Als Josephine Baker im Bett meiner Großmutter lag
»Junger Freund, Sie haben eine unwahrscheinliche Fähigkeit, überflüssig zu wirken.« Mit diesen Worten platzte Ulrich Kienzle in mein Leben – selbstbewusst, borniert, ein faszinierender Macho. Und der Kommilitone, der neben mir stand, drehte sich widerspruchslos um und verließ kleinlaut die Tübinger Uni-Bibliothek. Das war die Eröffnungsszene einer Liebe, die bis heute andauert.
Einundzwanzig Jahre vorher war ich in Stuttgart geboren worden. Ich war eine Frühgeburt. So verschrumpelt und klein, dass ich meiner Mutter erst gezeigt wurde, als sie wieder bei Kräften war, damit sie den Schreck besser verkraften konnte. Meine ersten sechs Wochen auf dieser Welt verbrachte ich im Krankenhaus. Und als mich die Ärzte so weit hochgepäppelt hatten, dass ich nach Hause durfte, wurde eine Kinderfrau angestellt, die ein Jahr bei uns wohnen und mich pflegen sollte. Es war Sommer. 1939.
Meine Mutter stammte aus dem kleinen Dorf Weiler, im Süden Deutschlands, nicht weit entfernt vom Bodensee. In der hügeligen Landschaft des Allgäus war sie aufgewachsen, mit viel Wald und unendlichen Wiesen. Einer ihrer Lieblingsplätze war die Hausbachklamm, oberhalb des Dorfes. Eine wilde, felsige Gebirgsschlucht, wo das Wasser gurgelnd zwischen großen Felsblöcken ins Tal schoss und, unten angekommen, als Hausbach gemächlich an der Straße entlang plätscherte, an der Kirche vorbei, überquert von kleinen Brücken. Nur bei Hochwasser wurde daraus ein reißender Fluss.
Als junge Frau war sie, um eine Lehre als Verkäuferin zu machen, in die Landeshauptstadt gezogen. In Stuttgart verliebte sie sich in einen gut aussehenden, groß gewachsenen, blonden jungen Mann: Ernst Finkelmann. Bei einem Faschingsball hatten sich die beiden kennengelernt, er war Diplomingenieur, in Hannover hatte er studiert und bei Bosch arbeitete er in der Forschungsabteilung für Autoteile. Zwei Welten waren da aufeinandergetroffen. Meine Mutter war im Allgäu streng katholisch aufgewachsen und tief gläubig. Ernst stammte aus Bremerhaven und war als waschechter Norddeutscher: Protestant.
Und das war das Problem. Er machte der Allgäuerin zur Bedingung: »Wenn du mich heiraten willst, müssen unsere Kinder evangelisch werden.« Die Heirat mit einem Protestanten hätte für meine Mutter aber bedeutet, dass sie exkommuniziert werden würde, spätestens, wenn Kinder kämen.
Dann aber schickte die Firma Bosch den jungen Ingenieur für längere Zeit nach Birmingham. England. Sehr weit weg. Und aus war der Traum von der Hochzeit. Erst nach zwei Jahren kam er wieder zurück nach Stuttgart – und Ernst und meine Mutter fielen sich in die Arme. »Die schlimmste Zeit in meinem Leben war nicht der Krieg«, sagte sie später einmal, als ich schon erwachsen war. »Auch nicht die lange Warterei, als Vati in England war. Die schlimmste Zeit waren die Tage vor der Hochzeit. Als ich mich prüfen musste, ob meine Liebe stark genug war. Konnte ich damit leben, aus der Kirche gewiesen zu werden?«
Hochzeit wurde gefeiert, und ein Jahr später kam ich zur Welt. Etwas zu früh, wie gesagt. Und dieses Ungestüme, dieser Drang hinaus ins Leben, ist mir bis heute, mit meinen fünfundsiebzig Jahren, geblieben.
