich war das älteste Kind der Familie, und keines meiner Geschwister verhielt sich so wie ich.
Das EEG und die Hörtests zeigten normale Ergebnisse. Man führte mit mir den sogenannten Rimland-Test durch, bei dem ein Ergebnis von zwanzig Punkten und mehr auf klassischen Autismus (Kanner-Syndrom) hindeutet. Ich erreichte nur neun Punkte (nur etwa zehn Prozent der als autistisch diagnostizierten Kinder entsprechen den sehr eng gefassten Definitionen des Kanner-Syndroms, da es stoffwechselbedingte Unterschiede zwischen dem Kanner-Syndrom und anderen Formen des Autismus gibt). Zwar waren meine Verhaltensmuster definitiv autistisch, doch die infantilen, aber nichtsdestoweniger sinnvollen Laute, die ich als Dreieinhalbjährige von mir gab, reduzierten meine Punktzahl auf der Rimland-Skala deutlich. Allerdings sorgt jede Form des Autismus sowohl bei Eltern als auch bei den betroffenen Kindern für Frustrationen. Nach der Untersuchung meinte der Arzt, dass bei mir keine physischen Schäden zu erkennen seien. Er schlug vor, mich in die Sprechtherapie zu schicken, um so meine Mängel im sprachlichen Ausdruck zu beseitigen.
Bis zu diesem Zeitpunkt war sprachliche Verständigung für mich eine Sackgasse gewesen. Ich verstand zwar, was gesagt wurde, konnte aber nicht antworten. Ich vermochte nur zu kreischen und in die Hände zu klatschen. Das war alles. Meine Logopädin hieß Mrs. Reynolds, und ich habe sehr angenehme Erinnerungen an sie, abgesehen davon, dass sie einen Zeigestock benutzte. Vor diesem Ding hatte ich Angst. Es war spitzig und sah böse aus. Zu Hause hatte man mir eingebleut, nie mit einem spitzen...