Einleitung
Ich kann Wochentage am Geräusch erkennen. Zumindest den Montag. Der Montag-Soundtrack in meiner Praxis ist ein Mix aus Niesen, Husten, Röcheln und Weinen. Meine Patienten haben den Samstag und Sonntag mit Atemwegsinfekten, Durchfall und Erbrechen, Ausschlag und Fieber überlebt, jetzt wollen sie, dass ich sie untersuche und möglichst schnell gesund mache. Ich bin Kinder- und Jugendarzt. Ich behandle junge Menschen. Den Eltern meiner Patienten ist das oft zu wenig, sie wollen mehr. Sie wollen wissen, warum ihr Kind überhaupt krank geworden ist, warum es immer wieder krank wird. Warum sie selbst auch krank sind. Sie haben einen Verdacht: Ihr Immunsystem ist schuld, es hat versagt. Doch so ist es nicht. Ganz im Gegenteil.
Rückblick: Ich habe viele Jahre auf der Kinderkrebsstation in der Düsseldorfer Universitätsklinik gearbeitet. Die Kinder und Jugendlichen dort bekamen Chemotherapien, die nicht nur die kranken oder bösartigen Krebszellen, sondern auch gesunde Zellen wie zum Beispiel weiße Blutkörperchen zerstörten. Die weißen Blutkörperchen sausen normalerweise mit dem Blut durch den Körper. Wenn sie auf Krankheitserreger treffen, machen sie sie unschädlich. Ohne diese Abfangjäger waren die Kinder und Jugendlichen anfällig für alle möglichen banalen Infekte. Wir versuchten, unsere Patienten daher vor den Tausenden von Viren und Bakterien zu schützen, die durch die Luft schwirren, auf naturbelassenen Lebensmitteln sitzen, auf Tischen und Türklinken und eigentlich überall lauern. Wir wussten: Ohne die weißen Blutkörperchen bedeutete jeder Niesanfall eines Besuchers, jeder Handschlag, jedes Blatt Salat Gefahr. Deshalb mussten die Kinder und Jugendlichen auf den Krankenhausfluren einen Mundschutz tragen, sich oft die Hände waschen und desinfizieren und – weniger schlimm für die meisten – auf Salat und halb rohes Fleisch verzichten. Dieselben Vorsichtsmaßnahmen galten natürlich für die Besucher. Auch die Eltern und Geschwister unserer Patienten mussten meist einen Mundschutz tragen, sich oft die Hände waschen und desinfizieren. Durch diesen doppelten Schutz drang so gut wie kein Keim zu den kranken Kindern und Jugendlichen durch.
Aber warum brauchten die Kinder und Jugendlichen überhaupt Chemotherapien? Warum schaffte es ihr Immunsystem nicht allein, Krebszellen zu erkennen und rechtzeitig zu töten? Und weiter: Was passiert, wenn man den Patienten das Immunsystem einer anderen Person einpflanzt? Wird dann dieses neue Immunsystem die Krebszellen oder die Zellen des fremden Körpers oder sogar beide angreifen und töten? Darüber wollte ich mehr erfahren. So ging ich in die USA und forschte dort am Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York, eines der weltweit besten Krebszentren. Und hier, bei der Arbeit in den Forschungslaboren und auf den Krankenstationen, fand ich auch Antworten auf meine Fragen.
Wissenschaftler arbeiten ein bisschen wie Spinnen, sie legen ein Netz aus Erkenntnissen um die Welt und um alles, was sich auf ihr bewegt. Die Maschen dieses Netzes werden im Lauf der Zeit immer enger, die Fragen, die die Forscher beantworten, immer spezieller. Wir wissen heute viel über das Immunsystem, warum es manchmal versagt oder »durchdreht«, das Rätsel zum Beispiel um die natürlichen Killerzellen ist zumindest teilweise gelöst. Die Forschung geht weiter. Denn trotz aller Fortschritte steckt unser Immunsystem immer noch voller Geheimnisse, und selbst Ärzte und Wissenschaftler staunen immer wieder darüber, wie das Immunsystem arbeitet. Am meisten, wenn sie es am eigenen Leib spüren.
Vor einigen Jahren erkrankte ich selbst an Krebs. Damals hatte ich bereits meine Praxis. Ich bekam Chemotherapie und Bestrahlung. Beides führte dazu, dass die Zahl meiner Abwehrzellen ins Bodenlose sank und meine Antikörperproduktion darniederlag. Nach Meinung meiner Ärzte war ich jetzt jedem Krankheitserreger schutzlos ausgeliefert. Aber ich wollte nicht zu Hause bleiben, sondern in meiner Praxis bei meinen Patienten sein. So versprach ich, bei fiebernden Kindern einen Mundschutz zu tragen und mir noch intensiver als sonst die Hände zu desinfizieren. Den ganzen Winter lang, jeden Tag, kamen niesende, schniefende, hustende und fiebernde Patienten zu mir. Ich blieb gesund. Kein Husten, kein Schnupfen, kein Fieber. In jenem Winter machte ich am eigenen Leib die Erfahrung, dass unser Immunsystem aus mehr besteht als aus einer Armee weißer Blutkörperchen. Dass es da noch jede Menge weiterer Sicherheitsnetze gibt, die alle zusammenarbeiten, um uns gesund zu erhalten beziehungsweise zu machen.
