1 Die Bohnenstange
Mütter und Großmütter
Ich öffne einen Briefumschlag, auf dem »Nonna« steht, und auf einem Foto sehe ich mich, wie ich damals war, klapperdürr, mit einem zu großen Mund unter honigfarbenen Augen, die überrascht dreinblicken. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich meine Kinderschrift betrachte, und schon fühle ich mich nach Pozzuoli zurückversetzt, in meine Kindheit, in der alles begann. Manche Dinge kann man einfach nicht vergessen, selbst wenn man es will.
In dem Briefchen dankte ich Nonna Sofia für die dreihundert Lire, die ihr Sohn, Riccardo Scicolone, mir über sie hatte schicken lassen. Nicht einmal auf dem Postweg trat mein Vater persönlich in Erscheinung. Nonna Sofia war eine kalte, distanzierte Frau, die ich erst einmal in meinem Leben gesehen hatte. Und trotzdem erzählte ich ihr in diesem Brief, dass der Tag meiner Erstkommunion und Firmung der schönste meines Lebens gewesen war, und dass mir meine Patin ein goldenes Armband geschenkt hatte, und außerdem, dass ich »mit den besten Noten in die fünfte Klasse versetzt« worden war. Kurzum, ich erzählte ihr alles, was jede x-beliebige Großmutter hätte hören wollen, und tat so, als würde es sie interessieren, als hätte sie mich lieb. Ich bat sie sogar darum, meinem Vater für die Aufmerksamkeit zu danken.
Wer weiß, wer mich dazu gedrängt hatte, ihr zu schreiben. Möglicherweise Luisa, meine Großmutter mütterlicherseits, die auch in den schwierigsten Momenten auf gute Manieren pochte. Sie hat mich wenige Monate nach meiner Geburt bei sich aufgenommen, sie hatte mich wirklich gern, ihre Liebe war geradeheraus und herzlich, voller Aufmerksamkeiten. Oder vielleicht war es meine Mutter gewesen, die jeden nur erdenklichen Vorwand suchte, um meinen Vater zu kontaktieren, und alle möglichen Tricks anwendete, um ihn zurückzuerobern. Im Grunde genommen war sie nur ein Mädchen, dem man die Jugend gestohlen hatte. Wenn ich heute darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich meine Großeltern – Nonno Domenico und Nonna Luisa – nicht zufällig »Papà« und »Mamma« nannte, während meine Mutter einfach nur »Mammina« war.
Als junges Mädchen sprühte meine Mutter, Romilda Villani, nur so vor Charme und Talent. Sie interessierte sich nicht sonderlich für die Schule, spielte aber sehr gut Klavier, und mithilfe eines Stipendiums gelang es ihr, in das Konservatorium San Pietro a Majella in Neapel aufgenommen zu werden. Bei ihrer Abschlussprüfung spielte sie »La Campanella« von Liszt und bekam hohe Auszeichnungen dafür. Die Großeltern hatten ihr trotz finanzieller Engpässe einen imposanten Flügel gekauft, der mitten in der kleinen Wohnstube in unserem Haus stand. Doch Romilda wollte höher hinaus, vielleicht, weil sie so beunruhigend schön war.
Eine Ausschreibung der amerikanischen Filmproduktionsgesellschaft Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) verdrehte ihr dann den Kopf. Sie suchten damals in ganz Italien eine Doppelgängerin für Greta Garbo, die Königin aller Diven. Romilda, die erst siebzehn war, verlor keine Zeit und bewarb sich hinter dem Rücken ihrer Eltern, in der festen Überzeugung, die Jury für sich gewinnen zu können. Und sie sollte recht behalten: Wie im Märchen gewann sie den Wettbewerb und noch dazu ein Ticket nach Hollywood. Doch Papà Domenico und Mamma Luisa wollten nichts davon wissen; dass ihre Tochter wegging, kam für sie nicht infrage. Außerdem war Amerika am anderen Ende der Welt.
Es heißt, dass die von der MGM sogar zu Romilda nach Hause gekommen seien, um die Eltern umzustimmen, dann aber, ebenso ungläubig wie enttäuscht, mit gesenktem Kopf wieder abziehen mussten. Die Lorbeeren erntete die zweitklassierte Kandidatin, Romilda aber verzieh ihren Eltern nicht und ging fort, sobald es möglich war, um ihren Traum weiterzuverfolgen: Sie wollte nach Rom und Cinecittà und sich nehmen, was ihr zustand, koste es, was es wolle.
Doch eines hatte die junge Garbo aus Pozzuoli nicht bedacht: die Unvorhersehbarkeit der Liebe. Die schicksalhafte Begegnung mit Riccardo Scicolone Murillo fand mitten auf der Straße, in der Via Cola di Rienzo, an einem Herbstabend des Jahres 1933 statt. Er war schön, groß, elegant, und er hatte Erfahrung mit Frauen. Er war sofort fasziniert von diesem wunderschönen Mädchen, das berühmt werden wollte, und um sie zu erobern, brauchte er sie nur darin zu bestärken und ihr vorzugaukeln, dass er in der Welt des Films eine einflussreiche Rolle spielte, was überhaupt nicht stimmte. Ihr, die die langen Schlangen bei Komparsen-Castings inzwischen kannte, kam es wie ein Traum vor, endlich ihrem Prinzen begegnet zu sein. Riccardo war zwanzig Jahre alt, er hatte ein bisschen Geld und eine Familie mit adeligen Vorfahren. Zum Ingenieur hatte er es nicht gebracht, aber er arbeitete aushilfsweise bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft auf der Strecke Rom??Viterbo. Die Leidenschaft führte die beiden kurz darauf in ein kleines Hotel im Stadtzentrum, wo sie lange Liebesnächte miteinander verbrachten. Doch dann kam ich und machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Als Riccardo von Romildas Schwangerschaft erfuhr, brachte ihn das durcheinander, und er zog sich immer mehr von ihr zurück. Ich passte nicht in sein Lebenskonzept, so, wie meine Mutter nie hineingepasst hatte.
