Eins. Annäherungen
Unsichtbares. Vom erhöhten Rand der Piazza del Campo in Siena hat man den besten Blick auf das von der Septemberwärme ermattete Touristentreiben. Doch auf einmal ist es mit der Beschaulichkeit vorbei.
»I must be connected!«
Die Stimme klingt so flehentlich, dass ich mich umdrehe. Vor einem der Cafés steht ein vielleicht dreißigjähriger Mann. Er wedelt mit seinem Smartphone vor einer Kellnerin mit bodenlanger Schürze hin und her.
»Wifi, you understand? Wifi. Urgent!«, ruft er mit französischem Akzent.
Die Kellnerin schüttelt den Kopf, woraufhin der Mann mit der freien Hand auf einen Aufkleber neben der Eingangstür deutet, der freies WLAN verspricht.
»No internet«, sagt die Kellnerin bestimmt und lässt ihn stehen. Er braucht ein paar Sekunden, um sich zu fassen. Dann sieht er sich hilfesuchend um. Unsere Blicke begegnen sich kurz, bevor er Richtung Dom davonstürzt. Ob er da eine bessere Verbindung ins Netz findet?
Vor mir sitzt eine deutsche Familie auf dem rostroten Pflaster. Der Vater hat sich vor ein paar Minuten verabschiedet, um sich »die Beine zu vertreten«. Die Mutter steht auf und stellt sich vor ihre drei Kinder wie eine übermotivierte Reiseleiterin. Diese sind dem Alter nach aufgereiht: links außen die Tochter um die achtzehn, rechts der jüngste Sohn, vielleicht zwölf, und dazwischen ein Jugendlicher mit tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe. Alle drei sind gleich schlecht gelaunt. Jeder Vorschlag der Mutter wird mit einem Kopfschütteln abgeschmettert. Also kein Dom, kein Rathausturm mit fantastischem Blick über die Stadt, nicht einmal Eis kann sie locken. Sichtlich sind sie an nichts anderem interessiert, als den Kulturausflug schnellstmöglich zu beenden.
»Lasst uns doch mal was gemeinsam machen«, bettelt sie. »Wenigstens im Urlaub.«
Synchrones Augenverdrehen, sonst keine Reaktion.
Schließlich steht die Tochter auf und verkündet: »Wir suchen Papa.«
Die beiden Jungs rappeln sich ebenfalls hoch und schlappen, vereint in stillem Protest, ihrer Schwester hinterher.
Die Mutter sieht ihnen nach. Das Lächeln zerfällt. Sie schluckt mehrfach, dann reißt sie sich zusammen. Man hört förmlich, wie sie sich das befiehlt. Ihre Enttäuschung ist schwer zu ertragen.
Aus einer der Gassen kommend steuert ein herrenloser Hund zielstrebig auf das Café ohne Internet zu. Er hat noch nicht einmal den ersten Tisch erreicht, da stürzt die Kellnerin heraus und vertreibt ihn, indem sie unwillig in die Hände klatscht. Der Hund läuft mit gesenktem Kopf weiter Richtung Palazzo Pubblico.
Sobald man nach ihr Ausschau hält, entdeckt man überall Einsamkeit. Bei Fremden sticht sie einem sofort ins Auge. Aber eigentlich handelt es sich dabei doch nur um Vermutungen und Unterstellungen. Was weiß ich schon von der Einsamkeit anderer?
Vielleicht habe ich auf der Piazza del Campo auch nur meine eigene wahrgenommen. Dabei könnte ich nicht einmal mit Sicherheit beantworten, ob ich gerade einsam bin oder mich nur einsam fühle – wenn überhaupt. Einsamkeit überfällt einen ebenso schnell, wie sie verschwindet. Wie jetzt, da die Freunde, mit denen ich nach Siena aufgebrochen bin, mit vollen Einkaufstüten um die Ecke biegen.
Vor meiner Abreise in die Toskana schwirrte eine Nachricht durch Facebook: Einsamkeit sei ungesünder als fünfzehn Zigaretten täglich, hieß es da. Einigen leuchtete das sofort ein. Eh klar, wurde kommentiert, der Mensch sei eben ein Herdentier. Sobald er isoliert werde, verwelke er wie eine Blume ohne Wasser. Der Nächste aber fand, dass man das nicht vergleichen könne. Und überhaupt, was habe Einsamkeit mit Nikotin zu tun? Der Dritte likte die Meldung, weil sie irgendwie witzig klingt, und hat sie eine Minute später garantiert vergessen.
Aufgebracht hatte die Nachricht die Wissenssendung eines Privatsenders, so googelte ich. Einen Beleg für die These lieferte sie nicht. Darum geht es auch nicht. Sie irgendwo aufgeschnappt zu haben, reicht als Beweis ihrer Gültigkeit. Irgendeine Studie wird das schon belegen, davon gibt es schließlich genug. Aber warum ausgerechnet fünfzehn Zigaretten?
Die Wahrheit entgleitet einem beim Herumsurfen und weicht einer Haltlosigkeit, die nur überwindbar ist, wenn man sie durch frische Nachrichten ersetzt. Das funktioniert störungsfrei bei allen Themen, die jeden angehen und zu denen deswegen auch jeder eine Meinung hat. Die dazu passenden Erkenntnisse müssen nur ausreichend pointiert sein und trotzdem diffus bleiben. Schon Andeutungen setzen die Kommunikation in Gang, wenn es um Geschlechtsunterschiede, das Glück, die Liebe oder das Abnehmen geht. Warum sollte Einsamkeit hier eine Ausnahme bilden? Nichts Genaues weiß man eh nicht – und bei Bedarf kann man ja im Netz weitersuchen …
Dabei fordert Einsamkeit vor allem eines: Zeit. – Sowohl, um sich auszubreiten, als auch, um sich ihrer bewusst zu werden. Hat sie einen jedoch erwischt, wuchert sie im Unbewussten weiter. Und selbst wenn man sich ihr stellt, wird man sie so schnell nicht los.
