Gitta Bintinger
Reformpädagogik und Integration im Kontext
Der Weg, den die Schwachen gehen, um sich zu stärken, ist der gleiche, den die Starken gehen, um sich zu vervollkommnen.
Das der Reformpädagogik allerorts und allseits bekundete große Interesse legt die Vermutung nahe, daß ein dringendes Bedürfnis besteht, Unterricht in Richtung Humanisierung und Demokratisierung zu verändern. Diese Hinwendung zur Reformpädagogik läßt mich hoffen, daß nunmehr der „Reformpädagogik des 21. Jahrhunderts“ – der „Integrativen Pädagogik“ – gleichermaßen Beachtung geschenkt wird, sind doch Humanisierung und Demokratisierung auch deren ureigenste Anliegen.
Ein Auftrag
„Integration“ lautet der heutige gesellschaftspolitische Auftrag an alle Pädagogen und an die Pädagogik. Erstmals in der Geschichte der Schule sind alle Lehrer und alle Lehrerbildner dazu aufgerufen, Schule zu erneuern, denn Integration und schulische Erneuerung bedingen einander.
Der Weg vom Gesetz zur Realisierung von integrativem Unterricht ist weit und ohne Überzeugung, Engagement und Kooperation aller Beteiligten nicht zu bewältigen.
Eine Problemskizze
Das in vielen Bereichen noch weitgehend brachliegende Feld der Integrativen Pädagogik erfordert (auf der Ebene der Pädagogischen Akademien, die ich in höchstem Maße hierfür prädestiniert erachte) die Zusammenarbeit von Humanwissenschaftern, Didaktikern und Praktikern, denn – gemäß einem Prinzip der Integrativen Pädagogik – kann nur durch Kooperation Ganzheit entstehen.
Die gegenwärtige integrative Praxis ist nur im Ansatz integrativ. Die Gründe hierfür sind, daß die traditionellen, aussondernden Merkmale von Schule – verschiedene Schulformen, verschiedene Lehrpläne, normierter Leistungsbegriff, herkömmliche Leistungsbeurteilung – weiterhin Bestand haben, und daß „Analysen integrativer Prozesse in Schulen“ sich meist nur auf interaktionale, kommunikative und soziale Schwerpunkte beziehen, während von Analysen pädagogisch-didaktischer Art mit konzeptionellem Charakter nicht die Rede sein kann.“1
Feuser bezeichnet eine Allgemeine (kindzentrierte und basale) Pädagogik als integrativ. „in der alle Kinder und Schüler in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau nach Maßgabe ihrer momentanen Wahrnehmungs-. Denk- und Handlungskompetenzen in Orientierung auf die nächste Zone ihrer Entwicklung zugehen und mit einem gemeinsamen Gegenstand spielen, lernen und arbeiten.“2
Die sich aus dieser Definition ergebenden pädagogischen Grundsätze einer Integrativen Pädagogik fordern vom Lehrer, den Menschen als integrierte Einheit von Biologischem, Psychischen und Sozialem zu sehen, der Heterogenität jeder Schulklasse Rechnung zu tragen, alle Kinder in Kooperation miteinander spielen, arbeiten und lernen zu lassen – an gemeinsamen Vorhaben mittels innerer Differenzierung und entwicklungslogisch-biographisch orientierter Individualisierung eines gemeinsamen Curriculusms.
Um schulische Integration verwirklichen zu können, sind viele Themen zu diskutieren:
• Die Neupositionierung von Allgemeiner Pädagogik – auch im Sinne einer Verschmelzung von Allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik;
• der Entwurf einer Entwicklungslogischen Didaktik;3
• die Ausarbeitung von Entwicklungsplänen;
• neue Formen des Lehrens und des Lernens in einem least restriktive environment (am wenigsten einschränkende Umgebung);4
• Fragen des Leistungsbegriffs und der Leistungsbeurteilung;
• die Forderung nach jahrgangsübergreifenden Klassen;
• die Neugestaltung der Lehrerausbildung;
• die Neustrukturierung unseres Schulsystems.
Es gibt von Seiten der Wissenschaft (Vgl. Feuser, Eberwein, Ellger-Rüttgardt!) keine stichhaltigen Gründe, die Trennung von Allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik, durch die das differenzierte Schulwesen sich selbst legitimierte und perpetuierte, weiterhin aufrechtzuerhalten.
Die Entwicklungslogische Didaktik muß Fachdidaktik mit den didaktischen Kategorien Kooperation an gemeinsamen Vorhaben, Innere Differenzierung, Individualisierung verknüpfen und Unterricht auf der Grundlage persönlichkeitstheoretischer, entwicklungs- und lernpsychologischer Erkenntnisse aufbauen.
