Vorwort
In den späten 1960er Jahren vollzog sich ein grundlegender Wandel in der Behandlung stationärer Patienten – die Abkehr von langen Krankenhausaufenthalten in großen, oftmals abgeschiedenen staatlichen Kliniken hin zu kurzen, wiederholten Aufenthalten auf kleinen Akutstationen kommunaler Krankenhäuser.
Diese Reform der stationären Psychiatrie sowie die großen Fortschritte der Psychopharmakologie, das Aufkommen der Krisentheorie, das schwindende Vertrauen in somatische Therapien und die Herausbildung neuer therapeutischer Berufe führten zu einer grundlegenden Veränderung von Charakter und Aufgaben der Akutpsychiatrie. Diese Veränderungen aber wurden meist nicht von entsprechenden Modifikationen der psychotherapeutischen Techniken begleitet. Insbesondere die Gruppentherapie schaffte es nicht, Schritt zu halten und sich den neuen klinischen Bedingungen anzupassen. In der Arbeit mit stationären Patienten benutzen Gruppentherapeuten nach wie vor strategische Ansätze, die zu einer anderen Zeit nach anderen Vorgaben entwickelt wurden.
In diesem Buch vertrete ich die Meinung, dass die Ausgangssituation auf der heutigen psychiatrischen Station eine völlig andere ist als jene der konventionellen Gruppentherapie und daher eine grundlegende Veränderung der herkömmlichen gruppentherapeutischen Techniken erfordert. Mein Ziel ist es, eine modifizierte Theorie der Gruppentherapie und ein strategisches und technisches Instrumentarium bereitzustellen, die den Anforderungen an die akutstationäre Versorgung von Patienten gerecht werden. Zielgruppe sind die Kliniker »an der Front« – jene stark belasteten Therapeuten, die ihre Gruppen inmitten des Tumults, der oft auf psychiatrischen Akutstationen herrscht, zu betreuen haben.
Es gibt große Unterschiede zwischen den einzelnen Stationen, doch eine typische moderne Station (von der Art, wie sie in diesem Buch vorausgesetzt wird) weist folgende Merkmale auf: Sie bietet Platz für etwa fünfzehn bis fünfunddreißig Patienten, die ein bis drei Wochen dort bleiben. Das Spektrum der psychischen Störungen ist groß: akute Psychosen, Borderlinestörungen (mit selbstschädigendem Verhalten oder akuter vorübergehender psychotischer Störung), Depressionen, Substanzmissbrauch, Essstörungen, alterspsychiatrische Syndrome, akute Krisen und Dekompensationen (oft mit suizidalem Verhalten) bei Personen mit vergleichsweise leichten Störungen. Die Station kann geschlossen oder offen sein. Zum Personal gehören Vertreter verschiedener Berufsgruppen (und häufig Studierende einiger oder aller dieser Fachrichtungen): Pflege, Psychiatrie, Sozialpädagogik, Beschäftigungstherapie, Klinische Psychologie, Freizeit- und Arbeitstherapie, Bewegungs-, Tanz-, Musik- und Kunsttherapie. Die Mitarbeiter ermöglichen ein breit gefächertes therapeutisches Angebot: medikamentöse Behandlung, Einzelpsychotherapie, Gruppen- und Familienpsychotherapien, Milieutherapie, Beschäftigungstherapie, Elektroschocktherapie. Über allem schwebt als mächtige und unsichtbare dritte Kraft die Geldfrage, die erschreckend großen Einfluss auf die Aufnahme- und Entlassungskriterien besitzt. Auf der Station geht es oft hektisch zu, die Fluktuation (sowohl von Patienten als auch von Mitarbeitern) ist hoch, die Spannung unter den Mitarbeitern groß, die Psychotherapie konzeptionslos.
Dieses Buch soll dem Gruppentherapeuten, der mit stationären Patienten arbeitet, im klinischen Alltag helfen. Für diesen Zweck habe ich aus allen verfügbaren Informationsquellen geschöpft: aus meiner Erfahrung (als Mitarbeiter stationärer Abteilungen und in den letzten drei Jahren als Leiter einer täglichen Therapiegruppe für stationäre Patienten), aus meiner klinischen Forschungsarbeit und aus der Literatur, die Erfahrungen im Krankenhaus beschreibt und wissenschaftlich aufarbeitet. Ich profitiere außerdem von Gesprächen, die ich über viele Jahre hinweg mit dem Krankenhauspersonal geführt habe, sowie von persönlichen Beobachtungen auf fünfundzwanzig Stationen, die ich zur Vorbereitung auf diese Arbeit besucht habe, um mit den Mitarbeitern zu sprechen und therapeutischen Gruppensitzungen beizuwohnen. Es handelte sich um Stationen in privaten, kommunalen und/oder Universitätskrankenhäusern. Sollten meine Beobachtungen von der üblichen Erfahrung abweichen, liegt das nicht zuletzt daran, dass ich an den bekanntesten und renommiertesten Krankenhäusern mit ihren hervorragenden Ausbildungsprogrammen und der großzügigen Personalausstattung war.
Psychiatrische Akutstationen von der Art, wie ich sie in diesem Text beschreibe, sind zwar typisch, keinesfalls aber die Regel. Die Welt der Krankenhauspsychiatrie ist groß, und es gibt vielerlei Einrichtungen, über die ich wenig weiß. Ich hoffe, dass Mitarbeiter solcher Einrichtungen (und dazu gehören auch Stationen für Kinder, Jugendliche oder alte Menschen, für Substanzmissbrauchsfälle, für chronische Patienten, für Patienten mit schweren Psychosen und für psychisch gestörte Straftäter) einige der Grundsätze und Techniken, die ich hier beschreibe, unmittelbar anwenden und andere ihren eigenen Erfordernissen anpassen können.