* * *
Meine frühesten Erinnerungen sind Luftangriffe auf Stuttgart, wie wir zum Bunker rannten, am Ende unserer Straße. Noch heute höre ich das Dröhnen der Flugzeuge, die Explosionen der Bomben, und ich spüre die Angst meiner Mutter, wie sie geweint hat, wenn mein Vater die Bunkertür öffnete, um nachzusehen, wie es draußen aussah.
Eine Szene ist mir wie in einem Film im Gedächtnis geblieben: Meine Puppe fest im Arm, auf dem Rücksitz kniend, drücke ich mir die Nase an der Autoscheibe platt. Mein Vater sitzt am Steuer. Langsam fahren wir durch unsere Straße. Überall brennt es. Das Haus unseres Metzgers gleich um die Ecke steht in Flammen. Der Hund, mit dem ich so gern spiele, versucht immer wieder, hineinzurennen. Er bellt, läuft aufgeregt am Haus entlang. Bleibt am Eingang stehen, rennt hinein. »Wir müssen anhalten!«, schreie ich. »Wir müssen den Hund festhalten!« Aber das Auto fährt weiter.
Damals war ich vier Jahre alt. Meine Eltern beschlossen, dass meine Mutter und ich zu meiner Großmutter ins Allgäu ziehen sollten. Zum ersten Mal stand ich am Stuttgarter Hauptbahnhof. Überall Menschen mit Rucksäcken und abgeschabten Koffern, Verletzte. Ein Zug Richtung Allgäu brachte uns aus der brennenden Stadt. In Ulm mussten wir aussteigen und auf den Anschlusszug warten. Es wurde Nacht. Das Bahnhofsdach war teilweise zerstört. Durch die Löcher konnte man den sternenklaren Himmel sehen, viele strahlend helle Lichter schienen sich zu lösen und zur Erde herabzuregnen – so ein Himmelsfeuerwerk hatte ich noch nie gesehen. »Sternschnuppen«, sagte meine Mutter. »Du darfst dir jetzt etwas wünschen.« Heute weiß ich, dass die vielen Lichter Bomben und Leuchtraketen waren. Damals aber waren es für mich Sternschnuppen. Und sie kamen mir gelegen, denn ich wünschte mir von Herzen eine neue Puppe.
So landete ich im Allgäu. Meine Großmutter lebte, schräg gegenüber der Kirche, gemeinsam mit ihrer Schwester im größten Bauernhof des Dorfes, in einer großzügigen Mietwohnung im ersten Stock. Meine Großtante war taub. Als Kind hatte sie an einer Mittelohrentzündung gelitten, die nicht richtig behandelt worden war; das lag lange zurück, aber es hatte das Leben der beiden alten Frauen bestimmt. Meine Großtante hatte nie geheiratet und meine Großmutter, bei der sie wohnte, kümmerte sich ihr ganzes Leben lang um sie. Meine Großmutter war eine gutmütige und hilfsbereite Frau, groß und stattlich, mit vollem, schneeweißem Haar, das sie immer mit Kämmen hochgesteckt trug. Ich kann mich nicht daran erinnern, sie jemals wütend erlebt zu haben. Doch: einmal – aber das erzähle ich später.
Meine Mutter und ich zogen also zu den beiden Frauen. Ein Frauenhaus. Mein Vater blieb in Stuttgart. Als leitender Ingenieur in der Forschungsabteilung von Bosch wurde er nicht zur Wehrmacht eingezogen. Zu seinen Aufgaben gehörte es, neu entwickelte Fahrzeuge auf ihre Alltagstauglichkeit zu testen und so war es für ihn ein Leichtes, uns Wochenende für Wochenende mit dem Motorrad oder mit dem Auto zu besuchen.