Die Reformpädagogik hat sich vieler dieser Fragen angenommen und Wege beschritten, die bei der Realisierung schulischer Integration Modell sein können. Zwischen dem Konzept der Pädagogik von Maria Montessori und dem der Integrativen Pädagogik gibt es viele Parallelen, da beide von einem sich im wesentlichen ähnelndem Bild vom Menschen ausgehen und Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung und menschlichen Lernens zur Grundlage pädagogischen Handelns machen. Im didaktischen Ansatz von Maria Montessori und in ihren Entwicklungsmaterialien sind Lösungsansätze für die „Entwicklungslogische Didaktik enthalten, die Feuser als die Basis integrativen Unterrichtes sieht. Das in sich geschlossene pädagogische System Maria Montessoris bedarf, um ein integratives sein zu können, der Erweiterung um Aspekte der Integrativen Pädagogik. Diese ihrerseits kann nur mit Elementen aus der Montessori-Pädagogik schulische Praxis werden. In einer Symbiose dieser – erweiterten – pädagogischen Konzepte nimmt eine Integrative Pädagogik Gestalt an, die reformpädagogisch-integrativ arbeitenden Lehrerinnen Sicherheit und Hilfe im Schulalltag bieten kann.
Ich halte Festschreibungen und Vorgaben häufig für entbehrlich. Mit dem pädagogisch integrativen Alltag vertraut, meine ich jedoch, daß die didaktische Klärung von schulischer Integration notwendig ist. Zum Thema Integrative Pädagogik gibt es viele theoretische Abhandlungen, konkrete Hinweise für den pädagogischen Alltag sind jedoch spärlich und meist nur im Ansatz skizziert. Immer wird an diesem wesentlichen Punkt auf die Arbeit von (nicht existierenden) Zukunftswerkstätten verwiesen. Entscheidend für die pädagogische Qualität von Integration halte ich die praktischen didaktisch-methodischen Hilfen, die Lehrer zur Hand gegeben werden, um integrativ arbeiten zu können.
Es ist Lehrern nicht zumutbar und nicht möglich, die hohen Forderungen der Integrativen Pädagogik mit Lehrplänen, Didaktik, Leistungsbeurteilung, Lehr- und Lernmitteln der herkömmlichen Art zu erfüllen. Ich erachte diese Unterstützung als dringend, da pädagogisches Unvermögen bereits einmal eine der Ursachen für den Ausschluß von Kindern war (Vgl. Exkurs Zur Sonderschule, S. 38!).
Heute wissen wir, daß nicht die Kinder sonderschulbedürftig, sondern die Schulen reformbedürftig waren/sind. Schulerneuerung muß von innen heraus, in Auseinandersetzung mit den Traditionen der Reformpädagogik und dem Integrationsgedanken erfolgen.
Das Symposium5 war und ist für mich der unverzichtbare Beginn der pädagogischen Diskussion über Integrative Pädagogik, deren Wurzeln tief in der Reformpädagogik verankert sind und weiter zurückreichen als allgemein angenommen wird.
Ein historischer Rückblick
Bereits im 17. Jh. verstand Comenius die Didaktik „als die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren.“6 Er vertrat die Ansicht, daß Unterricht allen alles in naturgemäßer Weise vermitteln sollte, wobei die Grundvoraussetzungen fruchtbaren Lehrens die Anschauung der Dinge selber oder doch wenigstens deren Abbildungen waren. Sein berühmtes Lehrbuch „Orbis pictus“7 war als Hilfe gedacht, diese didaktischen Grundsätze auch verwirklichen zu können! Comenius schrieb:
„Denn je träger und schwächlicher einer von Natur aus ist, um so mehr bedarf er der Hilfe, um von seiner schwerfälligen Stumpfheit und Dummheit so weit wie möglich befreit zu werden. Und man findet keine so unglückliche Geistesanlage, da sie nicht verbessert werden könnte. In den Schulen selbst soll nicht Verschiedenes behandelt werden, sondern vielmehr dasselbe in verschiedener Weise.“8
Comenius Didaktik ist eine zutiefst integrative. Es ist bis heute nicht gelungen, ein Grundprinzip der Integrativen Pädagogik, das „Lernen an einem gemeinsamen Gegenstand“ treffender zu formulieren.
Die Arbeit am „Gemeinsamen Gegenstand“ – ich bevorzuge den Terminus „Gemeinsame(s) Vorhaben“ – ist im weitesten Sinn mit Projektarbeit vergleichbar, wobei integrativer Unterricht zu jedem Zeitpunkt Gemeinsames Vorhaben ist. Ein gemeinsam beschlossenes Vorhaben wird in all seinen Dimensionen – jeweils von der sinnlich-konkreten bis zur logisch-abstrakten Ebene – erschlossen und von allen Kindern auf dem Stand ihrer jeweiligen Wollens-, Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkkompetenz miteinander „erfühlt, erhandelt, erarbeitet und erdacht.“
Ein wesentliches Moment dieser gemeinsamen Vorhaben sind die vielfältigen – gemeinschaftlich sowie...