Einige dieser Sicherheitsnetze sind nicht von Anfang an da, sie entwickeln sich erst im Lauf des Lebens. Kleinkinder sind daher häufiger krank als größere Kinder. Das Immunsystem wächst und reift ebenso wie Gehirn, Knochen, Muskeln und Organe. Dabei folgt es keinem vorher festgelegten Plan, sondern lernt mit der Zeit, was der Mensch, zu dem es gehört, braucht. Mit der Zeit wächst so ein Schutzsystem heran, das seinem Besitzer wie ein Maßanzug passt und das sich immer wieder neuen Bedingungen anpasst.
In meiner Praxis kann ich bei diesem Prozess zuschauen.
Alle paar Jahre bilden wir eine Medizinische Fachangestellte aus. Kaum ist die neue Auszubildende ein paar Tage da, ruft sie morgens an und meldet sich mit heiserer Stimme und heftig schniefend krank. Nach ein paar Tagen kommt sie wieder in die Praxis – und schon bekommt sie den nächsten Infekt. So geht es das erste halbe Jahr lang. Bis das Immunsystem die meisten Infekte »gelernt« hat. Von da an wird die Azubine kaum noch krank.
Meine Beobachtungen auf der Krebsstation, im Labor, in meiner Praxis und meine eigene Krankheit gaben den Anstoß, mich näher mit unserem Immunsystem zu beschäftigen, diesem faszinierenden Phänomen, das Tag und Nacht unsichtbar in unserem Körper arbeitet. Es hat seinen Sitz nicht an einem bestimmten Platz, es besteht nicht aus einem bestimmten Organ oder Zellen, sondern es ist überall, in allen Organen, Geweben und Flüssigkeiten unseres Körpers, vom Scheitel bis zum Zeh.
Für unsere Augen ist es unsichtbar, aber wir können es bei der Arbeit beobachten. Ich erinnere mich an die seltsame Faszination, die ich als Kind jedes Mal beim Anblick meiner aufgeschlagenen Knie verspürte. Erst lief das Blut, nach einer Weile trocknete es, und in den nächsten Tagen löste sich das getrocknete Blut und darunter konnte ich die neue Haut wachsen sehen, sie war rosa, glatt und ganz zart, wenn ich mit meinen Fingern darüberstrich. Nach ein paar Wochen war mein Knie wieder heil – bis zum nächsten Sturz vom Fahrrad oder Klettergerüst. Mein Immunsystem hatte ganze Arbeit geleistet. Ich konnte mich auf seinen Schutz verlassen, wenn ich mir beim Bogenschnitzen in den Finger schnitt oder wenn ich mit ungewaschenen Händen ungewaschenes Obst aß. Wunden heilten, Schnupfen, Husten, Magenverstimmungen und andere typische Krankheiten blieben ein paar Tage, bis sich mein Immunsystem auf die Erreger eingestellt hatte, sie unschädlich machte und sich dabei zugleich merkte, wie es vorgehen musste. Mit den Jahren lernte es auf diese Weise immer besser, mich zu schützen. Ich bekam erst Masern, dann Windpocken, danach konnte ich ohne Sorgen meine masern- und windpockenkranken Klassenkameraden besuchen und ihnen die Hausaufgaben vorbeibringen. Mein Immunsystem schützte mich davor, die Krankheiten noch einmal zu bekommen. Meinen ersten Kuss bekam ich von einem Mädchen, das sehr erkältet war. Ich blieb gesund. Mein Immunsystem hatte ihre Viren wahrscheinlich schon bei anderer Gelegenheit kennengelernt und wusste, wie es sie abwehren konnte.
In meiner Umgebung erlebte ich, was es bedeuten konnte, wenn das Immunsystem übertrieb. Da gab es den Cousin, der eines Tages nach dem Genuss einer Brezel schreckliche Bauchschmerzen und Durchfall bekam. Fortan vertrug er Brezeln, Brötchen und eine Menge anderer glutenhaltiger Lebensmittel nicht mehr. Zöliakie heißt die Krankheit, bei der sich das Immunsystem gegen das Klebereiweiß in Getreide, in Brot, Bier und anderen Lebensmitteln wehrt, Experten halten sie heute für eine Mischform aus Allergie und Autoimmunerkrankung.
Die Schwester meiner Frau fiel eines Tages nach dem Verzehr eines Stücks Bienenstich bewusstlos in der Straßenbahn um und konnte nur mit Mühe von den herbeigerufenen Sanitätern gerettet werden. Dummerweise hatte der Bäcker geschummelt und statt teurer Mandeln Erdnüsse verwendet. Und gegen Erdnüsse war sie allergisch. Ihr Immunsystem drehte bei der kleinsten Erdnuss durch.
Dann war da noch meine alte Tante mit den krummen Händen. Sie litt unter schwerstem Rheuma. Irgendwann hatte ihr Immunsystem begonnen, ihren Körper anzugreifen, speziell die Gelenkinnenhaut der Finger. Die Hände schmerzten und wurden...