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E-Book

Im Mittelalter

Handbuch für Zeitreisende

AutorIan Mortimer
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783492966436
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Stellen Sie sich vor, Sie könnten in der Zeit reisen: Was würden Sie vorfinden, wenn Sie ins 14. Jahrhundert zurückgehen? Was würden Sie sehen, schmecken und hören? Wo würden Sie übernachten? Ian Mortimers große Erzählung über das mittelalterliche England eröffnet uns einen völlig neuen Weg zum Verständnis dieses so fernen wie fremden Zeitalters. Wir bekommen eine Idee davon, welche Vorstellungen die Menschen wirklich prägten, woran sie glaubten, welche Hoffnungen sie beflügelten und welche Ängste sie quälten. Uns wird bewusst, was es heißt, wenn dreißigjährige Frauen schon als »Winterfutter« gelten, erfahren, wie man Krankheiten nach dem Stand der Planeten behandelt und wie viel Spaß eine »Bärenhatz« machen kann - selbst wenn wir heutigen Menschen eine solche Jagd als grausam empfinden. Endlich ein Buch, das zeigt, dass Geschichte nicht nur studiert, sondern auch erlebt werden kann!

Ian Mortimer, geboren 1967 in Petts Wood (Kent), studierte Geschichte und Literatur in Exeter und London. Mittlerweile ist er einer der erfolgreichsten britischen Autoren über das Mittelalter, schreibt Sachbücher genauso wie historische Romane, und gilt in diesem Genre als einer der innovativsten Historiker weltweit. Ian Mortimer lebt mit seiner Frau und drei Kindern an der Grenze zum Dartmoor Nationalpark in der südwestenglischen Grafschaft Devon.

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Leseprobe
Vorwort zur deutschen Ausgabe   Wo beginnt sie, diese Reise zurück in die Vergangenheit? In meiner Jugend, so viel ist klar. Schon sehr früh hat man mir den Eindruck vermittelt, dass die Welt sehr viel mehr ist als das »Hier und Jetzt«. Vielleicht lag es an den Antiquitäten, die mich in den Häusern meiner Großeltern umgaben, jenen dunklen Mahagoni- und Eichentönen, die von einem vornehmeren Lebensstil kündeten, als ich ihn von meinem vorstädtischen Südlondoner Heim her kannte. Eher noch lag es wohl an den Geschichten, die mein Vater, seine Schwestern und ihre Eltern erzählten, wenn wir hin und wieder sonntags zusammen am Mittagstisch saßen. Wenn wir von »uns« sprachen, meinten wir eine jahrhundertealte Familie. Wir unterhielten uns darüber, was »wir« im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert getan hatten, als ob die Familie ein alteingesessenes Unter­nehmen wäre. Und eigentlich war sie das auch: Meine Vorfahren hatten zwischen 1773 und 1932 einen guten Teil des im Südwesten Englands verkauften Tuchs gereinigt und gefärbt. Vor ­allem aber hatte mein persönlicher Zugang zur Vergangenheit etwas mit meinem Namen zu tun: Mortimer. Es ist einer der bekanntesten Namen des englischen Mittelalters. Die Mortimers kamen kurz nach der normannischen Eroberung in den 1070er-Jahren nach England und stiegen schließlich im 15. Jahrhundert sogar bis zur Thronanwartschaft auf, konnten sich aber nicht durchsetzen. Auf dem Weg dorthin beteiligten sie sich an Revolten gegen den König und dann auch wieder an Missionen, um die Königsfamilie vor Rebellen zu schützen. Einer aus der Familie, Roger Mortimer, verführte die Königin, regierte vier Jahre lang zusammen mit ihr im Namen ihres Sohnes und wurde schließlich von ebenjenem Sohn als Verräter gehängt. Der Vater jenes Mortimer hatte die Soldaten angeführt, die 1282 den letzten unabhängigen Fürsten von Wales töteten. Ein weiteres Mitglied der Familie war zu seiner Zeit ein berühmter Meister im Lanzenstechen. Und diese Liste könnte man beliebig verlängern. Heute bin ich mir ganz sicher, dass sie nicht meine Vorfahren in direkter männlicher Linie sind, aber