KAPITEL 1
: Metanoia
Das geschärfte Eisen
Es gibt viele wunderbare Arbeitsgänge im Geigenbau. Sie alle wahren ihr eigenes Geheimnis. Eine dieser Arbeiten möchte ich beschreiben, denn sie hat mir eine Wahrheit der Seele nähergebracht.
Vor vielen Jahren, an einem kalten Wintertag, stach ich aus einem tief geflammten bosnischen Ahornholz die Bodenwölbung für ein neu entstehendes Cello heraus. Das Abstecheisen hatte ich mir vor Jahren im Stubaital schmieden lassen. Den langen Holzgriff hat ein alter Meister gedrechselt. Diese Griffe mit ihrem kugelförmigen Ende haben eine lange Tradition. Die Kugel berührt die Bauchmuskulatur; so führt man das Eisen mit den Händen, aber der Bauch gibt dem Werkzeug die nötige Kraft und schiebt es mit jedem Stich durch das harte Holz. Das Ausstechen und Abstechen eines Cellobodens ist mit der bloßen Muskelkraft der Arme kaum zu bewältigen. Sie würden zu schnell ermüden.
An diesem Tag war es anstrengender als sonst. Ich hatte wohl drei Stunden gearbeitet. Der Schweiß lief mir von der Stirn und ich dachte: „Es ist diesmal ein ganz besonders hartes Holz. So anstrengend war es selten!“ Aber dann kam mir ein zweiter Gedanke: „Vielleicht liegt es gar nicht am Holz. Die Schneide wird nicht mehr ganz scharf sein.“
Ein Eisen zu schärfen, ist eine eigene Kunst. Es erfordert Sorgfalt und Geduld. Zuerst wird mit der Sichtschleifmaschine die Fase grob angeschliffen. Das ist die Kante der Schneide. Dann kommen der Abziehstein und das fließende Wasser ins Spiel. Man spürt am Widerstand und am Geräusch, ob man die Schneide richtig gepackt hat. So wird der Schleifgrat entfernt und beide Seiten bekommen einen feinen Schliff.
Ich prüfte die Schneide und merkte, dass sie stumpfer war, als ich gedacht hatte. Dennoch machte ich weiter. Es wäre richtig gewesen, das Eisen zu schärfen, aber ich wollte die Arbeit nicht unterbrechen. Es dauert lange, ein Eisen gut zu schärfen, und diese Unterbrechung stört den Arbeitsfluss. So redete ich mir ein: „Es reicht schon noch.“
Dieser Moment war wie ein innerer Blitzeinschlag. Es war, als würde Gott mir unmittelbar ins Herz sprechen, und die einfache Frage stellen: „Was hast du da gerade gesagt?“
Ich war erschrocken und wiederholte halblaut den Satz: „Es reicht schon noch.“
Was ich dann spürte, war eine unermessliche Traurigkeit – als würde der ganze Himmel sagen: „Wie oft höre ich diesen Satz von euch! Ich möchte euch schärfen, aber ihr sagt: ‚Es reicht schon noch!‘“
Das alles war mehr als nur ein inneres Hören. Es war, als ob Gott mich auf eine erschütternde Weise etwas von seinem Innersten spüren ließ. Die Botschaft schien direkt aus seinem Herzen zu kommen. Der Satz Es reicht schon noch ist ein Herzensgedanke des Menschen. Wir spüren unsere Abgestumpftheit, aber anstatt uns schärfen zu lassen, sprechen wir uns diesen fatalen Satz ins Herz.
In den Tagen danach las ich intensiv in der Heiligen Schrift und war erstaunt festzustellen, dass Jahrtausende zuvor jemand offenbar das Gleiche erlebt haben musste – den gleichen prophetischen Moment. Denn ich entdeckte, dass im Buch Kohelet1 ganz ähnliche Worte geschrieben stehen. Im zehnten Kapitel sagt dieses nüchterne alttestamentliche Weisheitsbuch: „Wenn ein Eisen stumpf wird und an der Schneide ungeschliffen bleibt, muss man mit ganzer Kraft arbeiten. Aber die Weisheit bringt die Dinge in Ordnung.“2
Der Epheserbrief des Neuen Testamentes sagt etwas Ähnliches: Da heißt es von Menschen, sie haben sich ihrem Leben entfremdet und sind durch den verwahrlosten Zustand ihres Herzens „abgestumpft“3.
Ich habe, als dies damals geschah und all die Jahre danach, viel darüber nachgedacht. Es war wie ein sonderbares Anteilnehmen an einem Schmerz Gottes. Aus ihm heraus entstand das folgende Gleichnis vom geschärften Eisen.
Wenn ich sage, dass Gott in jenem Augenblick zu mir „gesprochen“ habe, möchte ich einem möglichen Missverständnis entgegenwirken. Dass es uns möglich ist, die Stimme Gottes zu hören, ist kein exklusives Recht einzelner Menschen, sondern es ist eine jedem Menschen innewohnende Fähigkeit des Herzens, die wir entdecken und zulassen können und die durch Übung und Liebe in uns reifen kann. Was Gott sagt, entspricht der Liebe, deshalb wird nur das liebende Herz die Wahrhaftigkeit haben, etwas von der Wahrheit Gottes zu vernehmen. Darum wäre es gewiss sinnvoll, nicht nur vom „Priestertum aller Getauften“, sondern ebenso vom „Prophetentum aller Liebenden“ zu sprechen. Es ist, wie eine mütterliche Freundin mir einmal sagte: „Wenn du in der Liebe bist, wird alles zu dir sprechen.“
: DAS STUMPFE HERZ
Wenn ich dieses Erlebnis aus der Werkstatt mit den Augen des Herzens sehe, werden mir mehrere Dinge des inneren Lebens deutlich. Das eine: Es kostet ungeheure Kraft und ermüdet unsere Seele, wenn wir mit einem abgestumpften Herzen leben – einem Herzen, das durch Enttäuschungen, Resignation, Bitterkeit oder Sorgen stumpf geworden ist. Wir sagen dann: „Die Beziehungen, die Arbeit, die Pflichten – es ist alles so schwer und anstrengend geworden!“ In Wahrheit ist das Herz stumpf geworden – wie das Buch Kohelet sagt: „Wenn ein Eisen stumpf wird und an der Schneide ungeschliffen bleibt, muss man mit ganzer Kraft arbeiten.“ Die Anstrengung kommt aus der Verwahrlosung des Herzens, sie kommt aus der Stumpfheit des Werkzeugs, mit dem wir diese Welt berühren.
