Theologie im Gespräch mit der Philosophie
Oder: Dem Glauben Vernunft eintreiben!
Magnus Striet
Angesichts der Grundtendenz dieser Überlegungen ist vorab eines klarzustellen: Es finden sich im Titel mehrere Begriffe, die alles andere als bescheiden sind.26 Dabei sollen diese Überlegungen dem, was man Glaube oder auch allgemein religiöse Überzeugung nennt, Bescheidenheit anmahnen. Eine solche Bescheidenheit wird dann angezeigt, wenn sich der Glaube der philosophischen Reflexion stellt. Verfällt man nicht einem am Ende vernunftunkritischen philosophischen Seinsgeraune, sondern reflektiert die Möglichkeiten, aber eben auch die Grenzen dessen, was vernünftig denkbar ist, so wird man – als das Ergebnis dieser philosophischen Reflexionen – eine Ausnüchterung allzu optimistischer Anwartschaften feststellen müssen, hinlänglich begründete Antwortmöglichkeiten gerade auf die Fragen geben zu können, welche die Vernunft belästigen – die jedenfalls die Vernunft dann belästigen, wenn sie auch nur einigermaßen wach und sensibilisiert auf das Menschengeschick schaut. Diese Ausnüchterungsgeschichte kann auch an der Theologie nicht spurlos vorübergehen, und sie ist auch an den philosophisch konzeptualisierten Theologien nicht spurlos vorübergegangen, jedenfalls solange diese nicht meinten, einen Kant auf dem Index nicht zu lesender Bücher belassen zu dürfen. Freilich muss das theologische Nachdenken über diesen Prozess vernunftkritischer Reflexion keineswegs in der Beliebigkeit enden, nein: Das Gegenteil ist der Fall, wie sich zeigen wird.
Bevor ich dies Schritt für Schritt nachweise, sei aber nochmals mit Nachdruck klargestellt, dass es – entgegen der Unterstellung im Titel – weder die Theologie noch die Philosophie, weder den Glauben noch die Vernunft gibt. Was es gibt, sind geschichtlich gewordene Konzepte von Theologie, Glaube und auch von Vernunft. Bezogen auf das, was Vernunft genannt wird, ist eine spätestens mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert sich zunehmend ausbreitende Skepsis zu beobachten, wie tauglich diese ist, abschließende Antworten auf die großen Menschheitsfragen zu geben. Ich komme darauf zurück, will hier nur auf einen Punkt verweisen: Erlernt wird, selbstkritisch auf die Begriffe und vor allem deren metaphysische Reichweite zu achten, in denen sich das Denken vollzieht. Nichts kann ausschließen, dass das, was sich selbst als wahr glaubt, die Möglichkeiten dessen, was Menschen mit Gewissheit zu sagen vermögen, übersteigt. Der Gottglaube, so wird das Ergebnis lauten, ist unter gegenwärtigen Denkbedingungen eine Option, und zwar eine, die keineswegs unvernünftig ist – aber: eine, der der entscheidende Kulminationspunkt fehlen könnte. Dieser wäre der tatsächlich existierende Gott, der nicht nur existiert, sondern auch noch dem Menschen den Gefallen tut, so zu existieren und für ihn da sein zu wollen, wie er ihn ersehnt. Und damit bin ich bei meiner ersten These.
1.
Religiöse Vorstellungen und Glaubenskonzepte fallen nicht vom Himmel, sondern sie entstehen, indem Menschen sie hervorbringen. Sie dürften damit limitiert sein, will sagen: Weil das menschliche Denksystem durch die Strukturen, in denen es sich vollzieht, begrenzt ist, ist auch das begrenzt, was es als System von Wissen etc. hervorzubringen vermag. Deshalb dürfte auch die Anzahl möglicher Religions- und Glaubensvarianten begrenzt sein. Kulturhistorisch signifikant ist aber, dass der Begriff eines Absoluten oder auch Gottes zum Standrepertoire menschlicher Begriffsbildung gehört. Der Mensch scheint ein religionspflichtiges, besser: ein unvermeidlich auf Religionsfragen zurückgeworfenes Tier zu sein. Die Frage ist nur: warum?
In der Götzen-Dämmerung hat Friedrich Nietzsche dies mit der ihm eigenen Sprachgewalt zu formulieren vermocht. „Ich fürchte“, heißt es dort, „wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben …“.27 Die Grammatik verlangt, dies hat Nietzsche immer wieder vermerkt, Subjekte zu setzen. Verben wie denken, laufen, selbst schlafen verlangen danach, ein Subjekt zu setzen, das denkt, läuft oder auch schläft. Das Denken, die Grammatik der Sprache verlangen nach einem Grund. So wird ein Ich gesetzt, das denkt etc. Aber nicht nur dies. Nietzsche war davon überzeugt, dass die durch die Sprache eingeübte Gewohnheit des Menschen, stets nach Gründen zu verlangen und diese auch zu setzen, vor allem aber die Welt so zu strukturieren, wie es der Sicht auf sich selbst entspricht, nämlich Subjekt seiner Vollzüge zu sein, erst metaphysische Fragen wie Warum ist überhaupt etwas und nicht viel mehr gar nichts? auslösen würde. Denke ich nicht ein Absolutes, einen nun seinerseits grundlosen Grund von allem, so verläuft sich das Denken in einen infiniten Regress, gewinnt keinen Halt mehr, was gerade dann, wenn es um durch existentielle Not provozierte Letztfragen geht, wenig befriedigend ist. Ich komme darauf zurück, verweise aber jetzt bereits darauf, dass das Ergebnis für diejenigen, die gerade deshalb nach Gewissheit verlangen, wenig erfüllend sein wird.
