Die Gelassenheit meiner Eltern war natürlich Schwankungen ausgesetzt. Es gab Tage, an denen ich sie extrem genervt habe, denn ich hatte ständig neue Ideen. Zum Beispiel sonntagmorgens konsequent ein Hotelfrühstück zu servieren. Das klingt zunächst super. Hat aber einen gewaltigen Haken.
In einem unserer seltenen Urlaube waren wir mal in einer hübschen Pension gewesen und da wurde morgens ein großartiges Frühstück serviert. Ich fand das grandios: die schön angeordneten Wurst- und Käsevariationen, verschiedene Säfte und diverse Brotsorten … ein Fest fürs Auge! Dass zudem ein aufmerksamer, ausgesucht netter Ton beim Frühstück herrschte, gefiel mir in der Kombination ganz besonders. Also beschloss ich, auch daheim so ein Frühstück einzuführen. Schön angerichtet und mit allem Drum und Dran. Sonntagmorgens.
Vielleicht sagst du jetzt: Super, ein zehnjähriges Kind, das seinen Eltern Frühstück macht, das ist doch der Hammer! Allerdings bin ich immer ein gnadenloser Frühaufsteher gewesen. So stand ich also sonntags um sechs bestens gelaunt vor dem Bett meiner noch tief schlafenden Eltern und textete sie restlos voll: „So, meine lieben Gäste, es ist Frühstückszeit. Wenn ich Ihnen vielleicht heute Morgen unser Büfett präsentieren darf …“ Wenn meine Eltern jetzt nicht sofort aufstanden und das Spiel begeistert mitmachten, wurde ich extrem stinkig. Mir war nicht im Mindesten klar, dass sie einfach nur hundemüde waren, da sie die ganze Woche hart gearbeitet hatten, und sich natürlich gefreut hätten, wenigstens einmal in der Woche ausschlafen zu können … Manchmal konnten sie dann nicht so recht meiner Begeisterung folgen und reagierten etwas genervt.
Und noch ein Feld gab es, wo es mit der Gelassenheit haperte. Mein Vater war Drehermeister und hatte es im zweiten Bildungsweg zum Maschinenbauingenieur gebracht. Für ihn bestand die Welt aus höherer Mathematik und vielen Maschinen. Und für mich eindeutig nicht. Er konnte bei einer Funktion 3. Ordnung erkennen, dass der Graph im 4. Quadranten gegen minus 2 gehen müsste – ohne zu rechnen! Wenn ich dann fragte: Wieso? Dann sagte er: Das sieht man doch! Ich sah da nichts. Das gab mitunter richtig Zoff, weil er mit großer Leidenschaft versuchte, mich zu einer mathematischen Koryphäe zu formen, die ich nie werden sollte. Ich fand es einfach nur grausam, mit ihm Mathe lernen zu müssen. Das ging über viele quälende Jahre so.
Urlaub mit den Eltern 1972, Costa Brava
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Ich glaube, das Problem haben viele Eltern: Sie denken, dass ihre Söhne und Töchter ungeahnte Talente in Mathe, Geschichte, Sprachen oder sonst was entwickeln müssen, und doch gehen Kinder ganz eigene Wege.
Mein Vater wäre wahrscheinlich vor Freude geplatzt, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich Maschinenbau studieren will. Stattdessen sagte ich ihm, dass meine Zukunftspläne in Richtung Sängerin, Tänzerin, Schauspielerin oder Journalistin gehen würden. Da hat er fast einen Anfall bekommen. Akute Luftnot. In meiner Aufzählung war aber auch restlos alles dabei, was für ihn definitiv ein rotes Tuch darstellte. Ich kann mich noch gut an unsere endlosen Diskussionen erinnern.
Mit 14 hatte ich mich bereits endgültig für den Journalismus entschieden und schon mit dem Schreiben für unsere Heimatzeitung angefangen. Am Ende hat mein Vater das getan, was er immer getan hat: Er hat mich machen lassen. Ein kluger Mann erkennt eben, wenn Widerstand gegen Frauen zwecklos ist.
Meine Mutter war sehr warmherzig, aber auch äußerst pragmatisch. Der Krieg und viele familiäre Verluste hatten sie gelehrt, sich nicht lange mit der Frage nach dem tieferen Sinn dahinter aufzuhalten. Das Leben ging weiter. Und so lange es weiterging, gab es Chancen, die man ergreifen musste. Sie war zudem extrem bedürfnislos. Ich habe eigentlich niemals erlebt, dass sie besondere Wünsche gehabt hätte. Sie war immer mit dem zufrieden, was sie hatte. Deswegen war es auch schwer, sie zu beschenken. Das meiste brauchte sie nicht. Und das sagte sie leider auch häufig, wenn sie ein Geschenk öffnete. Eine Frau ohne materielle Bedürfnisse, aber eine Frau, die gerne lachte, arbeitete und sich aus dem Nichts eine Freude machen konnte.
Und dann gab es noch ein drittes Familienmitglied, das mich bis in die Knochen geprägt hat: meine wunderbare Tante Grete. Sie war die erste Margarethe Schreinemakers in unserer Familie. Ich bin die zweite. Eigentlich sollte ich ja Rita heißen, nach Rita Hayworth, der Lieblingsschauspielerin meiner Mutter. Gott sei Dank ist dieser Name an mir vorbeigegangen. Nach meiner Geburt hat mein Vater mich dann doch mit leicht vernebeltem Kopf kurzerhand nach seiner Lieblingsschwester benannt. Der Grund: Bevor er zum Standesamt ging, hatte er mit meinem Patenonkel Walter, dem jüngsten Bruder meiner Mutter, noch ordentlich einen auf die Geburt seines Töchterchens gehoben. Auf dem Amt angekommen, war ihm der Wunschname seiner Gattin dann komplett entfallen. Totaler Black-out. So wurde aus Rita – Gott sei Dank – eine Margarethe. Und aus der Lieblingsschwester meines Vater somit auch meine Namensschwester und Patentante.
