2 Wie Sie betroffen sein können
Verstrickungen werden im Rausch von Hoffnung und Enttäuschung geboren.
Können Sie in drei oder auch fünf Sätzen beschreiben, was Sucht ist? Natürlich nicht, denn Sucht ist eine komplexe und komplizierte Angelegenheit. Das Gleiche trifft auch auf die Angehörigenproblematik der Sucht zu. Co-Abhängigkeit ist nicht gleich Co-Abhängigkeit. Verschiedene Personengruppen können betroffen sein, und das Ausmaß kann von bloßer Betroffenheit über problematische Belastungen und Verstrickungen bis hin zu unterschiedlichen psychischen Erkrankungen variieren. In diesem Kapitel möchte ich Sie über die vielfältigen Erscheinungsformen der Mit-Betroffenheit von Angehörigen informieren. Durch Fallgeschichten werden Ihnen die Inhalte illustriert.
Eine eher abstrakte und wissenschaftliche Definition möchte ich Ihnen vorweg zumuten: Co-Abhängigkeit ist ein vielschichtiges individuelles, soziales, institutionelles und gesellschaftliches Phänomen. Sucht und Co-Abhängigkeit können als zwei Seiten ein und derselben Medaille der Abhängigkeit angesehen werden. Sucht und Co-Abhängigkeit sind die zwei bestimmenden Elemente des abhängigen sozialen Systems. Da, wo jemand süchtig ist, gibt es immer Angehörige, Kinder, Freunde, Kollegen oder andere, die sich in der Hilfe des Suchtkranken mehr oder weniger verstricken. Sucht ist die Voraussetzung für Co-Abhängigkeit, und Co-Abhängigkeit begünstigt Sucht. Beiden Phänomenen liegt dieselbe abhängige Dynamik zugrunde, und erst in der Wechselwirkung entsteht zwischenmenschliche Abhängigkeit.
Genauso wie ein Suchtmittelkonsum oder eine Suchtverhaltensweise einen Menschen mehr oder weniger beherrschen kann, können Sie als Angehörige mehr oder weniger verstrickt sein. Folgende Formen oder Ausmaße der Mit-Betroffenheit können unterschieden werden:
- Kontrolle / Risiko: Im Kontakt zu einem konsumierenden bzw. berauschten Suchtkranken haben Sie im Prinzip nur zwei gegensätzliche Möglichkeiten zu reagieren: Sie können entweder helfen oder sich distanzieren. Gewöhnlich werden Sie mal so und mal so reagieren, sodass Sie eine gute persönliche Balance halten und die Kontrolle über sich und die Situation wahren. Es besteht allerdings stets das Risiko, dass Sie Ihr inneres Gleichgewicht verlieren und sich übermäßig engagieren.
- Verstrickung: Das Zusammenleben mit einem Suchtkranken ist belastend und leidvoll. Die Zerstörungswut der Sucht bringt vielerlei Folgeprobleme mit sich. Im Stress des Alltags können Sie sich verlieren und verstricken.
- Krankheit: Über den Stress und die Folgen können Sie co-abhängig erkranken. Überdies tritt Co-Abhängigkeit nicht selten als Doppeldiagnose in Kombination mit anderen psychischen Störungen auf.
Zwei weitere, spezielle Formen der Betroffenheit sind zu ergänzen und werden Ihnen ebenfalls in diesem Kapitel vorgestellt:
- Kind in / aus Suchtfamilie: Ein besonders gravierender Fall der Mit-Betroffenheit sind die vielschichtigen Belastungen und Beeinträchtigungen von Kindern in Suchtfamilien sowie die komplexen Traumafolgestörungen erwachsener Kinder aus Suchtfamilien.
- Institutionelle Verstrickung: Schließlich hat Co-Abhängigkeit eine institutionelle und gesellschaftliche Ebene: Ganze Familien, Freundeskreise, Vereine, Betriebe oder Einrichtungen können sich in der Hilfe und Tabuisierung der Sucht von einem oder mehreren Suchtkranken verstricken.
2.1 Das Leben mit einem Suchtkranken ist riskant
Sucht ist verbunden mit einem sehr eingeschränkten Handlungsspielraum. Der Süchtige ist fixiert auf das Suchtmittel oder das Suchtverhalten. Er geht der Sucht nach, ist berauscht oder mit der Beschaffung von Rauschmitteln beschäftigt. Das soziale Umfeld wird gewöhnlich im Sinne der süchtigen Absichten manipuliert. Und jeder Suchtkranke ist innerlich zerrissen, der Fachmensch spricht von Ambivalenz. Er möchte gerne aufhören, aber er möchte auch gerne weitermachen. Sie kennen diese Zerrissenheit: »Morgen höre ich auf, versprochen!«
Abgrenzen oder helfen? Durch diese wiederkehrenden Verhaltensmuster und die suchtkranke Zerrissenheit ist Ihr Kontakt als Angehörige zum Suchtkranken ebenso widersprüchlich eingeschränkt. Auf die Äußerungen des Suchtkranken, aufhören zu wollen, reagieren Sie mit dem freudigen Wunsch, ihn dabei unterstützen zu wollen. Der Konsum und die unangenehmen berauschten Verhaltensweisen lösen bei Ihnen dahingegen eine Reihe negativer Gefühle aus: Befremden, Widerwillen, Ekel, Scham, Ängste, Ärger oder Ohnmacht. Die positive Wirkung des Rausches kann bei Ihnen insgeheim Neugier oder Neid hervorrufen, sich auch mal berauschen und alles vergessen zu wollen. Auf die süchtigen Manipulationen reagieren Sie typischerweise wechselweise mit Freude und Hoffnung, wenn Sie darauf hereinfallen, oder Ärger und Enttäuschung, wenn Sie bemerken, dass Sie hereingefallen sind.