als Junge fühlte ich mich von ihren faszinierenden Lebensläufen persönlich angesprochen, als ob sie tatsächlich meine Urururgroßväter gewesen wären. Im Stillen dehnte ich jenes »wir« unserer Familie auf die letzten 900 Jahre aus. Und dabei fiel mir auf, dass »wir«, da im Allgemeinen auf der Verliererseite der Rebellionen stehend, von modernen Historikern gern die Schuld an allen negativen Aspekten der englischen Geschichte des Mittelalters zugeschoben bekamen. Instinktiv nahm ich eine Gegenposition ein und hinterfragte das Fundament historischer Autorität. Man könnte sagen, dass ich schon mit 13 ein Postmodernist war. Allerdings wollte ich mit meinen Fragen nicht nur einfach die herrschende historische Meinung umstürzen wie so viele kritische Denker der 1980er- und 1990er-Jahre; ich wollte mehr - ich wollte mich auf das wahre Leben dieser mittel­alter­lichen Menschen einlassen. Eine Begebenheit ist mir besonders in Erinnerung geblieben, und ich habe oft gesagt, dass sie der Beginn meines Nachdenkens über das Leben in der Vergangenheit war, das letztendlich zu Im Mittelalter führte. Als ich zehn oder elf Jahre alt war, besuchten meine leidgeprüften Eltern mit ihren Söhnen Grosmont Castle an der Grenze zwischen England und Wales. Es war die dritte mittelalterliche Burg, die ich an dem Tag zu sehen bekam, und ich war besonders gespannt darauf. An diesem abgelegenen Ort hatte Henry, der Herzog von Lancaster, Cousin von König Edward III. und der wohl größte Heerführer in vielen Schlachten des 14. Jahrhunderts, das Licht der Welt erblickt. Ich saß auf dem Weg dorthin auf dem Rücksitz, stellte mir die große Halle vor, das Feuer auf der Steinplatte in der Mitte, den Tisch auf dem Podium, überladen mit Fleisch für Lady Lancaster, den Priester neben ihr und die hochschwangere Dame, die sich langsam am Tisch niederlässt, während die Diener durch den mit Binsen ausgelegten Raum ­huschen. Doch dann war der hübsche, von Bäumen umstandene Platz ein echter Schock für mich. Ich hatte vergessen, dass die Burg eine Ruine, ein zerklüfteter Steinhaufen ist, der abgebro­chenen Zähnen in einem Kieferknochen ähnelt, offen den Natur­gewalten ausgeliefert. Ich lauschte dem Rauschen des Windes in den Blättern, wo ich doch kurz zuvor noch geglaubt hatte, ich würde Stimmen aus längst vergangener Zeit hören. Als ich dann um die Ruine herum­ging, ließ alles, was ich auf den Informationstafeln über die Menschen, die hier gelebt hatten, las, sie so tot wirken wie Schmetterlinge, die in Reihen in einem Schaukasten im Museum aufgespießt sind. In dem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Schmetterlinge sehen lebendig, herumflatternd am schönsten aus. Und auch die Vergangenheit wirkt lebendig am besten. Allzu oft wird sie als tot und begraben dargestellt, als ein Skelett und nicht als das Gesicht der Vorwelt, das die Menschen damals sahen, mit Gesichtszügen voller Angst und Freude. Trotz meiner jungen Jahre spürte ich, was meinen Geschichtsstunden fehlte. In der Schule sollte ich die Vergangenheit objektiv sehen, mich von ihr distanzieren. Wenn aber die Menschen der Vergangenheit einst gelebt hatten, dann sollte ich doch sicher versuchen, mich in sie hineinzuversetzen, sie wie mich als Wesen mit Sehnsüchten und Bedürfnissen zu sehen, um ihnen näherzukommen. Heute weiß ich, dass sich die meisten Menschen so sehr vom Mittelalter entfernt haben, dass sie gar nicht mit ihren Vorfahren fühlen können; sie sind einfach zu weit weg. In ihren Augen ­waren diese Vorfahren brutal, primitiv und schmutzig. Wir haben keine Porträts von ihnen wie von den Personen des 16. Jahrhunderts. Wir haben keine persönlichen Briefe oder Artefakte. Ihre Häuser ­haben sich, wenn sie überhaupt noch stehen, bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Menschen