EINLEITUNG
Knud Johan Victor Rasmussen wurde am 7. Juni 1879 in Jacobshavn, dem heutigen Ilulissat, an der Westküste Grönlands geboren. Seine Mutter, Sophie Louise Susanne Rasmussen geb. Fleischer (1842–1917), war zu einem Viertel Inuit (die von vielen heutigen »Eskimo« bevorzugte Selbstbezeichnung). Sein Vater Christian Vilhelm Rasmussen (1846–1918) betätigte sich in Grönland als Missionar und Lehrer; er sprach fließend Kalaallisut, die lokale Variante der Inuit-Sprache Inuktitut, über die er eine Grammatik und ein Wörterbuch verfasste. Er lebte von 1873 bis 1895 in Grönland, während die dänischen Vorfahren seiner Frau schon mehr als hundert Jahre zuvor dort eingewandert waren. Einige von ihnen hatten hohe Posten in der grönländischen Verwaltung inne. Nachdem die Familie dann nach Kopenhagen gezogen war, unterrichtete Christian Rasmussen Kalaallisut an der dortigen Universität. Das Pfarrgebiet, das er in Grönland betreute, war riesig und erstreckte sich entlang der Küste über achthundert Kilometer. Er bereiste es einmal im Jahr, und manchmal nahm er seinen Sohn Knud, das älteste von drei Kindern des Ehepaars, auf solche Dienstreisen mit. In einem 1934 verfassten Nachruf schrieb der Archäologe Therkel Mathiassen, der an der Fünften Thule-Expedition teilgenommen hatte und Knud Rasmussen sehr gut kannte, die grönländische Abstammung über seine Mutter habe diesem einen gewaltigen Vorsprung verschafft, sowohl als Polarreisender als auch – und vor allem – als Eskimoforscher. Der dänische Ethnologe William Thalbitzer bemerkte – gleichfalls in einem Nachruf auf Rasmussen (American Anthropologist 36, Nr. 4, 1934) – über Sophie Rasmussen, sie sei »in ihren Zügen und ihrer allgemeinen Erscheinung ein Bild von einer hübschen Eskimofrau« gewesen, und kommentiert über die nicht selten vorkommenden Ehen zwischen Dänen und Inuit, aus ihnen gingen Menschen hervor, die ausgezeichnet die Inuit-Kultur und diejenige der Weißen verschmelzen könnten. Knud Rasmussen sei hierfür ein hervorragendes Beispiel, und er sei stolz auf seine Abstammung von den Ureinwohnern Grönlands gewesen: »Sein ganzes Leben lang fühlte er sich als ein Kind der Eskimos; und das war er in gewissem Maße ja auch.«
Die Inuit, mit denen Rasmussen auf seinen Reisen zusammentraf, scheinen ihn als Weißen eingeordnet zu haben, obwohl ihnen nicht entging, dass er mit dem Leben und Überleben in der Arktis so vertraut war wie sie. Zwar berichtet er im vorliegenden Band über ein großes Kompliment, das ihm Igjugarjuk von den Karibu-Inuit machte: »Igjugarjuk, der gern ein bisschen schmeichelte, erklärte, ich sei der erste weiße Mann, welcher auch zugleich Eskimo sei.« Dies bezog sich aber nicht darauf, dass Rasmussen hinsichtlich seines Äußeren besondere Ähnlichkeit mit den Inuit hatte, sondern darauf, dass er fließend Inuktitut sprach, sodass »die grönländische Zunge augenblicklich verstanden wurde, wenn auch ein natürlicher Unterschied in der Aussprache und im Dialekt vorlag.« In seinem Buch Die Gabe des Adlers: Eskimoische Märchen berichtet Rasmussen von einem ähnlichen Erlebnis. Als er auf seiner großen Reise im Rahmen der Fünften Thule-Expedition an der Beringstraße angelangt war, begegnete er auf einer Insel einer alten Frau, Majuaq, die er über die alte Lebensweise der dortigen Ureinwohner befragen wollte. »Wie soll ich zu einem Manne reden, der unsere Sprache nicht versteht?«, wollte Majuaq wissen. »Er sagt, er sei einer der Unsrigen«, entgegnete Rasmussens Führer, und Rasmussen erläuterte ihr, dass er aus Grönland komme. Majuaq musterte ihn und sagte zu ihm: »Du hast des weißen Mannes Angesicht, aber unsere Sprache.« Der Ethnologe Kaj Birket-Smith – ein Weggefährte Rasmussens auf der Fünften Thule-Expedition – kommentierte dessen Aussehen einmal dahingehend, er habe eher einem nordamerikanischen »Indianer« als einem Inuit geglichen (zitiert in Terence Cole, Einleitung zu Across Arctic America: Narrative of the Fifth Thule Expedition, Fairbanks: University of Alaska Press, 1999).
