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E-Book

Im Windkanal

Episoden aus dem Leben eines Zeitzeugen

AutorWalter Vorwerk
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl476 Seiten
ISBN9783741254864
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Das Schnelllebigste ist die Zeit. Man kann sie nicht anhalten. Darin liegt die Gefahr, dass vieles vergessen wird, was wichtig erscheinen mag. Ich musste mich beeilen, dieses Buch zu schreiben, weil auch ich dieser Zeitmaschine ausgesetzt bin. Als Journalist, der in der DDR aufgewachsen ist, gehöre ich zu jener Generation im Osten, die man auch "Testgeneration" nennen kann - daher der Titel des Buches Im Windkanal. Seit der einseitigen Wendezeit beschäftigt mich der missliche Umstand, dass Leute verschiedener Couleur, die die DDR gar nicht erlebt haben, glauben, "unsere Vergangenheit bewältigen" zu können oder zu müssen. Hier schreibt ein "Ossi" gegen das Vergessen aus seiner ganz persönlichen Erlebniswelt heraus. Vielleicht hilft das Buch, nachdenklich zu werden - über sich selbst - das wäre mein Ziel.

Walter Vorwerk (Jahrgang 1939) wurde im niederschlesischen Pfaffendorf (heute Rudzica) geboren. Er ist das sechste Kind in der Familie eines Eisenbahnarbeiters, der wenige Tage vor Kriegsende ums Leben kam. Nach Flucht und Vertreibung begann für Walter 1945 die Schulzeit. Musik und Literatur waren seine Stärken. Deshalb nahm er nach dem Abitur das Journalistik-Studium in Leipzig auf (1962 Diplom-Journalist) und machte neben seinem Beruf nach einem Abend- und Fernstudium an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" in Berlin 1970 seinen Abschluss als Sänger. Von 1962 bis 2008 arbeitete er als Rundfunkjournalist, Moderator, Reporter und Programmsprecher. Bisher sind von ihm bei Books on Demand erschienen: Ich bin ein Glas aus Träumen (Lyrikband 2013) und Seh? ich die Vögel ziehen (Reisebriefe 2014). In seinem neuen Buch Im Windkanal lässt der 77-Jährige sein Leben Revue passieren, worauf auch der Untertitel "Episoden aus dem Leben eines Zeitzeugen" verweist.

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Leseprobe

Oberlausitz 1945 – 1953


Das neue Leben


Von all dem Erlebten war ich jedenfalls hellwach und für immer traumatisiert. Ich war mit knapp sechs Jahren erwachsener, als mein Geburtsdatum angab und meine Umgebung glaubte. Denn bereits damals stellte ich zum Erstaunen vieler die Frage, warum das alles geschehen konnte und warum alle, bis auf wenige, den Spuk mitgemacht hatten. Und mich beschäftigte bereits als Kind das unlösbare Problem Warum bin ich gerade ich.

Der Krieg war noch nicht zu Ende, da hörte ich den Sattlermeister, bei dem wir Obdach gefunden hatten, auf seinem Sattlerbock fabulieren:

Komm Herr Jesus und sei unser Gast,

und segne, was Du uns bescheret hast,

aber nicht Pellkartoffeln und sauren Hering,

sondern was Adolf frisst und Hermann Göring …

Später wurde mir klar, dass diese Spottverse dem lieben Sattlermeister, wären sie weiter an die Öffentlichkeit gedrungen, Gestapoverhöre und KZ eingebracht hätten. Heute weiß ich nicht mehr, wo ich das folgende Gedicht entdeckt habe. Es entstand um 1943, der Verfasser ist unbekannt:

Wir sparen

Wir sparen im Bett

Butter und auch Fett.

In ernster Not

das tägliche Brot.

An Kleidung und Sohlen,

an Heizung und Kohlen.

Auch sparen wir Gas,

das macht uns viel Spaß.

Wir warten entschieden

im Bett auf den Frieden.

Nach all dem Elend, das wir selbst erlebten, sprach uns der Dichter Louis Fürnberg, ein jüdischer Kommunist, mit seinem Lied »Das neue Leben« völlig aus dem Herzen:

Das neue Leben muss anders werden,

als dieses Leben, als diese Zeit.

Dann darf’s nicht Hunger,

nicht Elend geben.