Vor jedem Essen wurde jetzt gebetet. Meine Großmutter und ihre Schwester waren streng katholisch, jeden Morgen um sechs Uhr ging die Großtante zur Frühmette. In ihrem Zimmer hatte sie eine große, alte Kommode mit vier Schubladen. Bei einer war das alte Holz verzogen und so stand sie immer ein Stückchen offen und ich konnte hineinschauen. Unmengen von Heiligenbildchen lagen darin, säuberlich sortiert – für jeden Tag hatte die Großtante einen anderen Heiligen. An Antonius erinnere ich mich besonders gut. Meine Mutter sagte immer: »Der Heilige Antonius hilft, wenn man etwas Wichtiges verloren hat.« Antonius wurde mein Leib-und-Seelen-Heiliger. In der kleinen Kapelle neben der großen Kirche am Friedhof habe ich oft zum ihm gebetet. Weniger freundschaftlich, aber nicht minder eng, war mein Verhältnis zum Teufel. Er bedrohte jetzt plötzlich mein Leben. »Dann holt dich der Teufel!« Eine Erwachsenenfloskel, einfach dahergeschwätzt. Für mich war er real. Vor ihm hatte ich eine Heidenangst. Wenn ich im Keller Kohlen oder Kartoffeln holen musste, rannte ich die Treppen hinauf, so schnell ich konnte, immer in der Angst, der Teufel sei hinter mir her. Antonius und der Teufel waren die beiden Gegenpole meiner kleinen Allgäuer Welt.
Mein größter Wunsch war damals, katholisch zu sein wie alle anderen auch, denn ich war die einzige Evangelische. Auch in den umliegenden Dörfern gab es keine Protestanten und als ich in die Grundschule kam, verhöhnten mich die Mitschüler als Ketzerin. Ich würde in die Hölle kommen, weil ich evangelisch war. Einmal war ich so verzweifelt, dass ich weglief und mich hinter dem Kriegerdenkmal im Dorf verkroch. Immerhin fiel meine Abwesenheit auf und sie suchten nach mir. In der Hausbachklamm stand eine kleine Kapelle. Über den Altar wachte eine Marienfigur in einem hellblauen, mit Sternen geschmückten Gewand. Zu Füßen der Madonna lagen Briefchen – von Menschen, die um Vergebung baten und darum, dass sie »verschont wurden von dem Bösen«. Auch ich lief regelmäßig zu dieser Kapelle und steckte meine Briefchen in den Tuffstein.
An Fronleichnam durfte ich trotzdem an der großen Prozession teilnehmen, dafür hatten die drei Frauen in meinem Haus schon gesorgt. Ein Höhepunkt des Jahres! Am Tag vor dem Umzug schmückten wir das Pflaster vor den Häusern im Dorf mit riesigen bunten Blütenteppichen, mit Heiligenbildern ganz aus Blumen. Dann zog die festliche Prozession durch die Straßen, wir Kinder vorneweg, mit Blumenkörbchen in den Händen und Blumenkränzchen auf dem Kopf.
Da meine Mutter im Dorf aufgewachsen war, gehörten wir von Anfang an dazu – sie kannte jeden. Im Erdgeschoss unseres Hauses lebte die Bauernfamilie und bewirtschaftete den Hof. Über uns, im Dachgeschoss, wohnte eine Uhrmacherfamilie mit zwei Söhnen in meinem Alter. Die Post Brauerei Zinth, die auch ein Restaurant betrieb, lag gleich hinter unserem Haus. Nicht weit entfernt standen die Gebäude einer Druckerei, zu der auch eine Buchhandlung gehörte – und ein Mädchen, das zu meiner besten Freundin wurde.
Gemeinsam fuhren wir mit den Bauern im Sommer aufs Feld. Manche jungen Frauen hatten ihre Babys dabei und während der Arbeit wurden die Kleinen unter einen der großen Bäume gelegt – auch meine kleine Schwester Elke, die mittlerweile geboren worden war. Zu den Vesperpausen saßen alle dort im Schatten, aßen ihre mitgebrachten Wurst- und Käsebrote und tranken Most....