Ein Wort zuvor
„Die Beschäftigung mit Geschichte ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit.“
Dr. Marc Simmons, 2010
Vor Jahren sagte mir ein amerikanischer Freund: „In den USA kannst Du zum Helden werden, zum Schurken absinken und wieder zum Helden aufsteigen, und das sogar mehrfach in Deinem Leben.“ (R. L. Wilson, persönl. Gespräch, 2003)
Christopher Houston Carson, allgemein bekannt als „Kit“, wurde dieses Auf und Ab erst posthum zuteil. Zu Lebzeiten bereits eine Legende und unantastbarer Nationalheld, wurde er Jahrzehnte nach seinem Tod regelrecht von seinem Sockel gestürzt und verdammt. Dann wurde er erneut als leuchtendes Vorbild in den Pioniermythos Amerikas eingepasst, nur um ein weiteres Mal ins Zwielicht gerückt zu werden. Aus diesem Status versank er zeitweilig nahezu in Vergessenheit, sodass einer der prominentesten Pionierzeithistoriker, Paul Andrew Hutton, fassungslos eine Broschüre über ihn betitelte: „Why Is This Man Forgotten?“
Erst in den letzten Jahren wird sein Name wieder in die Reihe bekannter Vorkämpfer der Westbesiedelung gestellt, aber – wie bei allen anderen herausragenden Gestalten dieser Epoche – mit gebührenden Einschränkungen versehen. Jedenfalls ist das Verhältnis zu ihm nicht unbelastet und im Zuge der „political correctness“-Welle eher fragil geworden.
Es ist die für Amerika nicht untypische Kompromisslosigkeit, die zu so extremen Ausschlägen führt. Ein Mensch wird uneingeschränkt geliebt und bewundert, oder genauso uneingeschränkt gehasst und verachtet. Die Zwischentöne fehlen. Aber erst die Schattierungen machen den Menschen aus. Den Menschen und sein Leben in seiner Vielschichtigkeit, in seinem Gut und Böse, seinen oft unverständlichen, sich widersprechenden Eigenschaften, die letztlich aber seine Persönlichkeit formen und ihn – je nach Gemengelage – anziehend oder abstoßend machen.
Das Problem mit Personen wie Kit Carson ist – und das trifft auch auf vergleichbare andere Figuren der Geschichte zu –, dass sie frühzeitig in der öffentlichen Wahrnehmung zu makellosen Heroen erhoben wurden. Der kleinste Kratzer in dieser glänzenden Fassade führte zum Zerbröckeln und zum totalen Zusammenbruch dieses irrealen Bildes.
Die Erkenntnis, dass auch ein Held nur ein Mensch ist, dass auch ein Held aus Stärken und Schwächen besteht und zu falschen Handlungen fähig ist, führt zu kaum reparabler Frustration.
Hintergrund ist die menschliche Eigenart, sich Leitbilder zu schaffen, die makellos und ohne Fehl und Tadel sein sollen, weil der Mensch sich im Grunde seiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst ist. Seine Vorbilder sollen frei davon sein. Sie sollen dem Ideal entsprechen, das man selbst sein möchte – von dem man aber im Grunde weiß, dass es auf dieser Welt nicht existiert.
In Amerika ist diese Überlegung besonders radikal, weil der amerikanische Nationalmythos auf der Überzeugung basiert, dass die „Neue Welt“ dem globalen Rest insgesamt weit überlegen ist. Zeigt einer der nationalen Helden Schwächen, bricht diese Vorstellung in sich zusammen.
In diesem Kontext ist Kit Carsons Aufstieg, Fall und erneuter Aufstieg exemplarisch.
Die Erkenntnis, dass der Fackelträger menschlicher Ideale auch nur eine fehlbare Kreatur ist, führt zur Enttäuschung. Aber dann zeigt sich eine andere, sympathische Eigenart des amerikanischen Nationalcharakters: Jeder erhält eine zweite, dritte oder vierte Chance. Wer stürzt, muß nicht und darf nicht liegen bleiben. Er kann wieder aufstehen und sich erneut bewähren. Darin wird dann ein neues Element der Stärke gesehen, die dem Durchschnittsmenschen nicht gegeben ist. Ein weiteres Charakteristikum, das den Helden aus der Masse hervorhebt.
Kit Carson als historische Gestalt konnte diese Chance nicht selbst nutzen. Zu Lebzeiten war er unangetastet. Kontrovers wurde er erst Jahrzehnte nach seinem Tod. Es lag also in den Händen von Historikern, ihn zu verdammen oder zu rehabilitieren, und in dieser Beziehung war er mehrfach bestens geeignet.
„Das Sprichwort, dass der Held im eigenen Land nichts gilt, hat im Fall Carsons keine Bedeutung. Sein Ruhm verfestigte sich zunächst unter seinen eigenen Freunden, den Mountain Men, Jahre bevor die Welt außerhalb überhaupt nur von ihm hörte. Und bis zum Tag seines Todes bewahrten seine Nachbarn, Rote wie Weiße, Freunde und Gegner, neidlos große Achtung vor seinen bemerkenswerten charakterlichen Eigenschaften und Führungsqualitäten.“ (Milo Milton Quaife, 1935: xi-xii)
Wie tief solche Gestalten in der amerikanischen Volksseele verankert sind, wie groß die Emotionen sein können, die sie im Negativen wie im Positiven auslösen können, zeigt in solchen Fällen die Heftigkeit der Diskussionen, die sie bei der Nachwelt auslösen, sodass selbst mehrere Generationen später noch glühende Zuneigung und wütende Ablehnung aufeinanderprallen, als ginge es um eine existenzielle Frage.
