2. Strukturanalyse der rituellen Kommunikation
Die freimaurerische Kommunikation – insbesondere die rituelle – zeichnet sich durch eine außerordentliche Kunsthaftigkeit und eine wahre Zeichenflut aus.
Diese Zeichenflut begründet Norbert Schindler mit einer Assimilation der Freimaurerei in die Feudalkultur und verweist auf eine Reihe äußerer und kultureller Analogien im 18. Jahrhundert, die auf dem Versuch der Übernahme traditioneller emotionaler Ressourcen und höfischer Etikette basieren, um sich so über die Gunst des Königshauses und des Adels zu legitimieren.121 Er weist auch auf die kurze Phase großer öffentlicher Festivitäten und pompöser Selbstdarstellungsversuche des Freimaurerbundes hin, die hinsichtlich der heutigen Vorstellung von einer verschwiegenen Bruderschaft‘ erstaunen.
Die Zeichenfülle ist meines Erachtens aber nicht nur über den Versuch der Assimilation in die Feudalkultur, sondern auch inhaltlich, d.h. vor dem Hintergrund des Verständnisses von Identität und Verwandlung sowie der freimaurerischen Aufgabenstellung, zu erklären. Zur visuellen Kommunikation des Vorgangs der Verwandlung und als Erkenntnishilfe wird zum großen Teil auf alchemistische Symbole sowie solche aus der Steinmetzentradition zurückgegriffen.
Ich will im folgenden diese semiotische Aufladung des Rituals einerseits über die formellen Aspekte der Cultural Performance beschreiben und andererseits das Verhältnis des freimaurerischen Ziels der Wesensverwandlung und sittlichen Vervollkommnung und dessen Darstellung und Vermittlung über Symbol und Ritual untersuchen.
2.1 Symbol und Ritual
Die Ökonomie des Symbols zeichnet sich durch inhaltliche Komprimierung und formelle Doppelung aus. Ich betrachte das Ritual als eine Anhäufung performativer Symbole und vom Körper ausgeführter Zeichen. Das Symbol ist die kleinste Einheit des Rituals.
Der Körper fungiert oftmals als Zeichen eines Zeichens. Besonders deutlich wird dieses Verhältnis bei näherer Betrachtung des freimaurerischen Symbols des rechten Winkels. Der Winkel, welcher als bewegliches Kleinod auf das göttliche Maß und somit den Dreifach Großen Baumeisters verweist, ist bildlich auf dem Arbeitsteppich dargestellt. Er erinnert den Freimaurer daran, daß ‚sein ganzer Wandel rechtwinklig‘ und von Rechtschaffenheit und Sittlichkeit geprägt sein sollte.122 Der Winkel spielt auch bei den Erkennungszeichen und Schritten in der rituellen Handlung eine große Rolle und wird in der Fußstellung, Arm- oder Handhaltung nachempfunden. Die geometrische Form des rechten Winkels bekommt eine zusätzliche choreographische Funktion beim Betreten des Tempels im rechten Winkel sowie während des Anzündens der Kerzen innerhalb der Logeneröffnungs- und Schließungszeremonie, bei denen die Brüder Aufseher und der Meister ebenfalls in ihren Gängen rechte Winkel beschreiben.
Erschöpfend sind die Darstellungsformen, bei denen der rechte Winkel eine Rolle spielt, kaum zu behandeln, immer verweist er jedoch auf das komplexe Wesen des Göttlichen und die rechtschaffene Lebensweise‘ als ein Prinzip der Freimaurerei.123 In Symbol und Ritual kommt es so zu einer permanenten Doppelung von Zeichen und deren komprimierter Inhalte.
Das Ritual dient der Visualisierung des Unsichtbaren. Im Fall der Freimaurerei ist dies einerseits das Wesen des Göttlichen und andererseits der geistige Erkenntnisstand und der Individuationsprozeß der Brüder. Es ist dabei zu unterscheiden, inwieweit sich das Ritual auf ein Individuum oder das Kollektiv von Brüdern bezieht. Das Ritual ist in seiner Zeichenpraktik als kollektive Handlung ein Zeichenprozeß, in dem Zeichen erst zu Zeichen werden. In seinem szenischen Charakter transportiert es Ablaufspannung und operiert mit feststehenden Zeichen und festgeschriebenen Akteuren die zeitweilig eine Stellvertreterfunktion gegenüber nicht-handelnden Brüdern einnehmen können.