Grete, wie sie immer von allen genannt wurde, wohnte mit ihrem Mann nur 50 Meter weiter auf der anderen Straßenseite. Beide Familien hatten zur selben Zeit ihre Häuser gebaut und ich bin als Kind immer hin und her geflitzt. Es heißt ja oft, man könne sich nicht genau an seine Zeit als Kleinkind erinnern. Aber ich habe viele Erinnerungen an diese Zeit – und ganz besonders an das dritte und letzte Kind meiner Tante. Das war meine Cousine Christel.
Links: Josefine Schreinemakers mit meinem Onkel Jakob Baumeister. Rechts: Tante Grete (meine Patentante) mit meinem Vater Matthias Schreinemakers.
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Vor Christel hatte meine Tante schon zwei kleine Jungen bekommen. Tante Gretes erster Sohn war am plötzlichen Kindstod gestorben, den kannte ich nur von einem einzigen Foto. Ein Baby, aufgebahrt im Sarg, mit halb offenen Augen. Meine Tante sagte mir beim Betrachten dieses Bildes immer, dass die kleinen Augen sich durch den Lichteinfall in der Kapelle, in welcher der winzige Leichnam offen aufgebahrt worden war, plötzlich wieder ein bisschen geöffnet hätten. Der gebrochene Blick eines toten Säuglings. Es war das einzige Foto von ihm. Es hing immer an der Wand neben ihrem Sofa.
Gretes zweiter Sohn starb mit vier Jahren. Damals herrschte Krieg und er hatte Diphtherie. Es gab keine Medikamente und die Widerstandskräfte waren nicht sehr hoch. Meine arme Grete musste hilflos zusehen, wie ihr kleiner Junge an der Krankheit jämmerlich zugrunde ging. Unvorstellbar grausam. Du weißt, dass es Medikamente gibt, die dein Kind wahrscheinlich retten könnten. Aber es ist Krieg und du kommst an das Zeug einfach nicht ran. Du kannst nichts tun, außer zuzusehen, wie das Fieber und der endlose heisere Husten deinen kleinen Jungen fertigmachen. Wie seine Kehle so sehr zuschwillt, dass er panisch nach Luft schnappen muss. Du hörst das hohe Pfeifen, das jeden Atemzug begleitet. Du spürst, wie der kleine Körper Tag für Tag immer mehr vergiftet und schwächer wird – bis er es endlich, endlich hinter sich hat. Das Leben kann so brutal sein und es war brutal zu meiner Tante.
Tante Grete mit Tochter Christel, 1946
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Noch während des Krieges ist Grete ein drittes Mal schwanger geworden. Mein Onkel Jakob hatte gerade Heimaturlaub gehabt. Seine Tochter Christel wurde im Luftschutzbunker während eines Bombenangriffs geboren. Sie wog nur zwei Kilo, war aber gesund.
Ich erinnere mich an Christel als eine junge, pubertierende Dame, die ganz zauberhaft mit mir umging. Dauernd kutschierte sie mich im Kinderwagen herum. Einmal versteckte sie heimlich ein Paar Schuhe im Netz meines Kinderwagens. Damals hatte man einfache Kleidung für den Alltag und die gute wurde ausschließlich für die Sonntage aufbewahrt. Kaum waren Christel und ich um die Ecke gebogen, zog sie heimlich die Schuhe mit den schicken Pfennigabsätzen an. „Psssst, nix der Mama verraten!“, flüsterte sie mir eindringlich zu und dann stöckelte sie mit mir im Kinderwagen ganz stolz durch die Gegend. Ich glaube, sie fühlte sich ungeheuer erwachsen in diesem Moment, und ich war Teil ihres Mutter-Kind-Spieles. Natürlich habe ich das sofort meiner Mutter erzählt. Nicht weil ich eine böse Petze war, sondern weil ich noch viel zu klein war, um Geheimnisse zu kapieren. Ich habe also direkt losgeplappert: „Die Christel hat Schuhe angezogen mit so was drauf.“ Gemeint waren die Schleifchen, die ihre Damenpumps zierten, aber das Wort war mir noch nicht geläufig. Da wusste natürlich jeder, dass meine Cousine ihre Sonntagsschuhe verbotenerweise unter der Woche angezogen hatte. Das gab dann ordentlich Stunk. So war das eben damals.
Ich erinnere mich auch noch daran, wie Christel plötzlich eine Wunde am Fußgelenk hatte, die nicht heilen wollte, obwohl ständig ein Pflaster drauf war. In einer anderen Momentaufnahme sehe ich sie im Haus meiner Tante sehr krank auf ihrer Schlafcouch liegen. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich nicht mehr drüben bei meiner Cousine sein konnte. Sie kam ins Krankenhaus. Und dann kam der Tag, an dem ich zusammen mit Tante Grete zum Krankenhaus ging, um meine Christel zu besuchen.
Auf dem Krankenhausflur kam plötzlich ein großer schwarzer Vogel auf uns zugeweht. Ich dachte, es wäre ein Pinguin in wallenden Gewändern, aber es war eine Nonne. Ihr Gesichtsausdruck war kalt und streng. Ich hatte Angst und umklammerte fest die Hand meiner Tante. Der schwarze Vogel...