Und tatsächlich: Genau darum geht es.
Die Identität und Selbstachtung eines Volkes ist verknüpft mit der Aufarbeitung der eigenen Tradition und Geschichte. Die Ehrlichkeit der Anerkennung eigenen Fehlverhaltens und der Stolz auf nationale Leistungen sind Stabilitätsfaktoren einer Nation – nicht anders als beim einzelnen Menschen, der Kraft und Ausstrahlung gewinnt, indem er sich zu seinen Schwächen bekennt und sich auf seine Stärken beruft. Aber das ist ein schwieriger Prozeß.
Dazu gehört die Selbsterkenntnis – ob für den Einzelnen oder für ein ganzes Volk –, dass Ideale nur Ziele sind, die man anstreben kann, aber nur selten eine Realität, die wirklich erreichbar ist.
Kit Carson war im öffentlichen Ansehen das Idealbild des amerikanischen Pioniers. Aber er war auch nur ein fehlbarer Mensch. Der Verlust einer nationalen Lichtgestalt trifft ein ganzes Volk ins Mark. Um der Verurteilung durch andere vorzubeugen, nimmt man eine Selbstreinigung vor, verdammt den einstigen Helden selbst und wendet sich von ihm ab. Aber es bleibt eine nicht füllbare Lücke.
Daher wandelt sich die Abneigung irgendwann wieder, und die Faszination an der Lebensleistung des wieder entdeckten Helden wächst und überlagert seine Schwächen.
Kit Carson mußte dieses Wechselspiel zu seinen Lebzeiten nicht erfahren. Seine natürliche Autorität sorgte für Achtung, wo immer er auftrat. Inzwischen verdrängen seine unbestreitbaren Leistungen die Schatten, die zeitweise auf ihm lagen. Ebenso wie sein Zeitgenosse und zeitweiliger Freund Jim Bridger, hatte Carson der amerikanischen Nation das Tor zum Westen aufgestoßen, hatte die Wege durch die Wildnis zu neuen Horizonten gewiesen.
„Er hatte das Aufbrechen des amerikanischen Westens mit seinem berstenden Lebenshunger und seiner Brutalität erlebt. Indem er ständig unterwegs war, war er mit nahezu allen bedeutenden Stammesgruppen oder wichtigen Menschen zusammengetroffen. Er hatte den Westen mit einer Unmittelbarkeit erfahren wie nur wenige andere Männer. …
Als Pelzjäger, Scout und Entdecker war er Tausende von Meilen durch die Rockies, das Große Becken, durch die Sierra Nevada, die Wind River Berge, die Tetons und die Küstengebirge von Oregon gezogen. Als Jäger hatte er die großen Ebenen durchkreuzt und war den gewaltigen Bisonherden gefolgt. Er hatte den Pacific gesehen, war tief nach Mexiko und in die von Briten beherrschten Gebiete im Nordwesten vorgedrungen. Er hatte die Sonora, die Chihuahua und die Mojave Wüsten durchquert, hatte am Rand des Grand Canyons gestanden und den Großen Salzsee gesehen. … Er war allen großen Strömen des amerikanischen Westens gefolgt – dem Colorado, dem Platte, dem Sacramento, dem San Joaquin, dem Columbia, dem Green River, dem Arkansas, dem Gila, dem Missouri, dem Powder River, dem Big Horn, dem Snake, dem Salmon, dem Yellowstone und dem Rio Grande. Es schien so, als sei Carson schon bei der Erschaffung der Welt anwesend gewesen.“ (Sides, 2006: 7)
Carson setzte Marksteine. Allein das hob ihn aus der Masse heraus. Und er hinterließ Spuren, die teilweise bis heute nicht verweht sind. Er führte die Expeditionen, die den Oregon Trail erforschten, auf dem hunderttausend Planwagen nach Westen rollten. Er war am Aufstand der kalifornischen Siedler beteiligt, um dieses Gebiet Mexiko zu entreißen. Er half im Bürgerkrieg mit, die Südstaaten aus dem amerikanischen Südwesten zu verdrängen und bewahrte dieses reiche Gebiet für die Union. Er – und hier setzt die meiste Kritik an ihm an – unterwarf die Navajo-Indianer in einem der umstrittensten, aber auch einem der am Verzerrtesten dargestellten Feldzüge der Indianerkriege. Er war am Abschluss mehrerer Friedensverträge mit Indianerstämmen beteiligt und sorgte für eine Reservation der Ute-Indianer und für zahlreiche Privilegien für dieses Volk.
Es gab Zeitgenossen von ihm, die mit nur einem Bruchteil seiner Leistungen in die Öffentlichkeit drängten; Carson dagegen blieb meist bescheiden im Hintergrund. Er kommentierte Berichte über sich, von denen er erfuhr, nur selten, und zu seiner Autobiografie musste er gedrängt werden.
Er hatte in seiner Zeit als Trapper und Scout immer wieder Menschen das Leben gerettet, ohne davon Aufhebens zu machen – und gelegentlich hat er sich auch als schwach erwiesen und sich die Hände schmutzig gemacht.
Als wortkarg bekannt, trafen seine Sätze in der Regel auf den Punkt und alle, die...