Einleitung: Erfolgsfaktor Perspektivenwechsel
»Ich sehe was, was du nicht siehst!« – Wer kennt das Spiel nicht, das Kinder gerne spielen, um die Langweile auf Autofahrten zu vertreiben oder lange Wartezeiten zu verkürzen. Als Erwachsener ist es immer besonders schön, zu beobachten, welche Gegenstände plötzlich grün oder quadratisch, hart oder weich sind … Mir wird dann wieder bewusst, wie sehr doch alles im Auge des Betrachters liegt. Oder anders gesagt: Es ist eine Frage der Perspektive. Vielleicht sieht der gemeinte Gegenstand für den einen quadratisch, für den anderen rechteckig aus. Und für einen Menschen mit Rot-Grün-Schwäche ist ein grüner Gegenstand eben grau. Es gibt offenbar verschiedene Parameter, die verhindern, dass Menschen ein einheitliches Bild von einer Sache haben.
»Ich sehe was, was du nicht siehst!« – Ich nutze das bekannte Spiel gerne als Metapher, wenn es um die Persönlichkeit von und die Interaktion zwischen Menschen geht. Wir alle treffen – mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Sicht- und Verhaltensweisen in unserem »Lebensrucksack« – auf andere Menschen und setzen erst einmal voraus, dass unsere Bedürfnisse, Verhaltens- und Sichtweisen die einzig logischen sind. Wir blicken aus unserer Perspektive heraus auf die Welt und können nicht verstehen, wie für den anderen ein Würfel plötzlich rechteckig sein kann. Wir tun lautstark unsere Meinung kund: »Das sehe ich aber anders!« Oder: »Wie kannst du nur!« Die Folge sind häufig Missverständnisse, Konflikte und Streitereien mit unseren Mitmenschen.
Aber warum ticken und verhalten sich die anderen oft so unverständlich anders, als wir es tun oder erwarten? Ich beschäftige mich mit diesem Thema, seit ich denken kann. Heute, nach vielen Jahren als Führungskraft und Personalentwicklerin, Trainerin und Coach habe ich eine Erklärung gefunden. Jeder Mensch hat eine individuelle Persönlichkeit; und was er wahrnimmt, ist sein ganz individueller Fingerabdruck seiner persönlichen Bedürfnisse, Sicht- und Verhaltensweisen.
Bedürfnisse, Sicht- und Verhaltensweisen bauen aufeinander auf, sie beeinflussen sich, ärgern einander, lieben sich – eine kausale Kette, die uns zu dem Menschen macht, der wir sind.
Eigentlich ganz leicht. Oder doch nicht? Irgendwann habe ich mich gefragt, was ich mit dieser Erkenntnis anfangen soll. Was bringt es mir, die drei essenziellen Aspekte der menschlichen Persönlichkeit zu kennen? Als langjährige Führungskraft in der Hotellerie bin ich letztendlich darauf gekommen: Wenn wir dieses Wissen in der Interaktion mit anderen nutzen, dann ist es maßgebend für unser menschliches Miteinander, für Motivation, gegenseitiges Verständnis und letztlich für die Ergebnisse, die wir erzielen. Diese Erkenntnis hat mich so fasziniert und beflügelt, dass ich gar nicht anders konnte, als weiter darüber zu lesen, zu forschen, nachzudenken, zu diskutieren und ein Prinzip daraus zu entwickeln – mit dem Ziel, meinen Kunden damit in Seminaren und Coachings zu 5-Sterne-Ergebnissen zu verhelfen: das 5-Sterne-Prinzip.
Abb. 1: Das 5-Sterne-Prinzip und seine Kausalität
Diese 5 Sterne stehen für die drei Aspekte der menschlichen Persönlichkeit, also für die Bedürfnisse, die Verhaltens- und die Sichtweisen, außerdem für das Gehirn als Übertragungsorgan und für die Ergebnisse unseres Handelns.
Bei meinem 5-Sterne-Prinzip geht es um die Kausalität dieser Sterne. Die grundlegenden Bedürfnisse im Kern der Persönlichkeit (erster Stern) stehen für unsere intrinsischen Antreiber, für die Motive, nach deren Erfüllung wir streben. Die jeweilige Ausprägung dieser Motive, die sogenannte Motivkonstellation, hat – neben anderen Faktoren wie Kultur, Erziehung, Erlebnisse und Erfahrungen – Einfluss auf die individuelle Sichtweise des Menschen (zweiter Stern). Unser Gehirn (dritter Stern) ist so etwas wie das »Übertragungsorgan«. Es übersetzt die Sichtweise in konkretes (bewusstes oder unbewusstes) Verhalten (vierter Stern). Wie Paul Watzlawick bemerkt hat, können wir »nicht nicht kommunizieren«, und genauso können wir uns auch nicht nicht verhalten. Schließlich führt alles, was wir tun oder auch nicht tun, zu einem Ergebnis (fünfter Stern).
Was müssen wir also tun, um dauerhaft erstklassige Ergebnisse zu erzielen, 5-Sterne-Ergebnisse, die mittel- und langfristig unsere Bedürfnisse befriedigen? Dies erfordert zum einen ein Verständnis dafür, dass unsere Bedürfnisse zusammen mit unseren Sichtweisen ein bestimmtes Verhalten auslösen, das wiederum zu bestimmten guten oder weniger guten Ergebnissen führt. Wollen wir also andere Ergebnisse, müssen wir unsere Sichtweisen und unser Verhalten erkennen, verstehen und entsprechend ändern.