Aber es geschieht noch etwas Zweites, etwas Tragisches, wenn man mit einem stumpfen Werkzeug arbeitet: Man verliert das Gefühl für das Holz. Jedes Holz hat seinen eigenen Faserverlauf, seine Markstrahlen, seinen Drehwuchs, seine Abhölzigkeiten, seine Eigenheiten und Möglichkeiten, seine Verheißungen und Besonderheiten.
Die Markstrahlen sind die radial zwischen der Markröhre des Stammes und dem lebendigen Kambium verlaufenden Zellen. Man nennt sie auch den „Spiegel“. Sie geben der Geigenwölbung in Querrichtung ihre Festigkeit und verleihen der Faser unter der Lackierung eine leuchtende Schönheit. Unter Abhölzigkeit versteht man einen ungünstig verdrehten Faserverlauf.
Auf all dies einzugehen, ist die eigentliche Kunst des Geigenbaus. Mit einem stumpfen Eisen verliere ich mehr und mehr das Gefühl für das Holz. Es entsteht dann keine stimmige Wölbung, nichts, was dem Holz entspricht. Solch ein Instrument wird am Ende nicht klingen. Nur mit einem scharfen Werkzeug beginnt das Holz schon während der Arbeit, sich mir mit jedem Stich in seinen Eigenschaften zu erkennen zu geben. Es entsteht – je nach Faserverlauf – ein zischender oder rauer Ton. Diesen muss ich hören und entsprechend in der Ausarbeitung und der Wölbung beherzigen. Das Holz hat sein Mitspracherecht, doch nur mit einem scharfen Werkzeug kann ich es hören.
Auch diese Erfahrung gleicht einem inneren Gesetz des Lebens. Mit einem stumpfen Herzen verlieren wir das Gefühl für das, was mit uns und um uns geschieht. Unser Herz ist ein Empfangsorgan, mit dem wir deuten, was uns gesagt werden soll, und gestalten, was durch uns geschehen soll. Mit einem stumpfen Herzen empfangen wir nichts. So, wie ein Geigenbauer mit einem stumpfen Werkzeug das Gefühl für das Holz verliert, verlieren wir das Gefühl dafür, ob das, was wir tun, eigentlich stimmig ist. Wir vernachlässigen die Dinge, denen wir uns zuwenden sollen, und übertreiben, was wir in Ruhe lassen sollen. Vor allem aber verlieren wir das Gefühl für die Verheißung des Augenblicks, sind nicht geistesgegenwärtig, nicht präsent, und so arbeiten wir, ohne es zu merken, gegen die Fasern des Lebens an. Solch ein Leben kann nicht klingen.
Es ist nicht zu vermeiden, dass wir die Härten dieser Welt zu spüren bekommen und daran stumpf werden. Wir stoßen uns an Misserfolgen und Enttäuschungen. Wir erleben, dass Menschen und Umstände uns verletzen. An manchen Widrigkeiten und Problemen arbeiten wir uns auf. Durch manche Erfahrungen zieht sich eigene und fremde Schuld. Unsere Arbeit, unsere Aufgaben, unsere Beziehungen – vieles, was uns sonst Freude macht, wird auf einmal zur Mühe und Last. Denn die vielen kleinen Enttäuschungen haben uns stumpf gemacht.
Abgestumpft zu sein, bedeutet: die Seelenkraft ist verletzt, die Hoffnung getrübt, die Berufung entfremdet, das innere Leben seiner Freude beraubt. Wie das Eisen, das sich am Holz aufarbeitet und dadurch immer stumpfer wird, so arbeiten wir uns auf und stumpfen ab. Wir machen angestrengt weiter, aber wir spüren immer weniger Erfüllung und immer mehr Erschöpfung. Und doch muss man sagen: Wenn wir nicht stumpf werden, haben wir auch nicht gearbeitet. Wenn Sünde uns nicht berührt, haben wir auch nicht gelebt.
Noch ein Drittes wird an diesem Gleichnis deutlich: Es ist nicht die Schuld des Eisens, dass es stumpf wird. Das ist nicht zu vermeiden; es liegt in der Natur der Sache. Mit jedem Stich spürt auch das schärfste Eisen das harte Ahornholz. Mit uns ist es nicht anders: Es liegt im Wesen des Menschen, sich gegenseitig zu verletzen. Wir spüren, was die Lebenswelt uns zumutet, und die Enttäuschungen hinterlassen ihre Spuren. Das Buch Kohelet sagt dazu: „Wer Steine bricht, der kann sich dabei wehtun; und wer Holz spaltet, der kann dabei verletzt werden.“4 Was damit ganz lapidar gesagt wird: Das Leben mutet sich uns zu und diese Zumutung verändert unser Herz.
Nur ein unbenutztes Werkzeug bleibt scharf. Es ist sich zu fein, an dieser Welt stumpf zu werden. Aber unsere Stumpfheit zeigt doch: Wir haben die Härte unserer Berufung erlebt.
Es...