heute haben meist nur noch das eine oder andere archetypische Bild im Kopf - Klöster, Burgen und Ritter. Vor ein paar Jahren habe ich einen historischen Roman besprochen, der im 11. Jahrhundert spielte, in dem aber Bettelmönche als Boten fungierten, Soldaten beim Mittagessen ­saßen und eine 30-Jährige als »noch jung« beschrieben wurde. Mir wurde nachdrücklich bewusst, dass es in unserer Gesellschaft ganz offensichtlich kaum ein echtes Verständnis für unsere ferne Vergangenheit gibt, wenn einem guten Romanautor, der sich, so ist zu vermuten, doch wenigstens einiges an Hintergrundwissen angelesen hat, nicht klar ist, dass es vor Franziskus und Dominikus keine Bettelmönche gab, dass die mittelalterlichen Essenszeiten sich sehr von unseren unterschieden und dass die Hälfte der Menschen mit 22 schon gestorben war. Wenn man die Leute dazu anhalten wollte, sich mit einer Vision der Vergangenheit zu beschäftigen, wie ich sie auf dem Weg nach Grosmont erlebte, brauchten sie vor allem einen guten Führer, ein Handbuch mit all den Dingen, die sie womöglich vermeiden und umgehen wollten, weil sie gefährlich, tödlich oder einfach unappetitlich waren. Es dauerte lange, bis ich die Idee zu Im Mittelalter dann auch tatsächlich umsetzte. Am 5. Januar 1995 stellte ich den Plan für das Buch erstmals vor und lernte dabei meine zukünftige Frau kennen. Zwölf Jahre später - in denen wir drei Kinder bekamen und ich drei dicke Biografien wichtiger englischer Persönlichkeiten des Mittelalters schrieb - beschloss ich, dass es an der Zeit sei, endlich zur Feder zu greifen. Diese zwölf Jahre hatte ich auch genutzt, um mir darüber klar zu werden, wie das Buch aussehen sollte. Bald stand fest, dass ein Geschichtsbuch in Form eines Reiseführers sich auf die Fragen konzentrieren sollte, die sich Menschen heute stellen. Was soll ich anziehen? Was bekomme ich zu essen? Wo kann ich unterkommen? Während ein Historiker üblicherweise nach neuem oder bisher nicht hinreichend ausgewertetem Quellenmaterial sucht und dieses nach neuen Informationen über das Leben in früherer Zeit abklopft, stellt ein Reiseführer einfach auf der Grundlage unserer Erfahrungen mit dem heutigen Lebensstil die Frage, wie wir dort leben könnten. Oft führt das zu ganz neuen Perspektiven. In den 1990er-Jahren überlegte ich, wie die Höflinge es wohl geschafft hatten, dass ihr Atem angenehm frisch roch, oder wie sauber ein Haus sein musste, damit die Nachbarn es annehmbar fanden. Es finden sich wenige direkte Quellen für solche Dinge, aber der ­Autor eines solchen Führers kann Indizien sammeln und etwa Rechnungen für Gewürze finden, die man verwendete, um den Mund zu »säubern«, und Hinweise darauf, dass man Kochgeschirr mit Stroh und Pottasche scheuerte oder die Binsen aus der Halle kehrte und frische Kräuter zwischen den neuen Binsen ausstreute. Diese Dinge wiederum führen zu neuen Erkenntnissen, die Historiker traditionell nicht in ihre Bücher aufgenommen haben. Sie bringen uns auch an die Schnittstelle von Geschichtsschreibung und Archäologie: In vielen Fällen stellte ich fest, dass Archäologen Antworten auf Fragen hatten, die Historiker für unter ihrer Würde hielten - zum Beispiel bei allem, was mit dem Verrichten der Notdurft zusammenhing. Viele deutsche Leser werden sich unwillkürlich fragen: In ­welchem Verhältnis steht das England des 14. Jahrhunderts zum ­Leben unserer eigenen Vorfahren im 14. Jahrhundert? Nun, manche Dinge sind direkt vergleichbar. Das Bild einer Frau (siehe Abb. 6 im Bildteil), die von einem Mann mit einem Prügel geschlagen wird, stammt aus einer deutschen Handschrift, die heute in der British Library aufbewahrt wird. Ihr langes rosafarbenes Gewand ähnelt dem langen rosafarbenen Gewand auf dem Bild daneben sehr, und dieses kommt aus einer englischen Handschrift