Packt alle an,

dann ist es bald soweit ….

Viel später las ich, dass Fürnberg diese Verse bereits 1936 verfasst und sie auch selbst vertont hatte. Doch dieses Elend und dieser Hunger, die Ungewissheit und zum Teil Ratlosigkeit schlugen erst so richtig zu, als der Krieg zu Ende war und Chaos über das Land hereinbrach. Aber die Sehnsucht nach neuem, anderem Leben konnte uns niemand nehmen. In erster Linie strahlte unsere Mutter diese Hoffnung aus. Als ich sie später einmal fragte, woher sie diese Hoffnung auf einen Neubeginn eigentlich genommen habe, antwortete sie mir mit zwei Worten: Durch Euch! Zudem hatte sie eine unverfälschte, naive Gottesfurcht, die sie in Schlichtheit und Bescheidenheit auslebte und in Gott das tägliche Leben und die uns umgebende Natur sah. Und dann gab es noch etwas: sogar in schlechten Zeiten wurde bei uns gesungen. Das war auch ein Elixier. So lernte ich viele Volkslieder kennen. Meiner Schwester gefiel besonders das vom Dirigenten Hermann Scherchen nach Deutschland mitgebrachte russische Revolutionslied von 1905 »Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin«. In ihrem damaligen Verständnis übertrug sie den Inhalt auf das eben Erlebte, auf den »Zusammenbruch des Tausendjährigen Reiches«, dessen Ideologie noch tief und lange in den Menschen steckte. Für uns bestand das Neue Leben in erster Linie darin, dass der Krieg zu Ende war – Frieden, endlich Frieden, keine Ohren und Sinne betäubenden Sirenen, nicht mehr in den Luftschutzkeller oder in den Straßengraben müssen, nicht mehr umherirren, sondern versuchen, ein neues, ein anderes Dasein zu gestalten. Aber das war einfacher gesagt als getan. Als es einmal Streit zwischen uns Jungs gab, weil einer glaubte, zu wenig Brot bekommen zu haben, teilte meine Mutter einfach die Portionen auf. Und als dann die Woche verstrichen war, kam einer meiner Brüder zu mir und bat mich, ihm ein Stück Brot »zu borgen«. Ich gab es ihm, denn ich hatte weniger gegessen als mir zustand. Ich weiß noch genau, dass ich pro Woche zwei Pfund Brot bekam. Das waren knapp 143 Gramm pro Tag. In diesen schweren Zeiten brannte sich eine »Ethik des Brotes« in mein Herz. Man kommt sehr schnell dahinter, wenn man sich den Werdegang eines Stück Brotes verinnerlicht … Ehre das Brot, wirf nie ein Stück Brot weg, gedenke derer, die kein Brot haben … vergiss nie, was Hunger ist … Einmal erzählte mir Mutter, dass ihr eine Frau im Gespräch über den Hunger gesagt habe: Wissen Sie, wenn meine Kinder im Bett sind, da schneide ich mir erst einmal eine kräftige Scheibe Wurst ab. Die müssen das ja nicht sehen. Meine Mutter war von so einer Haltung entsetzt. Sie entgegnete nur: Lieber hungere ich, als dass ich meinen Kindern etwas wegnehme. Nach Definition der Welternährungsorganisation (FAO) tritt Hunger ein, wenn die tägliche Energiezufuhr für längere Zeit unter dem Bedarfsminimum liegt. Der Körper schränkt dann die körperliche und geistige Aktivität ein. Hunger raubt Initiative und Konzentrationsfähigkeit, macht apathisch. Die kognitive und physische Entwicklung von Kindern wird unumkehrbar beeinträchtigt. Knochen werden brüchig, weil Mineralstoffe fehlen. Immunglobuline und andere Eiweißstoffe im Blut verringern sich, die Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten sinkt. Der Winter 1945/46 war sehr schlimm. Es war eiskalt, wir froren und hatten Hunger. Von den Suppen aus roh geriebenen, zum Teil angefrorenen Kartoffeln, aus Brennnesseln, Futter- und Zuckerrübenblättern, den unausbleiblichen Darmkatharren wurden wir immer weniger und schließlich krank – Unterernährung und dazu die russische Krätze, eine Hautkrankheit durch Milben verursacht, die den Körper mit schrecklichen Juckreizen überfällt und sich zwischen Fingern, Zehen und auch auf dem Kopf als wässrig rötliches und eitriges Ekzem breitmachte. Ich war völlig entkräftet. Meine Mutter trug mich (und dann auch den zweitjüngsten Bruder) die Treppe hinauf unters Dach, wo sich unser Schlaflager befand. Der Reif glitzerte an den Dachziegeln und Balken … Wir lagen auf Strohschütten. Angewärmt wurden die Betten mit Ziegelsteinen, die auf die Ofenplatte gelegt wurden und die meine Mutter dann in Tücher wickelte und nach oben trug. Meine Beine wurden krumm und mein Brustkorb fiel zusehends ein. Schließlich brachte ein Taubenheimer, der gegenüber dem Volkshaus seine Autowerkstatt und ein Taxiunternehmen betrieb, drei von uns vier Jungs ins Krankenhaus nach Ebersbach. Als erstes wurden uns die Köpfe kahl geschoren, alle Krätzestellen mit Salbe bestrichen und mit Binden umwickelt. Wir sahen gespenstisch aus. Kräftemäßig wurden wir mit Marmeladen- und Zuckerbroten, mit Maissuppe, Traubenzucker und Lebertran wieder auf die Beine gebracht. Als wir schließlich nach Hause kamen, war die Krankenhausrechnung hoch. Die Fürsorge half uns zunächst, aber wir mussten alles auf Heller und Pfennig zurückzahlen. Ich weiß nicht, wie meine Mutter das geschafft hat. Und wie ich bereits vermerkte, auch beim Bäcker gab es für die Familie Vorwerk eine Extraseite im Buch »Anschreiben«. Wir aßen also auf Pump, weil wir bitterarm waren. Und es grenzt an ein unglaubliches Wunder, dass meine Mutter jeden Posten dem Bäcker zurückzahlte und wir eines Tages schuldenfrei waren. Ein anderes Problem war, uns einzukleiden. Meine Schwester nähte Blusen und Hosen aus Stoffresten oder sie trennte Sachen auf, die dann umgeändert wurden. An den Füßen trugen wir sommers Holzpantoffeln oder Holzsandalen, im Winter Holzschuhe. Derbe Arbeitsschuhe mit einer dicken Holzsohle waren das. Sie waren mächtig schwer. Ich entsinne mich auch eines besonderen Paars Schuhe, das ich von der Volkssolidarität bekam – es waren Mädchenschuhe, spitze Lackschuhe mit einer Lasche über dem Spann und Kugelverschluss. Durch die Spitze wurden meine Zehen so zusammengepresst, dass sich schließlich der mittlere Zeh über den anderen Platz verschaffte. An dieser Stelle werden auch heute noch die Strümpfe sehr schnell dünn …

