Mein Weg
zur Kontemplation
Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Das ist des Menschen Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.
Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
Dich zu suchen,
und lass sie damit enden, Dich gefunden zu haben.
Nelly Sachs zugeschrieben
In jedem Menschen ist eine Sehnsucht, die auf diese Dimension hinweist. Johannes vom Kreuz nennt sie »das Erwachen Gottes im Menschen«. Das bedeutet: Wir machen uns nicht auf den Weg, weil wir es wollen, sondern weil uns die Sehnsucht zieht. »Alles beginnt mit der Sehnsucht«, heißt es im Gedicht. Oft haben wir das Gefühl: Ich suche, aber im Grunde stimmt das nicht. Da ist kein Ich, das etwas sucht, sondern eine Sehnsucht, die sich zeigt. Wir können uns ihr hingeben und beobachten, wo sie uns hinführt – weit über das hinaus, was die Welt uns verspricht. Um den Weg vom Suchen zum Finden zu gehen, folgte ich schon früh der Sehnsucht, ohne zu wissen, wohin sie mich führen sollte.
Das Weiterziehen soll im Folgenden nicht als Wegziehen verstanden werden. Jede Veränderung erfordert ein Durchschreiten einer Krise mit dem Durchleben aller Gefühle, großer Trauer und schwerem Abschiednehmen. Ich empfand diese Krisen stets als Wendepunkt voller Schmerz, unabhängig ob sie durch mich oder andere herbeigeführt waren. Ohne Krisen kann man nicht wachsen, und dies kann nur mit der Einsicht eigener Fehlverhalten einhergehen. Dann wird aus dem Weiterziehen ein befreites Sich-neu-Finden. Es wurde nicht gesucht!
Wie sich mir das Göttliche zeigte
Erste spirituelle Erfahrungen
Meine ersten Erinnerungen an eine göttliche Präsenz stammen aus meiner frühen Kindheit. Meine Heimat ist der deutschsprachige Teil Belgiens, wo ich 1960 als Sohn einer Bauernfamilie zur Welt kam. Dieser Teil Belgiens gehörte bis 1918 zu Deutschland und ging als Reparationszahlung mit Ende des Ersten Weltkriegs an Belgien. Die Gegend ist sehr ländlich geprägt und dünn besiedelt. Größere Städte waren damals nicht ohne Anstrengungen zu erreichen, wirtschaftlich und politisch bedeutungslos. Ich bin also von eher unzugänglichen Menschen und der Nähe zur Natur geprägt. Es ereignete sich nicht wirklich etwas, es gab weder außergewöhnliche gesellschaftliche Ereignisse, noch kriminelle Vorfälle. Angst vor körperlicher Gewalt oder Übergriffen brauchten wir nicht zu haben. Auch war es nichts Besonderes, dass die Eltern ihre Kinder tagsüber allein durch die Natur streifen ließen. Nach der Schule wurden Hausaufgaben gemacht, und danach gingen wir nach draußen. Ich mochte die stundenlangen Aufenthalte mit unserem Hofhund im Wald. Er war mein Begleiter und in gewisser Weise auch mein Bewacher.
Die Natur ist ein sehr wichtiger Aspekt in meinem Leben. Gerade im Hinblick auf meine Spiritualität spielte und spielt sie eine zentrale Rolle. Für mich war und ist die Natur ein heiliger Raum, ein Raum, in dem ich eine numinose Präsenz spürbar wahrnehmen konnte und wo ich mir selbst sehr nahe sein kann.
Eine bestimmte Erfahrung in der Kindheit hatte meinen zukünftigen Weg und die Sichtweise auf das Leben nachhaltig geprägt, ohne dass ich mir dessen wirklich bewusst war. Erst viel später in der intensiven Praxis der Kontemplation wurde es mir klar. Ich war noch ein Kind, schätzungsweise fünf Jahre alt, und lag wie so oft in der Nacht wach in meinem Bett und blickte in den beleuchteten Gang im Obergeschoss unseres Hauses. Plötzlich veränderte sich meine Wahrnehmung. Soweit ich mich erinnern kann, hatte dieser Augenblick eine andere Intensität und Klarheit, und ich »hörte« die Worte in mir: »So ist das Leben.« Es war völlig unspektakulär oder erschreckend. Es war einfach das, was es ist, auch wenn ich nicht begriff – bis heute nicht –, was es war. Eine bestimmte Qualität dieser Erfahrung ist die bedingungslose Bejahung des Lebens; meine Antwort darauf ist ein bedingungsloses Vertrauen in die ständigen, unberechenbaren Veränderungen in das, was wir Leben (für mich ein Synonym für das Göttliche) nennen. Ich werde es nicht begreifen können, geschweige denn in den Griff bekommen. Ich kann mich in jedem Augenblick diesem Geschehen anvertrauen. Es scheint mir eine zentrale Haltung der kontemplativen Übung schlechthin, die Übung der Hingabe und der radikalen Akzeptanz dessen, was jetzt ist, ohne an der Vergangenheit zu kleben oder hängen zu bleiben oder mich in meinen Erwartungen und Befürchtungen an die Zukunft wegtragen zu lassen oder mich in meinen Ängsten zu verlieren.
Im Folgenden möchte ich eine andere Erfahrung schildern, die ich als siebenjähriger Junge machen durfte und die über lange Zeit meine kindliche Frömmigkeit prägte und mir das Bewusstsein einer göttlichen Wirklichkeit gab.