Um die Ehre ihrer Tochter zu retten, eilte Mamma Luisa nach Rom und forderte Riccardo auf, Romilda zu heiraten. Fast schien es, als ließe sich Riccardo überzeugen, doch dann kam ein scheinbar banales Detail ans Licht: Er hatte das Sakrament der Firmung nicht erhalten, und dieser Umstand entpuppte sich als enormes Hindernis für eine Eheschließung. Es kam also nicht zur Hochzeit, aber zumindest gab mir mein Vater, ob er nun wollte oder nicht, seinen Namen und damit einen Tropfen blauen Blutes. Paradoxerweise hatte ich zwar nie einen richtigen Vater, darf mich aber Vicecontessa von Pozzuoli, Edelfrau von Caserta aus der Familie der Hohenstaufen, Marchesa di Licata Scicolone Murillo nennen.
Eine Truhe voller Weisheit und Armut
Am 20. September 1934 kam ich als zartes und unansehnliches Kind auf der Station für ledige Mütter im römischen Krankenhaus Santa Margherita zur Welt. Wie ich immer sage, bekam ich als »Aussteuer« eine Truhe voller Weisheit und Armut mit auf den Weg. Mammina wollte unbedingt, dass man mir ein Armband mit meinem Namen anlegte, da sie schreckliche Angst hatte, man könnte mich in der Wiege vertauschen. Eine kurze Zeit lang hoffte Riccardo, der keine feste Arbeit hatte und von Zweifeln geplagt wurde, dass uns seine Mutter Sofia bei sich aufnehmen würde, deren Zuneigung Romilda hatte gewinnen wollen, indem sie mir ihren Namen gab. Doch auch diesmal irrte sie sich. So mietete er für uns ein Zimmer in einer Pension, in der wir einige Wochen lang zusammenlebten wie eine Familie. Oder beinahe.
Leider fehlte es uns an Geld, es fehlten die grundlegenden Dinge, es fehlte an allem. Vater war zu arrogant, um irgendeine Arbeit anzunehmen, besaß aber nicht die nötigen Zeugnisse für die Tätigkeiten, die er anstrebte. Meine Mutter hatte keine Milch mehr und begann, sich ernsthaft um meine Gesundheit zu sorgen. Diese Sorge verwandelte sich in Gewissheit, als sie mich eines Tages in den Händen der Vermieterin ließ, um nach einer Anstellung zu suchen. Als sie zurückkam, war ich fast tot. Die Signora hatte mir, wer weiß aus welchen guten Absichten, einen Löffel Linsen verabreicht, die mich beinahe ins Jenseits befördert hätten. Und Riccardo? War natürlich verschwunden.
Romilda tat das einzig Richtige. Irgendwie schaffte sie es, sich eine Zugfahrkarte nach Pozzuoli zu kaufen, und kehrte nach Hause zurück. Ohne Geld und ohne Mann, mit einem sterbenskranken Neugeborenen im Arm und der »Schande« im Nacken, den Ruf der Familie beschmutzt zu haben, war sie gewiss nicht zu beneiden. Wie würden uns die Villanis aufnehmen? Am Rande der Verzweiflung fürchtete sie, auch von ihnen zurückgewiesen zu werden. Mamma Luisa machte ihr die Tür auf. Ein Blick genügte, und schon schloss sie uns in die Arme, als wären wir nie weg gewesen. Sie holte den Brandy und die guten Gläser hervor, und nach einem bewegenden Prosit kümmerte sie sich sofort um mich.
»Wir brauchen Muttermilch«, verkündete sie, ohne Zeit zu verlieren. Die in ganz Kampanien bekannte Amme Zaranella wurde gerufen. Damit ich überlebte, legten die Villanis ein Gelübde vor dem heiligen Januarius ab und verzichteten monatelang auf Fleisch. Alles wurde an Zaranella weitergegeben, die es ihnen in Form von reichhaltiger, nahrhafter Muttermilch dankte. Niemand beschwerte sich über dieses Opfer, weder Papà Domenico noch meine Onkel, Zio Guido und Zio Mario, und auch nicht Zia Dora. Gemeinsam waren wir stark, daran haben wir in unserer Familie immer geglaubt.
Doch die Milch von Amme Zaranella reichte nicht aus, um mich wieder aufzupäppeln. »Diesem Mädchen geht es schlecht«, urteilte der Doktor, als er meine von Hustenkrämpfen durchschüttelte Brust abhorchte. »Bergluft würde ihr guttun …« Und so beschloss Mamma Luisa, die kleine Wohnung an der Strandpromenade zu verlassen und die ganze Familie in die weiter oben gelegene Via Solfatara umzusiedeln. Es war die richtige Entscheidung. Ein erster Spaziergang in der abendlichen Kühle genügte, um in mein abgezehrtes Gesicht ein hübsches Lächeln zu zaubern. »Sie ist gerettet!«, sagte Mamma Luisa, die sich nun, da sie beruhigt war, endlich wieder um ihre alltäglichen Pflichten kümmern konnte.
Papà Domenico, oder Mimì, wie wir ihn nannten, ein kleiner untersetzter Mann, war Abteilungsleiter in der Munitionsfabrik Ansaldo, die der Grund dafür war, dass Pozzuoli wenige Jahre später zur Zielscheibe schrecklicher Bombardements werden...