Anfänge
I
Dieses Buch handelt von einem Interesse und einer Idee. Ich interessiere mich schon lange für die menschlichen Affekte – die Welt der Emotionen und Gefühle – und erforsche sie seit vielen Jahren. Warum und wie spüren und fühlen wir? Wie konstruieren wir mithilfe der Gefühle unser Selbst? Wie unterstützen oder untergraben Gefühle unsere besten Absichten, warum und wie interagiert dabei das Gehirn mit dem Körper? Zu all diesen Themen kann ich neue Fakten und Interpretationen beisteuern.
Was die Idee angeht, so ist sie sehr einfach: Den Gefühlen wird nicht die Bedeutung zugeschrieben, die sie als Motive, Begleiter und Vermittler der kulturellen Unternehmungen des Menschen tatsächlich haben. Menschen erschaffen im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen eine spektakuläre Vielfalt an Gegenständen, Handlungsweisen und Ideen, die zusammenfassend als Kultur bezeichnet werden. Dazu gehören Kunst, Philosophieren, Moralsysteme und religiöser Glaube, Ideen von Gerechtigkeit, Regierungshandeln, wirtschaftliche Institutionen, Technologie und Wissenschaft. Warum und wie nahm dieser ganze Prozess seinen Anfang? Als Antwort auf diese Frage wird häufig auf eine wichtige Fähigkeit des menschlichen Geistes – die verbale Sprache – und andere charakteristische Merkmale verwiesen, etwa das stark ausgeprägte Sozialverhalten und der überlegene Intellekt. Diejenigen, die der Biologie zuneigen, erwähnen auch die natürliche Selektion auf der Ebene der Gene.
Ich habe zwar keinen Zweifel daran, dass Intellekt, Geselligkeit und Sprache für die Entwicklung eine Schlüsselrolle gespielt haben, und es versteht sich von selbst, dass die Organismen, die zu kulturellen Schöpfungen fähig sind, zusammen mit den spezifischen Fähigkeiten, die dabei zutage treten, im Menschen aufgrund natürlicher Selektion und genetischer Übertragung vorhanden sind. Die Idee ist, dass aber noch etwas anderes hinzukommen musste, damit die Geschichte der menschlichen Kulturen ihren Anfang nehmen konnte. Dieses andere war ein Motiv. Damit meine ich vor allem Gefühle, von Schmerz und Leiden bis hin zu Wohlbefinden und Freude.
Deutlich wird das am Beispiel der Medizin, einer unserer wichtigsten kulturellen Errungenschaften. Die Verbindung in der Medizin von Wissenschaft mit Technik war ursprünglich eine Reaktion auf die Schmerzen und Leiden, die durch Krankheiten aller Art verursacht werden, von körperlichen Verletzungen und Infektionen bis hin zu Krebs. Demgegenüber stand das Gegenteil von Schmerzen: Wohlbefinden, Freude und die Aussicht auf gutes Gedeihen. Die Medizin begann keineswegs als intellektueller Zeitvertreib, mit dem man die eigene Klugheit an einem diagnostischen Rätsel oder einem physiologischen Mysterium trainieren wollte. Sie erwuchs vielmehr als Konsequenz aus ganz bestimmten Gefühlen der Patienten und Gefühlen der ersten Ärzte, nicht zuletzt aus dem Mitgefühl, das aus Empathie geboren wird. Diese Motive sind bis heute erhalten geblieben. Es wird keinem Leser verborgen geblieben sein, dass sich Zahnarztbesuche und chirurgische Eingriffe zu unseren Lebzeiten zum Besseren verändert haben. Diese Verbesserungen, wie etwa wirksame Anästhesie oder präzise Instrumente, haben vor allem mit dem Management von unangenehmen Gefühlen zu tun. Ingenieure und Wissenschaftler hatten daran ihren Anteil, aber es steckt auch ein Motiv dahinter. Das Profitstreben der Medikamenten- und Geräteindustrie als Motiv ist ebenso wichtig, denn die Leute haben das Bedürfnis, Leiden zu mindern, und die Industrie reagiert darauf. Das Profitstreben ist seinerseits von verschiedenen Bedürfnissen getrieben, die nichts anderes sind als Gefühle – etwa das Streben nach Fortschritt und Ansehen, aber auch pure Habgier. Die enormen Anstrengungen zur Entwicklung von Therapieverfahren für Krebs oder für die Alzheimer-Krankheit kann man unmöglich verstehen, wenn man nicht Gefühle als Motive, Begleiter und Vermittler des ganzen Prozesses berücksichtigt. Auch warum die westliche Kultur etwa bei der Heilung von Malaria in Afrika oder dem Umgang mit der Drogensucht in den meisten anderen Regionen so viel weniger Leidenschaft zeigt, versteht man nicht, wenn man nicht das jeweilige Geflecht der Gefühle zur Kenntnis nimmt, das diese Handlungen begünstigt oder behindert. Sprache, Sozialverhalten, Wissen und Vernunft sind die Erfinder und zugleich die Exekutoren dieser komplizierten Prozesse. Aber eigentlich werden sie angetrieben von Gefühlen, die wiederum so lange erhalten bleiben, bis die Resultate überprüft sind und nötige Anpassungen vorgenommen werden.
Im Wesentlichen lautet der Grundgedanke: Kulturelle Tätigkeit hat ihren Ausgangspunkt im Affekt und bleibt tief in ihm verwurzelt. Wenn wir die Konflikte und Widersprüche in der Natur des Menschen begreifen wollen, müssen wir das vorteilhafte und nachteilige Wechselspiel zwischen Gefühlen und Vernunft verstehen lernen.