und zeigt eine Frau, die einen Mann mit ihrem Spinnrocken schlägt. Auch die Kleider und Schuhe der Männer haben einiges gemeinsam. In anderer Hinsicht allerdings unterschied sich das Leben im mittelalterlichen England sehr von dem in Deutschland. England war im 14. Jahrhundert schon eine zentralisierte Nation, die durch Besteuerung Geld in einem Teil des Landes einnahm, um zugunsten der ganzen Nation in einem anderen Teil aktiv zu werden, und deren Könige dem Parlament Rechenschaft schuldig waren. In dieser Hinsicht war das mittelalterliche England ein Vorläufer des modernen europäischen Staates. Das heutige Deutschland dagegen war im 14. Jahrhundert eine Ansammlung vieler kleiner Herzogtümer, Fürstentümer und anderer Staaten, die alle unter der Herrschaft des gewählten Kaisers des Heiligen Römi­schen Reiches standen. Es gab kein vergleichbares Parlament, in dem gewählte Repräsentanten der Städte direkt mit dem Kaiser verhandeln konnten und dem gegenüber dieser verantwortlich war. Ein weiterer großer Unterschied zwischen Deutschland und England im 14. Jahrhundert war der Urbanisierungsgrad. Wie Sie im ersten Kapitel sehen werden, gab es zu dieser Zeit kaum große Städte in England. Nur London mit seinen etwa 40 000 Einwohnern konnte nach mittelalterlichen europäischen Standards als Großstadt gelten. Und nur zwei weitere englische Städte, York und Bristol, hatten über 10 000 Einwohner. Im Heiligen Römischen Reich gab es Köln, Nürnberg und Lübeck mit jeweils mehr als 25 000 Bürgern und dazu mehrere Städte, deren Einwohnerschaft über 10 000 hinausging: im Rheinland Frankfurt, Mainz, Speyer, Worms, Straßburg und Basel, dann die Hafenstädte Bremen und Hamburg im Norden, Münster, Osnabrück, Magdeburg, Augsburg, Erfurt und Ulm im Binnenland und schließlich die Ostseehäfen Rostock, Wismar und Stralsund. Auch Breslau im heutigen Polen könnte man noch nennen. All diese Orte unterhielten Verbindungen zu den großen Märkten in der Champagne (Lagny-sur-Marne, Bar-sur-Aube, Provins und Troyes) im wirtschaft­lichen Herzen Europas und zu anderen großen europäischen Städten. Auf dem Festland fanden sich Städte mit mehr als 25 000 Einwohnern in Italien (Florenz, Mailand, Genua, Venedig, Padua, Bologna, Verona, Pavia, Lucca, Rom, Neapel und Palermo), auf der Iberischen Halbinsel (Sevilla, Córdoba, Granada, Barcelona, Valen­cia und Lissabon), in Frankreich (Paris, Toulouse, Bordeaux, Rouen und Lyon) und in den Niederlanden (Gent und Brügge). Diese Verbindungen führten zu einer stärker kosmopolitisch geprägten Grundeinstellung in der ganzen Region und wirkten bis in die kleineren Städte hinein, etwa durch eine bessere Verfügbarkeit exotischer Handelswaren als in England. Verglichen mit dem mittelalterlichen Deutschland war der größte Teil Englands wirtschaftliche wie kulturelle Provinz. Für den Adel, die hohen Geistlichen und die bedeutenden Kaufleute, die zwischen beiden Regionen reisten, war die Kultur allerdings eine einheitlich christliche - in Hinblick auf ihre Rechtgläubigkeit ebenso wie auf ihre Zweifel. Weltliche Ritter kamen zusammen und traten auf Turnieren gegeneinander an, nach ­Regeln, die alle gleichermaßen kannten und akzeptierten. Herrscherfamilien tauschten Bräute untereinander aus; ihre Mitglieder gingen gemeinsam auf Kreuzzüge und bewaffnete Pilgerfahrten nach Osteuropa wie auch in den östlichen Mittelmeerraum. Kirchenleute der ganzen Christenheit trafen sich in den päpstlichen Zentren Rom und Avignon und tauschten Ideen und Neuigkeiten ebenso aus wie religiöse Standpunkte. Die Südeuropäer sahen englische und deutsche Prälaten in einem ähnlichen Licht. Auf dem Konzil von Konstanz 1415, wo der Status Englands als unabhängige kirchliche »Nation« heiß diskutiert wurde, notierte Kardinal Fillastre in seinem Tagebuch, »die