KAPITEL EINS
ABSCHIED
Das Leben schwindet. Langsam … und ich bekomme mit, wie es passiert. Sekunde um Sekunde. Die Wochen und Monate, aus denen qualvolle Jahre wurden, schwappen wie eine Woge über mich hinweg, und sowie sich mein Sehvermögen verschlechtert, wird es allmählich dunkel um mich. Ich kann immer noch die Wände des Badezimmers erkennen, in dem ich auf dem Boden liege. Ich bin in der Villa am Luganer See, in der ich zwölf Jahre gewohnt habe, doch es fühlt sich nicht real an.
Der Raum ist groß, doch irgendwie fühlt er sich jetzt sogar noch größer an, alles scheint zurückzuweichen, wirkt verschwommen. Es ist mir egal, das alles zu verlieren, obwohl es mir einmal so viel bedeutet hat. Wir haben es selbst geplant, gebaut und eingerichtet. Wir haben unsere Liebe und einen ganzen Haufen Geld und Schweiß in unser Traumhaus gesteckt. Ich versuche, mich zu bewegen, falle aber sofort wieder auf den Boden zurück, ohne den Schmerz wahrzunehmen. Dieses Badezimmer ist, wie alles andere in der Villa, luftig, licht, luxuriös und stilvoll eingerichtet. Es wirkte alles so elegant, so perfekt. Das Haus sollte unsere Zuflucht, unser Rückzug sein. Jetzt flimmert es und ist kaum zu erkennen, wie ein schlecht eingestelltes Fernsehbild.
Die Sonne strömt durchs Fenster herein, und auch wenn ich die Wärme nicht spüren kann, fühle ich mich gut. Ich habe mich sozusagen auf Watte gebettet, und so macht es nichts. Ich fühle mich sicher. Von nebenan dringt Radiomusik herüber, sie klingt verzerrt und gedämpft wie unter Wasser. Als Kind bin ich in der Wanne mit dem Kopf untergetaucht und habe gespürt, wie das warme Wasser wohlig über mich hinwegspült, während mir die undeutlichen Geräusche aus der Ferne ein behagliches Gefühl gaben.
Ich erkenne die Melodie. Celine Dion singt »A New Day Has Come«. Ich bin ihr schon oft begegnet, und ich denke an ihre Schönheit und diese unverwechselbare Stimme. Aus meiner eigenen musikalischen Laufbahn ist nichts Rechtes geworden, und jetzt ist es zu spät. Es ist seltsam, wie klar ich denken kann. Ich bin ein Vogel, der nicht mehr mit den Flügeln flattert, sondern sich im Gleitflug langsam sinken lässt. Mein Geruchssinn ist noch intakt. Der Geruch von vielen Zigaretten an diesem Tag, der säuerliche Nachgeschmack einer Flasche Jack Daniel’s, die leer neben dem Waschbecken auf dem Boden liegt. Mein Atem stinkt.
Wie lange liege ich jetzt schon so da? An der Sonne kann ich nicht erkennen, ob es noch Morgen oder schon Nachmittag ist. Ich weiß nicht einmal, welchen Tag wir haben. Wahrscheinlich ist es Schulzeit, vermute ich, weil ich keine Kinder höre. Wo ist mein Mann Raoul? Ich weiß es nicht. Es ist mir ehrlich gesagt auch egal. Es wird nicht mehr lange dauern.
Zwei Stockwerke weiter unten bereitet die Köchin etwas. Durchs offene Fenster dringen zusammen mit dem Vogelzwitschern die Geräusche des Gärtners herein. Noch schwächer sind die Laute von den Touristenbooten auf dem See zu hören, an den das Grundstück grenzt. Wir wohnen direkt außerhalb eines Dorfs, und ich meine, auch das Läuten der Glocken zu hören. Neben mir auf dem Boden steht das Glas, das ich mit Pillen aus dem Arzneischrank gefüllt habe. Es waren ungefähr fünfundzwanzig. Ich habe sie alle auf einmal geschluckt, fünf sind übrig geblieben. Die letzten sechs oder sieben waren allerdings nicht einfach; ich musste Wasser nehmen, um sie hinunterzuspülen. Es waren starke Schmerztabletten, die mir der Arzt gegen meine Rückenschmerzen verschrieben hatte – mit derselben Wirkung wie Valium.
Ich hatte die Pillen schon lange. Mein linkes Bein ist fünf Zentimeter länger als das rechte. Als junges Mädchen wurde bei mir Skoliose festgestellt, eine seltene Erkrankung, die fünf meiner Rückenwirbel betraf und mein Rückgrat s-förmig verkrümmte. Zwei Jahre lang musste ich ein orthopädisches Korsett tragen. Immer mal wieder wurde es so schlimm, dass ich mich vor Schmerzen nicht mehr rühren konnte und selbst das Atmen zur Qual wurde. Ich hatte das Gefühl, als lägen in meinem Rücken die Nervenenden frei und jemand zöge daran. Ich hatte diese starken Schmerzmittel für den Fall, dass es richtig schlimm wurde, immer griffbereit, und über die Jahre hatte ich gelernt, die Krankheit selbst zu beherrschen. Jetzt verwende ich dieselben Pillen, um meinem psychischen Schmerz ein Ende zu setzen.
Ich denke daran, wie sich die Erde weiterdreht und das Leben in der schönen Umgebung des Sees weitergeht. Von der Begeisterung, mit der ich dieses Zuhause gestaltet hatte, war nichts mehr geblieben, doch ich blieb, weil ich einen Pakt mit mir geschlossen hatte. Ich hatte mir geschworen, nicht wieder die Koffer zu packen, nur weil die Situation schwierig wurde. Ich würde durchhalten und wie meine Eltern in meiner Ehe Ordnung und Verlässlichkeit einkehren lassen. Ich war entschlossen, zusammen mit meinem Mann alt zu werden, egal, was es kostet. Hier würden wir unsere Familie gründen, und anfänglich war ich auch sehr glücklich gewesen, doch nach und nach, in einem schleichenden Prozess, war meine eigene Version vom Paradies zu einem Gefängnis geworden. Alles, was ich einmal geliebt hatte, hasste ich inzwischen.