Nichtsdestoweniger war die Tatsache, dass er seit seiner Kindheit mit der grönländischen Inuit-Kultur vertraut und Kalaallisut die Sprache war, die er noch vor der dänischen gelernt hatte, natürlich äußerst förderlich für seinen Umgang mit den Inuit, denen er auf seinen Forschungsreisen begegnete. Die kulturelle und sprachliche Barriere, die häufig die Verständigung bei ethnographischen Forschungen erschwert, entfiel, und es ist gut möglich, dass ihn die Inuit, bei denen er seine Untersuchungen anstellte, in gewisser Weise durchaus als einen der Ihren sahen oder doch eben zumindest als »Weißen, der zugleich ein Eskimo ist«. Er selbst schrieb einmal: »Die grönländische Sprache hat mir sämtliche Herzen geöffnet, sodass ich von Siedlung zu Siedlung ging wie ein Mann, der wilde Bergblüten pflückt und einen Arm voll nach dem anderen davon bekommt« (zitiert in Cole, Einleitung zu Across Arctic America). Rasmussen machte aber nicht den Fehler, aufgrund seiner bereits vorhandenen umfassenden Kenntnisse davon auszugehen, dass er alles oder das meiste über die Kulturen der Inuit bereits wisse, und unachtsam bei der Erhebung und Aufzeichnung neuer ethnographischer Daten zu werden. Außerdem behielt er trotz der vertrauten und oft von Zuneigung geprägten Beziehung, die er zu seinen Informanten unterhielt, bei der Auswertung der Ergebnisse immer die nötige wissenschaftliche Distanz und erlag daher nicht der Versuchung zu idealisieren. Er berichtet von Praktiken wie Mädchentötung, der Aussetzung alter Menschen und Kannibalismus in Hungerszeiten, ohne sie indessen zu verurteilen, denn er wusste ja ganz genau, dass sie auf die Herausforderungen des Lebens in der Arktis zurückgingen.
Sowohl seine Eltern als auch seine Großmutter mütterlicherseits vermittelten Knud Rasmussen von klein auf eine tiefe Wertschätzung für die grönländische Sprache und Kultur. Er wuchs mit Inuit-Kindern zusammen auf und erlernte spielerisch alle Fertigkeiten, die er für das Leben und Überleben in der Arktis brauchte. Auch einen Inuit-Namen hatte er: Kununguaq (»Klein Knud«). Auf seine lange Schlittenreise von Kanada bis Alaska zurückblickend schreibt er im vorliegenden Band: »Mein Dank an den Hundeschlitten wächst zu einem Dank an meine grönländische Kindheit. Der Schlitten war mein erstes richtiges Stück Spielzeug, und mit ihm führte ich meines Lebens größte Aufgabe durch. Ich wurde mit der eskimoischen Sprache geboren, die andere arktische Forscher sich erst mühsam haben aneignen müssen, und ich lebte mit grönländischen Jägern zusammen, sodass das Reisen, selbst unter den schwierigsten Verhältnissen, für mich eine natürliche Form der Arbeit wurde. Darum ist die fünfte Thuleexpedition wie eine glückliche Fortsetzung meiner Kindheit und Jugend.« Er spart in seinen Berichten die Härten und Gefahren der Reisen nicht aus, teilt mit seinen Lesern aber auch die kleinen Freuden des oft extrem anstrengenden Expeditionsalltags. In Ultima Thule, dem Buch über seine erste Thule-Expedition, schreibt er beispielsweise, wie er es sich mit seinen Begleitern in einer Schneehütte gemütlich gemacht hat: »Hier liege ich nackt auf meinem weichen Rentierfell, die Pfeife im Munde, einen dampfenden Topf Tee neben mir« und versunken in die Lektüre von Flauberts Die Versuchungen des Heiligen Antonius.
Knud Rasmussens Forscherdrang erwachte früh. In seinem Buch The People of the Polar North (1908) über die Polar-Inuit schreibt er: »Als Kind hörte ich oft eine alte Grönländerin davon erzählen, dass weit im Norden am Ende der Welt ein Volk lebte, das sich in Bärenfelle kleidete und rohes Fleisch aß ... Noch bevor ich wusste, was Reisen bedeutet, beschloss ich, mich eines Tages auf die Suche nach diesen Menschen zu machen.« Schon als Kind ließ er sich von den Grönländern in Jacobshavn und später in Godthåb, wohin die Familie umgesiedelt war, Mythen und Sagen erzählen, und zeigte eine große Begabung dafür, sich diese Erzählungen zu merken und sie selbst wiederzugeben. Wer seine an ein breiteres Publikum gerichteten Reiseberichte liest, entdeckt schnell, dass Rasmussen überhaupt ein begnadeter Geschichtenerzähler war, der es verstand, die Kulturen der Inuit wissenschaftlich fundiert und dabei äußerst kurzweilig zu vermitteln. Seine Faszination für mündliche Überlieferungen ließ ihn auch als Forscher nicht los, und auf der Fünften Thule-Expedition behielt er sich das Studium des »geistigen Wesens, der Sagen und religiösen Vorstellungen« (Therkel Mathiassen, Mit Knud Rasmussen bei den amerikanischen Eskimos) ausdrücklich selbst vor, während die anderen Expeditionsteilnehmer Informationen über materielle Kultur, Jagd und tägliches Leben erheben sollten.
Als er zwölf Jahre alt war, kam er – wie alle dänischen Kinder aus Grönland – auf eine Schule in Dänemark. Bis dahin hatte sein Vater ihn und...