Psychotherapeuten, die ambulante Therapiegruppen leiten, handeln autonom: Ihre Fähigkeiten und ihre Entscheidungen bestimmen den Verlauf, die Vorgehensweise und die Resultate der Therapie. Für den Leiter der stationären Gruppe sieht das ganz anders aus. Psychiatrische Abteilungen bieten ein breites Spektrum an Therapien an, die sich oft überschneiden und um Patienten, Zeit, Personal, finanzielle Mittel sowie Fortbildungs- und Supervisionsmöglichkeiten konkurrieren. Folglich trifft für die stationäre Gruppe nicht der Gruppentherapeut, sondern die Verwaltung so wichtige Entscheidungen wie die über Häufigkeit und Dauer von Sitzungen, Größe, Zusammensetzung, Zuweisung von Kotherapeuten, Supervision, Teilnahmepflicht und so weiter.
Da das Schicksal der stationären Gruppe so stark vom äußeren Rahmen bestimmt wird und von administrativen Maßnahmen, die schon vor der eigentlichen Gruppensitzung greifen, ist dieses Buch entsprechend aufgebaut. Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit den Schnittstellen zwischen Station und kleiner Gruppe, in den anschließenden vier Kapiteln geht es um spezielle Strategien und Techniken für den therapeutischen Einsatz.
In Kapitel 1 gehe ich auf die derzeit übliche stationäre Praxis ein: die Rolle der Gruppentherapie, die Struktur von Gruppentherapieprogrammen, ihren Stellenwert, den Ablauf und die Häufigkeit von Sitzungen, die Leitung, die strategischen Ziele. Da auf manchen Stationen Unsicherheit darüber herrscht, wie viel Personal und Energie in die Gruppentherapie investiert werden soll, führe ich empirische und rational-humanistische Belege dafür an, wie erfolgreich Gruppentherapie sein kann. Eine ausführliche Dokumentation und Diskussion der Forschungsliteratur würde vom Ziel dieses Buches abweichen, einen Leitfaden für die klinische Praxis anzubieten. Aber akademische Gewohnheiten sind nur schwer auszurotten, daher habe ich mich doch entschlossen, einen Überblick über die wissenschaftliche Literatur anzufügen. Um nicht zu stumpfsinniger Lesearbeit zu ermuntern, blieben in der letzten Fassung nur noch die einschlägigsten Beiträge vom Rotstift verschont, detailliertere Arbeiten wurden in den Anhang verbannt.
In Kapitel 2 stelle ich verschiedene für die Arbeit mit stationären Patienten notwendige strukturelle Modifikationen vor. Nach einer kurzen Zusammenfassung der Grundregeln traditioneller Gruppentherapie beschreibe ich die Bedingungen der stationären Gruppenarbeit und die technischen und strukturellen Veränderungen, die durch dieses Umfeld notwendig werden – Veränderungen hinsichtlich von Ziel, Zusammensetzung, Häufigkeit und Dauer der Sitzungen, Vertrauensstruktur, Untergruppenbildung und Rolle des Therapeuten.
Die situationsbedingten strukturellen Modifikationen haben weitreichende Auswirkungen auf die Strategien und Techniken des Therapeuten – das ist das Thema von Kapitel 3 und 4. Manche Leser missverstehen den englischen Titel dieses Buches und lesen statt »inpatient«, also stationäre, »impatient group therapy«, also ungeduldige Gruppentherapie. Kapitel 3 zeigt, dass dieser Fehler gar nicht so abwegig ist: Ein langsamer, geduldiger, reflektierender, nondirektiver Therapieansatz ist in der stationären Arbeit nicht angebracht. Therapeuten stationärer Gruppen müssen einen kürzeren Zeitrahmen abstecken, aktiv und zielorientiert arbeiten und der Gruppe immer wieder deutlich und wirksam Struktur geben. Und Unterstützung, immer wieder Unterstützung: Jegliche stationäre Gruppenarbeit erfordert ein stützendes Fundament, und der Leiter muss eine Vielzahl von Techniken kennen, die zum Aufbau eines sicheren, vertrauensvollen Gruppenklimas beitragen.
In Kapitel 4 geht es darum, wie der Therapeut in der Gruppentherapie mit stationären Patienten das Hier und Jetzt einsetzt. Ich stelle das Grundprinzip des Hier und Jetzt vor, erläutere seine Bedeutung für alle experientialistischen Gruppenpsychotherapien und erörtere grundsätzliche Überlegungen, die das stationäre Umfeld erfordert. Viele Gruppentherapeuten vermeiden in stationären Gruppen die Arbeit im Hier und Jetzt, weil sie fälschlicherweise Interaktion mit Konfrontation oder Konflikt gleichsetzen. Kapitel 4 erläutert nachdrücklich, dass die Arbeit im Hier und Jetzt auch zutiefst verstörten Patienten Unterstützung, die Erfahrung von Kohäsion und Selbstbestätigung ermöglichen kann.
Die letzten beiden Kapitel stellen zwei spezielle Modelle für Gruppentherapiesitzungen vor – Kapitel 5 eine Gruppe für Patienten mit leichteren Störungen und Kapitel 6 eine Gruppe für psychotische Patienten mit schweren Störungen....