Eindringendes Licht
Aus einem Raum jede Spur von Licht zu verbannen ist unglaublich schwierig.
Als Erstes hänge ich Verdunkelungsvorhänge auf. Sie bestehen aus schwerem plastikartigem Material, das nicht schwarz ist, sondern seltsam fleischfarben wie manche Magnolienblüten. Doch das Licht verschafft sich mühelos Zutritt, schlüpft durch die Lücke zwischen Gardinenstange und Wand und auch durch die Vorhangfalten unten am Boden.
Dann bringe ich ein Verdunkelungsrollo direkt am Fenster an. Das Licht kriecht immer noch an den Seiten herein und windet sich durch den Spalt ganz oben.
Deshalb nehme ich die Fensterscheiben in Angriff. Hole mir Alufolie aus der Küche, streiche die abgeschnittenen Bahnen an der Scheibe glatt, befestige sie mit Klebeband am Fensterrahmen. Doch die Folie schlägt Falten und reißt, so dass am Rand und in der Mitte Lücken entstehen. Ich klebe und klebe und klebe, Bahn über Bahn, Schicht über Schicht, Streifen über Streifen. Statt eines abgedichteten Fensters bekomme ich eine abstruse Kunstinstallation, aber ich darf nicht aufgeben. Das Licht verhöhnt mich, trickst mich aus, taucht ab, um mir vorzugaukeln, dass ich es endgültig ausgesperrt habe – nur um sich kurz darauf durch ein übersehenes Löchlein wieder hereinzuschlängeln. Der grelle Tag dort draußen attackiert die bergenden Mauern meines Hauses wie ein wogendes Meer; ich muss den löchrigen Deich abdichten, wenn ich auf Dauer geschützt sein will.
Irgendwann habe ich das Gefühl, genug getan zu haben. Ich lasse das Rollo vor dem chaotischen Klebepatchwork herunter, ziehe die Vorhänge zu, verschließe zusätzlich den Spalt unter der Zimmertür mit einem aufgerollten Handtuch. Dann setze ich mich aufs Bett, warte ab, bis meine Augen sich anpassen.
Ich habe es geschafft. Ich habe es tatsächlich geschafft. Ich bin umgeben von absoluter Dunkelheit.
Unendlich erschöpft und erleichtert lege ich mich nieder in meinem schwarzen Kasten, dem neuen Behältnis meines Lebens.
Haus
Das Haus mit dem abgedunkelten Zimmer ist nicht groß – ein roter Backsteinquader mit Ziegeldach, aus den 80er-Jahren. Im Erdgeschoss sind Flur, Toilette, Wohnzimmer und Küche, im ersten Stock drei kleine Zimmer und das Bad. Die Garage verbindet das Haus mit seinem identischen Abbild nebenan.
Vom Vorgarten aus betrachtet liegt mein schwarzes Zimmer auf der rechten Hausseite. Als einziges unter seinen Artgenossen hat mein Haus ein geschlossenes Auge; und in diesem dunklen Augapfel weilt eine bleiche junge Frau.
Wenn ich aus dem Zimmer trete, befinden sich rechter Hand drei Türen, die immer geschlossen gehalten werden. Die Treppe nach unten führt in eine Art Schattenreich, denn die Haustür ist mit einem Vorhang verhängt. Vorsichtig setze ich auf den Stufen einen Fuß vor den anderen, halte mich am Geländer fest, um nicht zu stürzen.
Ich gehe ins Wohnzimmer. Die Vorhänge sind zugezogen, aber da sie aus gewöhnlichen Stoffen bestehen, wird es hier nicht vollkommen dunkel. Im spärlichen Licht gleichen Couch und Sessel ruhenden Elefanten. Die Bilder an der Wand bleiben unsichtbar, nur die Metallrahmen glitzern eigenartig. Rücken und Armlehnen der Stühle am Esstisch bilden ein Geflecht aus horizontalen und vertikalen Linien. In der Ecke erhebt eine Stehlampe bedrohlich ihr gewaltiges Haupt.
Ich gehe in die Küche und lege an Tempo zu. Obwohl die geschlossenen Jalousien das Tageslicht filtern, ist dieser Raum der hellste im ganzen Haus. Ich schnappe mir den Wasserkocher, fülle ihn, stelle ihn auf die Basisstation und drücke rasch den Hebel nach unten. Wende mich zum Regal, nehme Henkelbecher und Teller heraus, greife mir aus einem anderen Regal den Teebeutel. Mit Teller, Messer und einer Packung Haferkekse eile ich ins schummrige Wohnzimmer, stelle die Sachen auf den Esstisch, horche, wann das Wasser zu brodeln beginnt. Als der Kocher mit einem Klicken ausgeht, sause ich in die Küche zurück, und, versiert und wendig wie eine Tänzerin, koche ich Tee, hole Käse aus dem Kühlschrank, ziehe mich mit beidem ins Wohnzimmer zurück.
Dann nehme ich am Esstisch zügig und konzentriert meine Mahlzeit zu mir.
Ich habe nur wenig Zeit. Der Countdown läuft, sobald ich mein dunkles Zimmer verlasse – meine Haut beginnt ihr bizarres Zwiegespräch mit dem Licht. Zu Anfang ist nur ein leises Flüstern zu hören, doch das wird schnell zu ungehaltenem Gemurmel. »Scher dich nicht drum!«, möchte ich schreien. »Antworte nicht, lass dich auf nichts ein!« Aber meine Haut plappert bereits lautstark, ein Streit bahnt sich an. Die Stimmung wird aggressiv; man sollte die Akteure dringend trennen. Ich bekomme weder Quaddeln noch Rötungen, sichtbare Spuren des Konflikts bleiben mir erspart. Doch ein unsichtbares Feuer versengt meine Haut, bis sie am ganzen Körper so höllisch brennt, als stünde sie in Flammen.