englische Nation sollte wieder der deutschen eingegliedert werden, zu der sie eigentlich gehört und mit der sie direkt verbunden ist«. Auf demselben Konzil wurde Jan Hus aus Prag der Häresie angeklagt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt: Er hatte seine Theologie weitgehend von dem Engländer John Wyclif übernommen. In einer Chronik des Konzils beschrieb der Konstanzer Bürger Ulrich von Richental die Ankunft der englischen Lords: Er zählte die Pferde, mit denen die Herren reisten, verzeichnete, wo sie untergebracht wurden, und verwendete ganz offenbar die gleichen hierarchischen Kategorien wie die Engländer selbst. Die mittelalterliche Kultur Europas war enger verwoben und homogener, als wir uns das gemeinhin vorstellen. Fernreisen waren für den normalen Bürger vielleicht schwierig - und für die normale Bürgerin noch schwieriger -, für die Reichen jedoch eine gängige Übung. Unsere moderne Wahrnehmung ist durch das dazwischenliegende Industriezeitalter und unsere Kennt­nis um die deutlichen kulturellen Unterschiede, die damals in ­Europa herrschten, verzerrt. Diese Differenzen erscheinen uns übertrieben groß, weil wir wenig über den internationalen Austausch und unsere gemeinsame kulturelle Prägung vor dem 19. Jahrhundert wissen. Heute wird (zumindest in der englischsprachigen Welt) viel über den Zweck und die Bedeutung von Geschichte geschrieben. Ob die Beschäftigung mit der Vergangenheit nun als eine Erklärung dafür gerechtfertigt wird, wie die Gesellschaft dorthin gekommen ist, wo sie heute steht, oder als eine Lektion dazu, wie man herrschen soll und wie nicht - jedenfalls präsentieren mehr Historiker denn je zuvor ihre Arbeiten nicht nur als Werke über die Vergangenheit, sondern als Texte, die auch eine Bedeutung für die moderne Gesellschaft haben. Für mich war Im Mittelalter das Buch, mit dessen Hilfe ich entdeckte, warum die Vergangenheit so wichtig ist. Es geht nicht in erster Linie darum, wie man sich im England des 14. Jahrhunderts kleidete oder wie man sprach, nicht einmal darum, was damals wirklich geschah; es geht vielmehr ­darum, wie es ist, überhaupt in jedem beliebigen Jahrhundert zu leben. Es ist ein Versuch, mit unserer eigenen Zeit zurechtzukommen, indem wir uns anschauen, wie die menschliche Erfahrung in anderen Jahrhunderten aussah. Wer würde schließlich der Meinung eines Mannes über sein eigenes Land trauen, wenn der nie irgendein anderes besucht hat und nie überhaupt auch nur darüber nachgedacht hat, wie das Leben wohl außerhalb seines Heimatlandes aussehen mag? Mit der Zeit ist es das Gleiche. Um unser eigenes Jahrhundert richtig zu verstehen, müssen wir wissen, wie man in vergangenen Jahrhunderten lebte. Und in Deutschland wie in England gab uns das 14. Jahrhundert mit dem Schwarzen Tod einen guten Ausgangspunkt.     Einleitung Willkommen im mittelalterlichen England   Welche Bilder kommen Ihnen bei dem Wort »Mittelalter« in den Sinn? Ritter und Burgen? Mönche und Klöster? Endlose Wälder, in denen Vogelfreie leben, die sich über die Gesetze der Mächtigen hinwegsetzen? All das sind gängige Vorstellungen, die aber wenig über das Leben der großen Masse der Menschen verraten. Stellen Sie sich vor, Sie könnten in der Zeit reisen: Was würden Sie finden, wenn Sie ins 14. Jahrhundert zurückgingen? Sie stehen an einem Sommermorgen auf einer staubigen Londoner Straße. Ein Diener öffnet einen Fensterladen im Obergeschoss und beginnt, eine Decke auszuklopfen. Ein Hund, der die Packpferde eines Reisenden bewacht, verfällt in lautes Gebell. Die Händler ganz in der Nähe rufen von ihren Marktständen herüber, während zwei Frauen dastehen und plaudern - eine schützt ihre Augen mit der Hand vor der Sonne, die andere hält einen Korb in den Armen. Die Balken der Häuser ragen in die Straße