Doch zunächst zurück zu Nietzsche. Er war ein begnadeter Polemiker; wenn er wollte, so konnte er mit einer Schärfe vorgehen, die bis heute ihresgleichen sucht. Peter Sloterdijk bewegt sich auf ähnlicher Fallhöhe, was mich nicht verwundert: Sloterdijk ist bei Nietzsche in die Schule gegangen.28 Als ich Nietzsche zum ersten Mal intensiver las, fiel mir bereits auf, dass er gegen einen, der als einer der ganz Großen der Philosophie gilt und dessen Name bereits fiel, mit am heftigsten polemisierte: gegen Kant. Das katholische Lehramt hatte die Schriften Kants auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Bereits in der Phase der Aufklärungsphilosophie hat sich Kant den damals ehrenrührigen Titel des „Alles-Zermalmers“ (Moses Mendelssohn) eingehandelt. Warum dann aber die Polemik Nietzsches, der doch alles andere als ein Verteidiger der Inquisition, sondern Nichtgläubiger war?
Nietzsche hat genau gesehen, dass Kant hartnäckig am Gottesgedanken festhielt. Die Gewissheit Gottes – und für Kant ging es immer um den freien Gott – war Kant zwar abhanden gekommen. Und für die Frage, warum überhaupt soll ich moralisch sein, brauchte Kant Gott erst recht nicht. Das Gegenteil war der Fall. Entschieden wie danach kaum noch jemand, sieht man einmal von Figuren wie Albert Camus und Hannah Arendt ab, war für Kant sogar klar: Verlange ich nach Gott in der Frage, ob ich moralisch sein will oder nicht, so habe ich mich, moralisch betrachtet, bereits als nichtswürdig erwiesen. Moralität hat nichts mit formalem, möglicherweise sogar blindem Gehorsam zu tun. Es geht bei ihr um die innere Übereinstimmung mit dem, was als gesollt eingesehen ist und deshalb die Willensbestimmung leitet. Gott darf dann gerade keine Triebfeder sein. Oder aber das, was als Gottes Wille geglaubt wird, ist identisch mit dem, was ich selbst für geboten halte.29 Letzteres ist mithin entscheidend.
Aber Kant war eben auch Realist. Nicht nur, dass er genau sah, dass Menschen immer wieder faktisch anders handeln, als sie es für richtig erachten. Diese unheimliche Erfahrung begleitet das Menschsein; man kann sie auch als erniedrigend bezeichnen. Noch entscheidender ist, dass Kant sah, dass die Welt doch arg im Argen liegt. Welche Qualen Menschen zugefügt wurden und werden, konnte an einem für die Menschengeschicke Sensiblen wie Kant nicht spurlos vorübergehen. Er wusste zu gut, dass die Geschichte alles andere als gerecht vonstatten geht. Diese Erfahrung aber widerstreitet der Unbedingtheitserfahrung moralischen Sollens. Gerade denen, denen Entsetzliches geschah, gilt doch das menschliche Mitgefühl – und der Wille, dass ihnen Wiedergutmachung widerfahre. Selbst das Unmögliche kann gewollt werden, weil es der Unbedingtheit entspricht, mit der sich der Mensch in seinem Willen bestimmt. Ich kann mich folglich dazu bestimmen, keine Ungerechtigkeit akzeptieren zu wollen, selbst die nicht, die in der Vergangenheit liegt, und das bedeutet: Nichts hindert mich daran, einen Endzweck der Geschichte zu wollen, so dass gerade denen Gerechtigkeit widerfährt, die gelitten haben beziehungsweise die unter die Räder der Geschichte geraten sind, weil sie das Unrecht beim Namen nannten und sich dagegen stellten. Aber nichts vermag der Mensch hier noch aus sich selbst heraus, außer die Hoffnung zu pflegen, dass da noch einer sei, der Macht über alle menschlichen Möglichkeiten hinaus habe. Kant hat deshalb davon gesprochen, dass es „moralisch notwendig“ sei, „Gottes Dasein anzunehmen“.30
Und eben dies hat Nietzsche zu seiner Polemik provoziert. Er, Kant, wolle doch nur auf neuen Schleichwegen zu den alten Idealen,31 sprich: dem Gottglauben verleiten. Nietzsche hat damit präzise gesehen, was Kant wollte. Mit einem autoritären Kirchenglauben hatte Kant nichts zu tun, schließlich war ihm Freiheit das Höchste. Aber gerade weil er diese Freiheitsfaszination hatte und diese den Kristallisationspunkt seines Denkens bildete, wurde ihm angesichts der Realitäten der Menschheitsgeschichte Gott wieder zu einem notwendigen Postulat. Nietzsche hingegen suchte nach einem Weltbegriff, der den Menschen auf eine reine Akzeptanz des Daseins verpflichtete. Deshalb wurde ihm Kant zum entscheidenden Antipoden.
Ausschlaggebend ist damit die Frage, wie man sich angesichts der sich abzeichnenden Alternative entscheidet.32 Gibt es nicht Gründe dafür, sich, wie Kant es verlangt, doch an die Hoffnung auf einen Gott zu klammern, der noch Möglichkeiten über die menschlichen Möglichkeiten hinaus...