Meine Mutter bat mich, zusammen mit meinem Cousin Futter für unsere Kaninchen zu suchen. Am liebsten fraßen sie Löwenzahn, und an der Hecke, wo es immer etwas schattig und feucht war, wuchs er besonders gut. Meine Mutter schärfte mir ein, gut auf das Messer aufzupassen, mit dem wir den Löwenzahn ausstechen sollten: »Es ist mein bestes Messer«, sagte sie.
Bei der Löwenzahnsuche haben wir gespielt und herumgealbert – und natürlich ging das Messer verloren. Ich war aufgeregt, hatte ich doch versprochen, darauf aufzupassen. Wir suchten das Gras Zentimeter für Zentimeter ab, aber das Messer blieb unauffindbar. Irgendwann sagte mein Cousin: »Komm, lass uns beten!« Was dann geschah, war für mich überwältigend. Mehr schlecht als recht sprachen wir gemeinsam das Vater unser. Und während wir beteten, sah ich zwei Hände in ein strahlendes Licht gehüllt unter der Hecke hervorschauen, und zwischen den Händen befand sich das Messer. Gleichzeitig riefen wir: »Da ist doch das Messer!« Ich fragte mein Cousin, ob er die Hände auch gesehen hätte, was er allerdings verneinte. Ich lief auf die andere Seite der Hecke, um nachzusehen, ob dort jemand stehen würde, der uns einen Streich spielen wollte und uns das Messer zurückgegeben hatte. Ich war derart beeindruckt, dass ich mit klopfendem Herzen zu meiner Mutter nach Hause lief und ihr von diesem Erlebnis erzählte. Meine immer beschäftigte Mutter lächelte nachsichtig und meinte, dass dies wohl meiner blühenden kindlichen Fantasie entsprungen wäre. Zugleich merkte ich aber, wie nachdenklich sie wurde und dass sie meinen Bericht nicht einfach weggeschoben hatte. Durch diese Erfahrung kam ich zu dem Schluss: Ja, es gibt so etwas, was wir Gott nennen dürfen und was ganz konkret in das Leben eines Menschen eingreifen kann. Im Lauf der Zeit ist mir diese Begebenheit aber in Vergessenheit geraten.
Meine Kindheit war recht unbelastet und verlief im Großen und Ganzen glücklich. Ich bewegte mich damals wie in einem eigenen Raum, ohne dies so benennen zu können und zu wollen. Ich stellte mir noch keine Fragen. Erst viel später jedoch, im Laufe meines Theologiestudiums, versuchte ich herauszufinden, was sich hinter dem Phänomen solcher »Erscheinungen« verbarg und dass ich es vielleicht sogar mit vielen andern Kindern teilte. Es interessierte mich herauszufinden, wie diese Phänomene zu verstehen sind und ob es eine natürliche wissenschaftliche Erklärung dafür gibt. Tatsächlich fand ich derartige Erklärungen, aber sie berühren nicht wirklich das Eigentliche dieser Erfahrungen.
Es wurde mir immer klarer, dass es eine Tatsache ist, dass es hinter der vordergründigen Welt noch eine andere gibt, die ich spürte, wahrnahm, sah, die für mich eine ebensolche Realität war wie die, in der ich lebte. Beide Welten gehören untrennbar zusammen, auch wenn ich sie unterschiedlich wahrnahm.
Meine Mutter verfügte über heilenden Kräfte und hatte eine große Affinität zu dieser spirituellen Welt, sie war mir also sehr vertraut und begleitete mich von Kindesbeinen an.
Meine Mutter hielt sich auch viel in der Natur auf und war sehr mit ihr verbunden. Sie bediente sich ihrer, um Familie und Tiere gleichermaßen mit den gesammelten Kräutern in Form von Tees, Salben oder Tinkturen zu behandeln. Sie hatte ein Gespür für heilende Energien. Die meisten meiner Geschwister haben vielleicht deshalb einen heilenden Beruf ergriffen und sind im medizinischen Bereich tätig.
Nach dem Primar- und Mittelschulabschluss und der Tatsache, dass meine Geschwister sich alle schon in ihrer Berufswahl festgelegt hatten, war für meine Eltern unausgesprochen klar, dass ich den Hof übernehmen würde. Doch der Direktor der Mittelschule besuchte meine Eltern und empfahl ihnen, mich auf das Gymnasium zu schicken. Durch diese Entscheidung wurde mein weiterer Weg vorgezeichnet. Nach dem Abitur wandte ich mich zunächst dem Studium der Biologie an der Universität Lüttich zu. Die Natur und das Leben waren das, was mich am meisten interessierte und faszinierte.
Als ich die Stille hörte
Als Kind besaß ich eine unbändige Vitalität. Ich liebte die Bewegung, spielte Fußball und hatte einen ausgeprägten Willen, zuweilen eine Sturheit, die ich durchaus auch erfolgreich einsetzen konnte. Das war bis zum Besuch der Mittelschule noch so. Erst als ich auf das Gymnasium ging, nahm ich eine andere Seite an mir deutlich wahr. Ich wurde nachdenklicher, zurückhaltender, und etwas trieb mich dazu, mehr Zeit allein mit mir und meinen Gedanken und vor allem mit meinen Fragen zu verbringen.
Das nächste Erlebnis, von dem ich berichten...