Einer der ersten, die den Charme von Lugano für sich entdeckt hatten, war Charlie Chaplin. Auch einer meiner Lieblingsschriftsteller, Graham Greene, ist seiner Schönheit erlegen. Der Sänger Robert Palmer lebte und starb hier. Strawinsky und Tschaikowski haben im Schatten der Alpen an seinen Ufern komponiert. Es ist fast zu schön, eine Bilderbuchidylle, der fast jeder verfallen kann.
Unser eigenes Haus hatte einmal einem Baron gehört, der sich in den Zwanzigerjahren in den Casinos ruiniert hatte. Das Gebäude verfiel, bis Raoul und ich uns in das, was davon übrig geblieben war, verliebten und uns an die Arbeit machten. Wir waren an der Grenze zu Italien, wo ich viel mit dem Fernsehen arbeitete. Die Schweiz war bei Leuten mit hohem Einkommen beliebt, da sie sich mit dem Staat auf die Steuer, die sie zahlten, verständigen konnten – und Raoul stammte von hier. Er musste nach Hause zurückkehren, und Lugano erschien uns als ein geeigneter Ort, um unser Leben als Ehepaar zu beginnen. Die Paparazzi kamen nie bis hierher, und ich konnte dem Stress meines pflegeintensiven Lebensstils entfliehen. Hier fühlten wir uns geborgen. Wenn man wollte, konnte man splitternackt herumlaufen. Wir konnten wir selbst sein. Hier konnte ich meinen Traum ausleben, eine gewöhnliche Ehefrau und Mutter mit einer ganz normalen Familie zu sein: Endlich wäre ich wieder Gitte.
Es war mir nicht vergönnt. Ich hätte auf meine innere Stimme hören sollen, die mir zuschrie: Schnapp dir die Kinder und nichts wie weg hier, doch ich wollte mit aller Macht, dass es funktioniert, und verwandte mein ganzes Geld, meine ganze Energie darauf. Jetzt war alles verbraucht, und mir wurde klar, dass mir kein anderer Ausweg blieb.
Ich dachte zuerst, unsere Ehe sei genau das, was ich brauchte, doch jetzt kann ich mich nicht einmal erinnern, wann wir uns das letzte Mal geküsst haben. Seit über zwei Jahren haben wir keinen Sex mehr gehabt. Wir alle haben von Sekten gehört, die ihre Anhänger durch Gehirnwäsche dazu bringen, etwas zu tun, was sie normalerweise nicht tun würden, doch jetzt verstehe ich, was sich da abspielt. Ich ertrage nicht mehr, was aus mir geworden ist, und erkenne mich nicht mehr wieder. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nicht mehr die clevere, starke, unabhängige Gitte. Wo ist sie geblieben? Ich habe nicht mehr die Kraft – ich bin gebrochen. Sag mir einfach, was ich tun soll, und ich tu’s. Ich bin passiv. Ich bewege mich auf einer vom Alkohol angetriebenen Tretmühle – darum kreist jetzt mein ganzes Leben.
Jetzt bin ich mir sicher, was ich will: Ich weiß, dass ich das Richtige tue. Es erscheint mir nicht egoistisch, und ich denke auch nicht an die Kinder und erkenne nicht, dass ich Alkoholikerin geworden bin. Alles erscheint so logisch. Ich habe nicht die Kraft zu planen und zu organisieren, und so wird es keinen Abschiedsbrief geben, keine Anweisungen für die Beerdigungsfeier, keinen Gedanke daran, was mit meinen sterblichen Überresten werden soll, und der heutige Tag ist zum Sterben genauso gut wie jeder andere. Es hätte genauso gut gestern oder morgen sein können. Vielleicht hat es damit zu tun, wie die Sonne heute zu den Fenstern hereinscheint, oder mit dem fernen Hintergrundrauschen, das vom Dorf herüberdringt, oder mit den Geräuschen des Gärtners draußen. Ich kann es wirklich nicht sagen. Ich brauche einfach nur Frieden. Ich möchte ihn riechen, schmecken, fühlen.
Ich hatte daran gedacht, ins Wasser zu gehen, doch der Gedanke an das eiskalte Wasser hatte mich abgeschreckt. Außerdem hatte ich gehört, Ertrinken gehöre zu den schlimmsten Todesarten. Von den Pillen fühle ich mich einfach schläfrig, ein wenig, als ob ich schwebte. Das ist der Frieden, nach dem ich mich sehne. Ich drifte hinüber und wache nie wieder auf.
Ich bin ein bisschen enttäuscht, dass es noch nicht dazu gekommen ist – ich hätte gedacht, dass es schneller geht. Aber jetzt ist es allmählich so weit. Ich fühle mich wirklich entspannt und habe kein bisschen Angst. Zum ersten Mal seit Langem tut mir weder physisch noch seelisch etwas weh. Irgendwie scheint sich mir der Magen umzudrehen. Ich habe so viel geweint – es kommt mir so vor, als hätte ich seit Jahren jeden Tag geweint. Ich habe mich an diese unerträgliche Qual so gewöhnt, dass ich erst jetzt, als sie plötzlich nicht mehr da ist, merke, wie sehr ich gelitten habe.
Keine Lügen mehr, keine Schuldkomplexe, keine Gefühle. Die Welt verblasst ringsum und mit ihr auch dieses...