II
Wie konnten Menschen gleichzeitig zu Leidenden, Bettelmönchen, Priestern der Freude und Menschenfreunden werden, zu Künstlern und Wissenschaftlern, Heiligen und Verbrechern, wohlwollenden Herrschern über die Erde und Ungeheuern mit dem Drang, sie zu zerstören? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir natürlich die Beiträge von Historikern und Soziologen, aber auch die von Künstlern, die mit ihrer Sensibilität sehr häufig intuitiv die verborgenen Gesetzmäßigkeiten im Drama der Menschheit erfassen; außerdem brauchen wir die Erkenntnisse verschiedener Teilgebiete der Biologie.
Als ich der Frage nachging, wie Gefühle nicht nur den ersten Schub von Kultur in Gang setzten, sondern auch zu einem integralen Bestandteil ihrer weiteren Entwicklung wurden, suchte ich nach einem Weg, um das Leben der Menschen, wie wir es heute kennen – ein Leben, das mit Geist, Gefühl, Bewusstsein, Gedächtnis, Sprache, komplexen Sozialbeziehungen und kreativer Intelligenz versehen ist –, mit dem Leben der Frühzeit vor bis zu 3,8 Milliarden Jahren in Verbindung zu bringen. Um den Zusammenhang herzustellen, musste ich für die Entwicklung und das Auftreten dieser entscheidenden Fähigkeiten in der langen Geschichte der Evolution eine Reihenfolge und einen zeitlichen Ablauf bestimmen.
Die von mir beschriebene tatsächliche Reihenfolge, in der biologische Strukturen und Fähigkeiten zutage traten, läuft der herkömmlichen Auffassung zuwider. Denn in der Geschichte des Lebendigen richten sich die Ereignisse nicht nach den hergebrachten Vorstellungen, die wir Menschen uns vom Aufbau dieses wunderbaren Instruments gemacht haben, das ich den kulturellen Geist nenne.
Als ich mir vornahm, eine Geschichte über die Substanz und die Folgen menschlicher Gefühle zu schreiben, kam ich zu der Erkenntnis, dass unsere Gedanken über Geist und Kultur nicht im Einklang mit der biologischen Realität stehen. Wenn ein Lebewesen sich in einem sozialen Umfeld intelligent und einnehmend verhält, nehmen wir an, dass dieses Verhalten aus Weitblick, Berechnung, enormer Komplexität und der Mithilfe eines Nervensystems resultiert. Heute ist aber klar: Solche Verhaltensweisen konnten schon der nackten, sparsamen Ausrüstung einer einzelnen Zelle – eines Bakteriums – entspringen, als sich die Biosphäre gerade zu formen begann.
Wir können uns dafür eine Erklärung ausmalen, die ansatzweise auch Befunde einschließt, die der Intuition widersprechen. Diese Erklärung stützt sich auf die Mechanismen des Lebens als solches und auf die Bedingungen für seine Regulation, das heißt auf eine ganze Reihe von Phänomenen, die in der Regel mit einem einzigen Sammelbegriff als Homöostase bezeichnet werden. Gefühle sind der mentale Ausdruck von Homöostase, und Homöostase, die unter der Decke der Gefühle aktiv wird, ist der Faden, der, was die Funktion angeht, die frühen Lebensformen mit der außergewöhnlichen Partnerschaft von Körper und Nervensystem verbindet. Diese Partnerschaft ist die Ursache für die Entstehung eines bewussten, fühlenden Geistes, der seinerseits die charakteristischen Aspekte des Menschseins prägt: Kultur und Zivilisation. Gefühle stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Buches, aber ihre Kraft beziehen sie aus der Homöostase.
Indem wir die Kulturen mit Gefühlen und Homöostase in einen Zusammenhang bringen, stärken wir ihre Verbindung zur Natur und vertiefen die menschlichen Aspekte des kulturellen Prozesses. Gefühle und der kreative kulturelle Geist sind durch einen langen Prozess verbunden, in dem die genetische Selektion, die von Homöostase gelenkt wurde, eine herausragende Rolle spielte. Indem wir Kulturen mit Gefühlen, Homöostase und Genetik in Verbindung bringen, sorgen wir dafür, dass sich kulturelle Ideen, Praktiken und Objekte vom eigentlichen Lebensprozess nicht noch weiter ablösen.
Es sollte auf der Hand liegen, dass die vor mir hergestellten Zusammenhänge nicht die historische Eigenständigkeit kultureller Phänomene vermindern. Weder reduziere ich kulturelle Phänomene auf ihre biologischen Wurzeln noch versuche ich, den kulturellen Prozess in allen seinen Aspekten naturwissenschaftlich zu erklären. Naturwissenschaft allein kann das menschliche Erleben in seiner Gesamtheit nicht erhellen, wenn nicht das Licht aus Kunst und Geisteswissenschaft hinzukommt.
Diskussionen über die Entstehung von Kulturen quälen sich häufig mit zwei widersprüchlichen Überlegungen herum: Nach der einen erwächst das Verhalten der Menschen aus autonomen kulturellen Phänomenen, in der anderen ist es die Folge der natürlichen Selektion, wie sie von den Genen übermittelt wird. Es besteht aber keine Notwendigkeit, die eine Erklärung gegenüber der anderen zu bevorzugen. Menschliches Verhalten erwächst – in unterschiedlichen Stärkeverhältnissen und...