Ich trage sie zurück in meine Höhle; nur dort, in der Schwärze, kommt sie nach und nach wieder ins Gleichgewicht.
Untersuchungsbericht
… Die Haut der Patientin zeigt jetzt nicht nur in den unbedeckten Bereichen eine Reaktion, sondern auch unter der Kleidung tritt das extrem schmerzhafte Brennen am gesamten Körper auf …
Diagnose:
Der vorläufige Befund lautet: polymorphe Lichtdermatose. Diese hinreichend erforschte Erkrankung kann in seltenen Fällen in der oben beschriebenen Form auftreten und führt wie bei dieser Patientin dazu, dass sie sich keinerlei Lichtbestrahlung aussetzen kann.
Aktuelle Funktionsfähigkeit:
Die Lichtempfindlichkeit der Patientin ist so ausgeprägt, dass sie sämtliche natürlichen und künstlichen Lichtquellen meiden muss, was zu massiven Einschränkungen im täglichen Leben führt … 2006 kam es zu einer drastischen Verschlechterung ihres Zustands; sie musste sich damals mehrere Monate lang ausschließlich in einem komplett abgedunkelten Raum aufhalten.
Prognose:
Von der Erfahrung mit anderen Patienten und der vorliegenden Literatur zu dieser Form von Lichtdermatose ausgehend sind unterschiedliche Prognosen möglich; es gibt jedoch eine erhebliche Anzahl von Patienten, bei denen über einen längeren Zeitraum keine Verbesserung ihrer Symptomatik zu beobachten war …
Sprechende Bücher
Meine Ohren sind meine Pforte zur Welt. Ich horche in die Dunkelheit, höre mir Bücher an: Thriller, Detektivromane, Liebesgeschichten, Familiensagas, Schmachtfetzen, historische Romane, Geistergeschichten, Klassiker und Chick-Lit, Erotika und Sachbücher über Geschichte. Nicht wählerisch lausche ich guten und schlechten, großartigen und miserablen Büchern; Stunde um Stunde bringe ich mit ihnen im Dunklen zu, nehme sie in mich auf.
Meine Auswahl ist beliebig, hängt nur davon ab, was in der Bücherei gerade vorrätig ist. Die Titel vermerke ich alphabetisch auf einer Liste, damit meine Buchbotin mir nichts doppelt bringt. Doch von dieser Einschränkung abgesehen habe ich einen so hohen Konsum, dass ich es mir gar nicht erlauben kann, anspruchsvoll zu sein. Auf meiner Liste gibt es nur zwei – sehr unterschiedliche – »Verbote«: Ich will nichts von James Patterson und nichts von Miss Read. Auf die detailfreudigen Beschreibungen von Serienmorden kann ich gut und gerne verzichten, und die Schilderungen aus dem Leben einer Dorfschullehrerin finde ich derartig biestig und bieder, dass ich davon ganz übellaunig und hundemüde werde.
Alle anderen Autorinnen und Autoren dürfen nach Belieben über mich verfügen.
In meinem bisherigen Leben habe ich hastig gelesen, habe Seiten überflogen, mir einen schnellen Eindruck verschafft und mit skeptischem Blick rasch die wichtigen Stellen herausgesucht. Manchmal (das sollte ich gar nicht laut sagen) habe ich längere beschreibende Passagen sogar übersprungen. Jetzt dagegen bin ich eine Gefangene, muss jedes einzelne Wort verdauen. Ich lege mich hin, horche geduldig, wie die Handlung aufgebaut wird, Baustein um Baustein. Bereitwillig lasse ich mich auf die Verführung ein, denn was erwarte ich anderes von Schriftstellern als nachhaltige Ablenkung? Unterbrechungen verabscheue ich; mir graut vor der Erzählerstimme, die sagt: »Ende dieses Teils, Fortsetzung auf der nächsten CD.« Eilig taste ich dann nach der nächsten Scheibe, fummle sie aus der Plastikverankerung, drücke sie ins Gerät, haue rasch auf den Knopf. Ich bin eine Morphiumsüchtige, die sofort die nächste Spritze braucht, die Betäubung darf nicht nachlassen. Keine Lücken, schneller Wechsel; denn ich weiß, wie leicht in diesen kurzen Phasen der Stille die Verzweiflung wieder über mich hereinbricht.
Durch diese hemmungslose literarische Promiskuität habe ich einige erfreuliche Entdeckungen gemacht. Da ich mich nicht im Mindesten für Trabrennen und dergleichen interessiere, hätte ich garantiert niemals einen von Dick Francis’ Pferdekrimis gelesen. Doch als Gefährten in der Finsternis finde ich die angenehm spannend. In einem wird ein Jockey, der früher Wirtschaftsprüfer war, gekidnappt und ein paar Tage lang in einem Lieferwagen gefangen gehalten, nur mit einer Flasche Wasser und einer Packung Schmelzkäse; da meine Lage zweifellos nicht ganz so übel ist, finde ich das irgendwie tröstlich. Dick Francis’ Bücher feiern die Unverwüstlichkeit des Durchschnittsmenschen: Der Held zerbricht sich den Kopf, wie er aus dem Schlamassel wieder herauskommt, kriegt eins übergebraten, wird gefesselt und übel zugerichtet, überlebt aber immer.
Ich höre mir im Dunklen sowohl CDs als auch Kassetten an, bevorzuge aber Letztere, weil bei...