Deswegen schreibt sich ein Buch darüber nicht herunter wie ein Liebesroman, auf dessen Ende sogar der Autor gespannt ist. Alle drei Absätze hänge ich irgendwo fest. (Erst recht, wenn Freunde einen zum Oktoberfestbesuch überreden wollen.) Ein Gedanke widersetzt sich dem vorherigen. Ich drehe mich im Kreis und verheddere mich nur noch mehr. Die Widersprüche lösen sich nicht auf, sondern führen zu neuen. Das ist mühsam. Doch gerade deshalb bin ich wohl auf dem richtigen Weg. Das Leben ist voller unauflösbarer Widersprüche. Warum sollte es gerade mit der Einsamkeit anders sein?
In längst vergangenen Tagen war Einsamkeit offensichtlicher und klarer abzugrenzen. Und aus heutiger Sicht romantischer. Heute ist sie kleinteilig und geht im Geplapper unter. Man muss sehr genau achtgeben, um sie überhaupt zu bemerken. Auch weil sie tabuisiert wird wie kein anderes Lebensgefühl. Aus diesem Grund fällt es den von ihr Betroffenen zunehmend schwer festzustellen, ob sie überhaupt einsam sind. Denn auch die Möglichkeiten, unter Menschen einsam zu sein, haben zugenommen. Problemlos kann man mehrere Tage in einer Stadt verbringen ohne eine einzige wirkliche Begegnung. Die Anzahl sozialer Kontakte ist kein Kriterium mehr. Einsamkeit beschreibt heute eher den Eindruck, nicht gehört zu werden. Keine Verbindung aufbauen zu können, zu anderen wie zu sich selbst. Die Einsamen gehen nicht in der Stille unter, sondern im Lärm, im Dauerrauschen.
Wenn bislang auf Einsamkeit geblickt wurde, dann meist von möglichst weit weg. Und von Beobachtern, die nie über ihre eigene sprechen. Im Gegenteil, Wissenschaftler meinen, sich mit persönlichen Erfahrungen zu disqualifizieren. Doch je distanzierter man sie betrachtet, desto verschwommener wird die Einsamkeit auch. Wer sie in ihren vielen Erscheinungsformen beschreiben möchte, muss auch bereit sein, etwas von sich preiszugeben.
Das Sozialverhalten der Wanderratte, das ein Soziologe zur Erklärung menschlicher Einsamkeit bemüht hat, bringe ich nicht mit meinen Erfahrungen zusammen. Das mag hochnäsig sein, doch der Gegenstand verleitet dazu. Wahrscheinlich sprechen wir einfach von verschiedenen Dingen. Wissenschaftler reflektieren über ein gesellschaftliches Phänomen, ich über ein Gefühl. Einsamkeit trifft den Einzelnen elementar. Wenn ich einsam bin, fühle ich mich eben nicht als Teil einer großen Gruppe anderer Einsamer und möchte denen auf keinen Fall zugerechnet werden. Im Gegenteil, die anderen stoßen mich ab. Ich bin eine vereinzelte Wanderratte. Einsamkeit beweist mir meine Einzigartigkeit: Es ist meine Einsamkeit. Ich muss mich mit ihr herumschlagen.
Sie taugt nicht als Forschungsgegenstand. In der Kunst hingegen wird sie in all ihren Facetten beschrieben, bebildert und besungen. In Abertausenden Romanen, Filmen und Songs. Deren Schöpfer haben keine Berührungsängste. Und doch ist sie hier meist nur Mittel zum Zweck, um die Gefühlslage einer Figur oder eine Atmosphäre zu beschreiben.
Ich höre lieber anderen zu, Passanten und Freunde sind meine Studienobjekte. Ein marktgängiger Experte wird man so nicht, aber das macht nichts.
Denn Einsamkeit ist fester Bestandteil jeder Existenz. Und alles, was zum Leben gehört, verdient einen zweiten Blick. Ohne Wertung, und ohne voreilige Schlüsse zu ziehen.
Wer Einsamkeit als eine manchmal leichte, manchmal schwere Krankheit begreift, vergleichbar exzessivem Nikotinkonsums, muss im Netz weiterklicken.
Eine Provokation. Das Sprechen über Einsamkeit gleicht vermintem Gelände. Darüber schlendert keiner gemütlich, vielmehr versuchen alle, es schweigend schnellstmöglich zu verlassen. Das Eingeständnis der eigenen Einsamkeit bringt kaum jemand über die Lippen. Wenn man sie anderen mitteilt, dann mit gepresster Stimme. Wie ein Hilferuf, nicht wie die Feststellung einer Tatsache. Dabei wird jeder zum Schauspieler.
Auch der Zuschauer ist ratlos, was soll man darauf anderes antworten als irgendeine billige Beschwichtigung? Entweder schweigt man also oder versucht, dem anderen dessen Einsamkeit einfach abzuerkennen. Als ob das Problem damit gelöst wäre, zu sagen: »Das stimmt doch gar nicht, du bist gar nicht einsam.« Wobei die von sich besonders Überzeugten noch eine Variation von »Du hast doch mich« hinzufügen.
Völlig ausgeschlossen ist, seinem Gegenüber, vielleicht sogar ungefragt, Einsamkeit zu unterstellen. Eine Aussage wie »Du bist einsam« ist strengstens verboten, nicht einmal »Du wirkst auf mich einsam« ist gestattet....