hinein. Gemalte Schilder über den Türen zeigen, was es in den Läden zu kaufen gibt. Plötzlich greift ein Dieb bei den Marktständen nach der Börse eines Kaufmanns, und der rennt laut rufend hinter ihm her. Alle drehen sich nach den beiden um. Und Sie, mitten in diesem Tohuwabohu, wo werden Sie heute Nacht unterkommen? Wie sieht Ihre Kleidung aus? Was werden Sie essen? Sobald Sie sich vorstellen, dass die Vergangenheit passiert (und nicht schon passiert ist), eröffnet sich ein neuer Weg, Geschichte zu erfassen. Allein schon die Vorstellung, ins Mittelalter zu reisen, erlaubt uns, die Vergangenheit umfassender zu betrachten - mehr über die Probleme zu erfahren, mit denen sich die Engländer ­damals herumschlagen mussten, die kleinen Freuden ihres Lebens, ihre Eigenarten. Wie eine historische Biografie erlaubt uns auch ein Reiseführer in eine vergangene Zeit, die Bewohner als Menschen zu sehen: Es geht nicht um eine Reihe von Kurven, die Schwankungen beim Ernteertrag oder im Haushaltseinkommen zeigen, sondern um die Frage, wie es ist, in einer anderen Zeit zu leben. Sie können eine erste Ahnung davon bekommen, warum Menschen dies oder jenes taten, und sogar, warum sie Dinge glaubten, die wir einfach unglaublich finden. Diese Einsicht können Sie gewinnen, weil Sie wissen, dass diese Leute Menschen wie Sie und ich sind und einige ihrer Reaktionen schlichtweg natürlich. Mithilfe der Vorstellung, ins Mittelalter zu reisen, lernen Sie nicht nur die Realitäten kennen, die diese Menschen prägten, ­sondern auch ihr Wesen, ihre Hoffnungen und Ängste, das Drama ihres Lebens. Traditionell haben Schriftsteller dazu auf die Fiktion zurückgreifen müssen, aber es gibt keinen Grund, warum ein Sachbuchautor sein Material nicht ebenso direkt und teilnehmend präsentieren dürfte. Es nimmt den Fakten nichts von ihrer Gültigkeit, wenn man sie ins Präsens statt ins Präteritum setzt. In mancher Hinsicht ist diese Idee nicht neu. Jahrzehntelang haben Bauforscher Bilder von Burgen und Klöstern in ihrer Blütezeit geschaffen. Ähnlich haben Museumskuratoren alte Häuser und ihre Ausstattung rekonstruiert und sie mit den Möbeln einer vergangenen Zeit gefüllt. Interessierte Zeitgenossen versuchen in Reenactment-Gruppen mithilfe des kühnen praktischen Experiments herauszufinden, wie es sich wohl in einer anderen Zeit lebte. Sie tragen die Kleidung jener fernen Zeit, kochen in einem Kessel auf dem offenen Feuer oder versuchen in schwerer Rüstung ein Schwert zu schwingen, wie man es damals trug. Sie rufen uns ins Gedächtnis, dass Geschichte weit mehr ist als ein rationaler Lernprozess. Um die Vergangenheit wirklich zu verstehen, braucht man nicht nur Wissen, sondern auch Erfahrung und den tief empfundenen Wunsch, eine spirituelle, emotionale, poetische, dramatische und inspirierende Verbindung zu unseren Vorfahren auf­zubauen. Es geht um unsere persönlichen Reaktionen auf die Herausforderungen eines Lebens in früheren Jahrhunderten und Kulturen und um unser Verständnis davon, was ein Jahrhundert von einem anderen unterscheidet. Am nächsten kommen Historiker einer solchen Betrachtung der Geschichte aus erster Hand mithilfe der »virtuellen Geschichte« und ihrer Frage »Was wäre gewesen, wenn ...?«. Sie überlegen, was geschehen wäre, wenn sich die Dinge anders ent­wickelt hätten. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn Hitler 1940 Großbritannien überfallen hätte? Was, wenn die Spanische Armada Erfolg gehabt hätte? Solchen Spekulationen wird natürlich immer entgegengehalten, dass diese Dinge eben nicht geschehen sind (und es deshalb auch keinen Grund gibt, darüber nachzu­denken), aber sie haben den großen Vorzug, den Leser direkt zu einem bestimmten Zeitpunkt zu entführen und Ereignisse so zu präsentieren, als spielten sie sich gerade ab. Das kann der Darstellung eine starke Unmittelbarkeit verleihen. Versetzen Sie sich in die Lage des Herzogs von Wellington bei Waterloo oder Nelsons bei Trafalgar: Beide wussten nur zu gut, was im Fall einer Niederlage auf sie zukam - genau wie ihre politischen Herren in England. Sie dachten ganz sicher über eine Vergangenheit nach, die dann nicht stattfand; so bringt uns die Rekonstruktion dessen, was andernfalls passiert wäre, den Entscheidungsträgern näher. Stellen Sie sich nur einmal vor, dass die Engländer einige - vielleicht viele - Jahre länger die Tyrannenherrschaft Richards II. hätten ertragen müssen, wenn Henry IV. nicht 1399 nach England zurückgekehrt wäre, um ihn abzusetzen. Das hätte wahrscheinlich zur Vernichtung der Lancaster-Dynastie und all ihrer Unterstützer geführt. Im Frühjahr 1399 war diese Aussicht das Politikum schlechthin und einer der Gründe, die Henry dann wirklich zur Rückkehr bewegten. Und sie sorgte dafür, dass er so viele Unterstützer fand. So gesehen ist klar, dass es für ein angemessenes Verständnis der Vergangenheit entscheidend ist, Ereignisse als tatsächlich stattfindend zu sehen, selbst wenn man über die Folgen heute ebenso spekulieren muss wie damals. Virtuelle Geschichte, wie ich sie oben beschrieben habe, ist nur für das Verständnis politischer Ereignisse von Nutzen. Für die Sozial­geschichte bringt sie relativ wenig. Wir können nicht gewinnbringend darüber spekulieren, was zum Beispiel wohl passiert wäre, wenn der Schwarze Tod nicht nach Europa gekommen wäre; es ging dabei nicht um eine bewusste Entscheidung. Doch wie die Rekonstruktionen typischer mittelalterlicher Häuser geben uns auch virtuelle Zeitreisen ein klareres, vollständigeres Bild vom ­Leben in einer anderen Zeit. Vor allem ergeben sich so viele Fragen, auf die wir vorher gar nicht gekommen sind und auf die es nicht unbedingt einfache Antworten gibt. Wie grüßen sich die Menschen im Mittelalter? Worüber lachen sie? Wie weit reisen sie? Geschichte aus dem Blickwinkel unserer eigenen Neugier ­heraus zu schreiben zwingt uns, eine ganze Reihe Fragen zu behandeln, die die traditionellen Geschichtsbücher eher außen vor lassen. Das mittelalterliche England ist ein kaum überschaubares Ziel für den historischen Reisenden. In den vier Jahrhunderten zwischen der normannischen Eroberung und der Erfindung des Buchdrucks wandelt sich die Gesellschaft gewaltig. Ein normannischer Ritter würde sich bei den Vorbereitungen für eine Schlacht des späten 14. Jahrhunderts ebenso fehl am Platze fühlen wie ein Premierminister des 18. Jahrhunderts in einem Wahlkampf unserer Zeit. Deshalb konzentriert sich dieser Reiseführer auf nur ein Jahrhundert, das 14. Diese Zeit kommt der allgemeinen Vorstellung vom »Mittelalter« mit seinem Rittertum, den Turnieren, der Etikette, Kunst und Architektur wohl am nächsten. Man könnte sie geradezu als den Inbegriff des Mittelalters sehen - sie hat Bürgerkriege, Schlachten gegen die Nachbarländer Schottland und Frankreich, Belagerungen, Geächtete, Mönchtum, Kathedralenbau, Wanderprediger, Flagellanten, Hungersnöte, den letzten Kreuz­zug, den großen Bauernaufstand der sogenannten Peasants' Revolt und (vor allen anderen Dingen) den Schwarzen Tod zu bieten. Nachdem ich nun betont habe, dass der Schwerpunkt dieses Buchs auf dem England des 14. Jahrhunderts liegt, muss ich das wieder ein bisschen einschränken. Man kann nicht alle Details der Zeit auf der Grundlage von Belegen aus dem 14. Jahrhundert abdecken; manchmal sind die Zeitdokumente enttäuschend unvollständig. Auch können wir nicht immer sicher sein, dass man 1320 etwas genauso machte wie 1390. In manchen Fällen wissen wir ­sicher, dass sich die Dinge dramatisch änderten: Die ganze Art, Kriege zu führen, wandelte sich im Lauf dieses Jahrhunderts, ebenso wie die Seuchenlage