Sie können erkennen, dass Ihre möglichen Reaktionen in Abstand nehmende, abgrenzende wie auch annähernde, helfende Verhaltensweisen aufgeteilt werden können. Annähernde Verhaltensweisen sind vor allem durch Hoffnung und Helfenwollen motiviert und tragen stets ein co-abhängiges Risiko in sich. Auch eine Gefährdung zum Suchtmittelmissbrauch ist festzuhalten. Nicht wenige Angehörige nehmen den Suchtkranken zum Vorbild und fangen selber an, Suchtmittel zu gebrauchen, um vom Stress abzuschalten und alles zu vergessen. Gewöhnlich stehen die annähernden Verhaltensweisen in einer gesunden Balance mit den abgrenzenden Verhaltensweisen, sodass das Risiko nicht zur Entfaltung kommt. Wenn allerdings die Balance einseitig kippt, indem Sie – aus welchen Gründen auch immer – die Abstand nehmenden Verhaltensweisen vernachlässigen, können Sie im Kontakt zum Suchtkranken eingeschränkte, übermäßige und unflexible helfende Gewohnheiten entwickeln und sich mehr oder weniger problematisch verstricken.
Fragen Sie sich bitte, wie eingeengt und unflexibel Sie sich im Zusammensein mit dem Suchtkranken fühlen. Wie sehr unterdrücken Sie Ihre unzufriedenen, ärgerlichen und widerstrebenden Gefühle und Ihre Bedürfnisse nach gesundem Abstand? Haben Sie ihm zuliebe oder aus falscher Hoffnung schon auf Ihnen eigentlich wichtige Dinge verzichtet? Wie hoch ist Ihre Gefährdung, sich in der Hilfe zu verlieren?
2.2 Stress rund um die Uhr
Es ist eine große Herausforderung, den Alltag im Kontakt und in der Hilfe zu einem Süchtigen zu meistern, gleichgültig, ob Sie als Elternteil, Partner, Kind, Geschwisterkind, Freund, Nachbar, Arbeitskollege oder professioneller Helfer betroffen sind. Es ist, metaphorisch ausgedrückt, wie der berühmte Wagen im Morast, wie eine Gratwanderung, wie ein Parcoursritt oder wie Sisyphusarbeit.
Ein Süchtiger, der uneinsichtig und unerreichbar mitten in seiner Sucht drinsteckt, hat weitgehend die Kontrolle über sich und sein Verhalten verloren. Je nach Schwere der Abhängigkeit verhält er sich von außen betrachtet irrational, unzuverlässig und widersinnig. Er manipuliert und täuscht Sie. Mit dem Fortschreiten der Sucht fällt er außerdem mehr und mehr aus. Er vernachlässigt sich, seine Aufgaben und Angelegenheiten und Sie wie auch sein sonstiges soziales Umfeld. Er verspricht viel und hält wenig. Er ist nie um Ausreden oder Rechtfertigungen verlegen. Sobald Sie versuchen, mit ihm ein ernstes Wort zu sprechen, weicht er aus, schmeichelt Ihnen, lügt Sie an, wird ausfallend, abwertend oder aggressiv oder droht mit Konsequenzen bis hin zum Selbstmord. In seinen Augen tragen Sie stets Schuld an seinem Konsum und an allem anderen.
Was heißt das für Sie als Angehörige? Sie leiden unter den vielschichtigen, negativen Folgeerscheinungen seines Suchtkonsums oder -verhaltens. Der Süchtige entzieht sich der Realität und der negativen Konsequenzen seines Verhaltens durch Rausch, Betäubung und Breitsein. Sie hingegen sind den Suchteskapaden rauschlos, bei vollem Bewusstsein ausgeliefert. Obendrein provoziert und missbraucht der Süchtige schonungslos Ihre Schwächen. Jeder, der mit einem Suchtkranken konfrontiert ist, kommt schnell an seine Grenzen. Je nachdem, wie nahe Sie ihm stehen und wie sehr Sie sich in der Hilfe schon verstrickt haben, haben Sie eine Menge Stress. Der Stress kann praktischer, emotionaler und sozialer Art sein.
1. Stress durch die Fürsorge für den Suchtkranken
Der Suchtkranke ist Ihnen eine Last wie eine Kombination aus verwöhntem Kind, jugendlichem Delinquenten und übellaunigem Schwerstpflegefall. Er ist krank und braucht Ihre Hilfe. Sie kümmern sich, wenn er in die Ecke kotzt oder suchtbedingte Unfälle passieren. Sie versuchen ihn zu überzeugen, den Konsum zu reduzieren und eine Therapie zu beginnen. Sie baden die negativen und unangenehmen Folgen der Sucht aus, z. B. zahlen Sie suchtbedingte Schulden ab, müssen das Abwenden von Freunden verkraften oder den Verlust von sozialem Status hinnehmen. Und als Dank für Ihr freundliches Engagement sind Sie möglicherweise noch den Abwertungen, Entgleisungen oder Übergriffigkeiten des Süchtigen ausgesetzt.
2. Stress durch den Ausfall des Suchtkranken
Sie übernehmen nach und nach immer mehr Aufgaben, die der Suchtkranke krankheitsbedingt zunehmend unerledigt lässt oder nicht mehr schafft. Das berühmte »bisschen Haushalt« muss geführt werden, putzen, kochen, waschen, reparieren usw. Die Kinder...