Exkurs: Geschlossenheit und Offenheit
Die Offenheit der undogmatischen Lehre resultiert aus dem Auslegungsfreiraum von Ritual und Symbol. Es gibt generell keine eindeutige Zuordnung von Signifikant und Signifikat. Diese interpretatorische Offenheit der freimaurerischen Symbolik äußert sich auf vielschichtige Art und Weise:
a) in der semiotischen Belegung der Zeichen innerhalb der verschiedenen Lehrsysteme, z.B. je nach Gewichtung der (...) Interpretation,
b) in der Offenheit gegenüber der Uminterpretation der festen traditionellen Symbolik im Wandel der Zeit, die sich beim Vergleich von Instruktionsbüchern und Lehrgesprächen aus verschiedenen Zeiträumen offenbart,124
c) in der ‚Neuinterpretation‘ gleicher Zeichen auf verschiedenen Erkenntnisstufen der Lehre. Die Spezifika der verschiedenen Erkenntnisstufen werden durch eine Erweiterung der Interpretation signalisiert125
und d) in inhaltlich weitestgehend offenen Zeichen, wie z.B. dem Dreifach Großen Baumeisters, als Inbegriff des Göttlichen und des schöpferischen Prinzips, einem Symbol, dessen genaue Bedeutung jedem Bruder freigestellt ist und das mit individuellen religiösen Vorstellungen gefüllt werden kann. Hier spiegelt sich die hermetische Vorstellung von einem Gott als Vereinigung aller Gegensätze (Lib.V,10a).
Trotz dieser Offenheit innerhalb der Symbolik ist der interpretative, semiotische Ansatz zur Analyse des Rituals gerechtfertigt. Der Beliebigkeit und Verdrängung intentionaler Bedeutung, wie sie Caroline Humphrey und James Laidlaw in ihrem Buch ‚The Archetypal Actions of Ritual‘ als Resultat der Ritualisierung beschreiben,126 wird intensiv vorgebeugt. Die Freimaurerei ist eine Institution mit einem schriftlich fixierten, streng durchkomponierten Ritual, welche die grundsätzliche Intention der rituellen Handlung festschreibt, ohne aber die Bedeutungszuweisung abschließend zu vollziehen. Das Ritual läßt großen Raum für – und verlangt sogar – die persönliche Aneignung des rituellen Aktes über die individuelle psychologische und emotionale Reaktion des Ausführenden, auf welche die feierliche und stimmungsvolle Atmosphäre sowie die Konfrontation des Initianten mit verschiedenen Indeterminiertheiten abzielen. Eine umfassende Bedeutungsinterpretation ist über das Ritual und seinen Kontext nicht zu leisten, sondern muß die individuelle Interpretation des Akteurs einschließen.
Daß der Eindruck der Willkürlichkeit und Leere des Rituals nicht entstehen kann, ist methodisch abgesichert. Der Freimaurer durchschreitet das eigene Initiationsritual – welches ihm vorher nicht bekannt ist – zum jeweilig neuen Grad nur einmal, so daß es nicht zur konsequenten Verdrängung intentionaler Bedeutung durch Wiederholungen kommen kann. Die Teilnahme an der Beförderung anderer hat eine andere Qualität. Sie frischt die Erinnerung auf und läßt den Bruder den Vorgang von anderer Warte – der Beobachterposition – rekapitulieren.
Der Stellenwert der Instruktion ist in der Freimaurerei extrem hoch. Vorträge zur freimaurerischen Symbolik und dem Ritual sind Bestandteil einer jeden Logenarbeit.‘127 Ritualkommissionen und andere freimaurerische Autoritäten sorgen für den Erhalt bzw. die gelegentliche Überarbeitung des Rituals und geben Leitfäden und Ritualbücher heraus, die den Brüdern nach der Aufnahme in den jeweiligen Grad überreicht werden. Sie enthalten die autorisierte und allgemeine Interpretation der Symbolik, welche durch individuelle Bedeutungen durch den Bruder ergänzt werden kann.
Das Ritual ist funktionaler Bestandteil und Ausdruck der hierarchischen Struktur innerhalb des Zusammenschlusses. Zwar sind die rituellen Handlungen in Anlehnung an archetypische Situationen des menschlichen Lebens entwickelt,128 in dieser Form werden sie jedoch nur innerhalb des Rituals ausgeführt. Die Verwechslungsgefahr zwischen der ritualisierten und nichtritualisierten Form der Handlung, wie Humphrey sie befürchtet, besteht daher nicht.129
War in der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts das innovative Potential des Rituals die Fixierung und Etablierung neugesetzter Werte, so stellt der Setzungsakt von beständigen Werten der bürgerlichen Aufklärung eine Dynamik dar, die im weiteren Verlauf rapide abnimmt und die Freimaurerei einen zunehmend konservativen Charakter annimmt. Sie verteidigt die Existenz dauerhafter Begriffe, die ihrer Meinung nach in ihrem humanitären und ethischen Wert dem Zeitlichen nicht unterworfen sind und in ihrer normativen Konstanz gesellschaftliche Orientierungspfeiler und Sicherheit bieten sollen.
Ohne der Freimaurerei ein hohes Maß an Reflexion über ihr eigenes Tun absprechen zu wollen, wird dennoch deutlich, daß sie sich an einem bestimmten Punkt aus jenen dynamischen gesellschaftlichen Entwicklungen, deren Vorreiter sie ehemals war, herausgenommen hat und aufgehört hat, wesentliche gesellschaftliche Veränderungen zu rezipieren. Als Traditionsverein tut sie sich heute schwer damit, ihre Konstitutionsform und ihre Traditionen konsequent zur Disposition zu stellen. Die Unzeitgemäßheit mancher Traditionen wird immer wieder deutlich an den Rechtfertigungsdilemmata für die Beibehaltung alter Formen, wie z.B. in den Diskussionen um die Aufnahme von Frauen in...