mit der katastrophalen Ankunft der Pest im Jahr 1348. So wurden, wo nötig, Einzelheiten aus dem 15. Jahrhundert herangezogen, um Entwicklungen des ausgehenden 14. Jahrhunderts zu beschreiben, und das 13. Jahrhundert hilft uns, Rückschlüsse auf die erste Hälfte unseres Beobachtungszeitraums zu ziehen. Dieses Verwischen der Zeitgrenzen ist nur nötig, wo es um sehr schwierige Fragen geht. So haben wir zum Beispiel relativ wenige Quellen zu Höflichkeit und Benimmregeln im 14. Jahrhundert, aber verschiedene sehr gute zum frühen 15. Jahrhundert. Da sich gutes Benehmen wohl kaum über Nacht entwickelt hat, habe ich die späteren Belege benutzt, weil sie die umfassendsten und genauesten sind, die uns zur Verfügung stehen. Für dieses Buch habe ich die verschiedensten Quellentypen heran­gezogen. Natürlich sind zeitgenössische Primärquellen von entscheidender Bedeutung. Dazu zählen unveröffentlichte wie veröffentlichte Chroniken, Briefe, Haushaltsbücher, Gedichte und Ratgeberliteratur. Buchmalereien zeigen das Alltagsleben, das die Texte oft nicht beschreiben: etwa ob Frauen im Damensitz ritten oder nicht. In den erhaltenen Bauten des 14. Jahrhunderts steht uns in England ein reicher Schatz an architektonischen Belegen zur Verfügung - Häuser ebenso wie Burgen, Kirchen und Klöster -, und die ständig wachsende Literatur über sie liefert zusätz­liche Informationen. In manchen Fällen haben wir Dokumente, die den architektonischen Befund ergänzen, wie etwa Baurechnungen und Prüfungsunterlagen. Es gibt eine wachsende Zahl archäo­logischer Funde, von ausgegrabenen Werkzeugen, Schuhen und Kleidungsstücken bis hin zu den Kernen von Beeren aus mittelalterlichen Latrinen und Fischgräten aus den Feuchtböden alter Teiche. Und wir haben eine Fülle eher typischer archäologischer Artefakte wie Münzen, Keramik und Gegenstände aus Eisen. Ein gutes Museum kann Ihnen ein genaues Bild vom Leben im Mittelalter vermitteln, dem nur durch Ihre eigene Neugier und Vorstellungskraft Grenzen gesetzt sind. Vor allem aber muss gesagt werden, dass die beste Evidenz für die Frage, wie es war, im 14. Jahrhundert zu leben, eine bewusste Wahrnehmung des Lebens in irgendeiner Zeit ist, und das schließt das Heute ein. Unser einziger Kontext für die Interpretation all der historischen Daten und Fakten, die wir je sammeln können, ist unsere eigene Lebenserfahrung. Wir essen vielleicht anderes, sind größer und leben länger, halten Turniere für unglaublich gefährlich und jedenfalls nicht für simple Sportveranstaltungen, aber wir wissen, was Trauer ist, was Liebe, Furcht, Schmerz, Ehrgeiz, Feindschaft und Hunger bedeuten. Wir sollten immer daran denken, dass das, was wir mit der Vergangenheit gemein haben, ebenso wichtig, real und wesentlich für unser Leben ist wie jene Dinge, in denen wir uns unterscheiden. Stellen Sie sich eine Gruppe Historiker in 700 Jahren vor, die versuchen, ihren Zeitgenossen zu er­klären, wie es war, im frühen 21. Jahrhundert zu leben. Vielleicht haben sie ein paar Bücher, auf die sie sich stützen können, ein paar Fotos, vielleicht digitalisierte Filme, die Überreste unserer Häuser und die eine oder andere kommunale Müllkippe, doch vor allem werden sie sich auf die Frage konzentrieren, was es heißt, Mensch zu sein. W. H. Auden hat einmal gesagt, dass man in wenigstens zwei anderen Ländern gelebt haben muss, um sein eigenes Land zu verstehen. Ähnliches kann man von Epochen sagen: Um das eigene Jahrhundert zu verstehen, muss man sich in wenigstens zwei anderen auskennen. Der Schlüssel, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren, mag ein verfallenes Gebäude oder ein ­Archiv sein, doch das Instrument, mit dem wir sie zu erschließen suchen, sind wir selbst - und das wird immer so bleiben.
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