Wenn wir immer das tun, was wir schon immer getan haben, dann bekommen wir auch immer die Ergebnisse, die wir schon immer bekommen haben.
»Ich sehe was, was du nicht siehst!« – Das Spiel aus Kindertagen spielen wir in unserer Erwachsenenwelt unbewusst weiter. Wann haben Sie das letzte Mal zu einem anderen Menschen gesagt: »Das sehe ich aber ganz anders«? Jeder sieht die Welt so einzigartig, wie er ist. Daran ist auch nichts verkehrt. Wir müssen nur lernen, uns für die anderen Sichtweisen zu öffnen, um Konflikte und Missverständnisse zu verhindern. Doch unsere Sichtweisen sind so tief in uns verankert, dass es nicht ganz einfach ist, sie zu verändern oder zu erneuern.
Beispiel: Bitte stellen Sie sich vor, Sie gehen, nichts Böses ahnend, die Straße entlang. Plötzlich kommt Ihnen ein Dobermann entgegen. Ein Dobermann, der nicht angeleint und dessen Besitzer weit und breit nicht zu sehen ist. Ein hüfthoher Dobermann mit spitzen Ohren und spitzen Zähnen.
Wenn Sie nun denken: »Der könnte gefährlich sein, ich bin mir nicht sicher«, wie werden Sie sich dann verhalten? Wahrscheinlich werden Sie versuchen, nicht auf den Hund zu reagieren, Sie werden natürlich nicht auf ihn zugehen oder in irgendeiner anderen Form direkten Kontakt mit ihm suchen. Sie werden eher vorsichtig sein, ihn nicht aus den Augen lassen. Das Ergebnis wird sein, dass Sie mit dem nötigen Sicherheitsabstand an dem Hund vorbeigehen und alles vermeiden, was die Situation außer Kontrolle bringen könnte.
Wir bleiben bei dem Szenario, ändern aber Sichtweise und Verhalten: Ein Dobermann kommt Ihnen entgegen, spitze Ohren und spitze Zähne. Er ist nicht angeleint und ohne Herrchen oder Frauchen unterwegs. In Ihrer Sichtweise ist tief verankert: »Dobermänner, das sind doch richtig tolle Tiere, Hunde mit Charakter, viel besser als diese kleinen Kläffer, die einem ohne Ankündigung in die Wade zwicken.«
Abb. 3: Dobermann – aus einer anderen Sicht
Wie wird nun Ihr Verhalten aussehen? Genau, Sie haben keine Angst, vielleicht kennen Sie sich mit Hunden aus und wissen, dass er erst Ihren Geruch aufnehmen muss. Vielleicht gehen Sie sogar auf ihn zu, bleiben bei ihm stehen, die Besitzer kommen um die Ecke gebogen, Sie unterhalten sich und finden Freunde fürs Leben. Ein völlig anderes Ergebnis.
Eine weitere Variante: Sie gehen die Straße entlang, Ihnen kommt ein Dobermann entgegen, spitze Ohren und spitze Zähne. Er ist nicht angeleint. Weit und breit niemand, dem der Hund gehört.
Ihre Sichtweise ist: »Achtung! Dobermänner gehören zu den Kampfhunden und die beißen Kindern unvermittelt in den Kopf.«
Abb. 4: Dobermann – noch eine andere Sicht
Wie wird Ihr Verhalten unter diesen Bedingungen aussehen? Richtig, Sie werden alles unternehmen, damit Sie dem Hund erst gar nicht näher begegnen. Ihr Instinkt sagt: »Flucht oder Angriff«, leider haben Sie Ihre Pumpgun heute nicht dabei. Also werden Sie die Straßenseite wechseln und schon mal nach Fluchtmöglichkeiten und Abwehrgegenständen suchen. Ihr Unterbewusstsein wird auf den nächsten Baum klettern. Sie werden alles Menschenmögliche unternehmen, um diese tierische Begegnung zu vermeiden. Warum? Weil Ihr Bedürfnis nach Risikovermeidung laut schreit und auf Ihrer Sichtweisen-»Fensterscheibe« die schlimmsten vorstellbaren Situationen mit Hunden eingraviert sind. Sie sind vielleicht schon einmal gebissen worden, oder Sie kennen jemanden, der schon einmal gebissen worden ist, oder Sie haben eine Reportage gesehen, wo jemand von genau so einem Dobermann gebissen wurde.
Unsere Paradigmen bzw. Sichtweisen gehen sehr tief und sind besonders beständig. Insofern sind sie mit einer Brille vergleichbar, die wir, für andere unsichtbar, permanent auf der Nase tragen. Durch diese Brille schauen wir auf die Welt – aus unserer Perspektive, die wir meistens für die einzig wahre halten. In vielen Fällen des Lebens helfen uns unsere Sichtweisen weiter, denn sie geben uns Orientierung und unterstützen uns dabei, die unterschiedlichsten Situationen zu meistern. Doch was, wenn eine Sichtweise nicht »korrekt« erscheint, nicht nachvollziehbar, nicht vollständig oder schlicht inadäquat ist? Dann erzielen wir Ergebnisse, die wir nicht wollen. Manchmal reicht es vielleicht aus, sich anders zu verhalten und damit zu den gewünschten Ergebnissen zu kommen. Doch langfristig kann nur eine andere Sichtweise das Verhalten dauerhaft verändern und zu den gewünschten Ergebnissen führen.
Diese Theorie gilt nicht nur für die menschliche Persönlichkeit, sondern lässt sich auch hervorragend auf Unternehmen übertragen. Jedes...