Fantasien unterm Dach


Es waren vielleicht die reifglitzernden Dachziegel und Balken, die uns bei Nachtanbruch, wenn wir Jungs »zu Bett«, auf unser Strohlager, mussten, zu allerlei fantastischen Visionen und Spinnereien anregten. Wir rückten ganz dicht zusammen, um uns zu wärmen und deuteten die Gebilde aus Eiskristallen. Wir erspannen ein seltsames Szenario der Entrücktheit aus dem Elend. Dass die deutsche Luftwaffe während des Krieges Raketen eingesetzt und unter anderem Coventry und London in Trümmern, Angst und Schrecken versetzt hatte, war uns bekannt. Wir machten uns mit unseren Fantasien auf in eine völlig neue Zeit, in der es eine Weltgemeinschaft gab, in der zum Beispiel der schwedische König den Vorsitz hatte. Schweden war für uns ein Symbol der Neutralität. Er ordnete in unserer Fantasie an, Raketen zu konstruieren, die das Weltall auf der Suche nach außerirdischem Leben durchstreifen sollten. In unseren Fantasien, die wir hörspielartig ausmalten, in Szene setzten, waren wir keine Kinder mehr. Wir waren hochgebildete Wissenschaftler einer völlig neuen Generation, die solche Weltraumsegler konstruieren und bauen durften und die natürlich die Ersten waren, die sich hinaus in die Unendlichkeit des Weltalls wagten. Allein die fantastische Konstruktion so eines raketengetriebenen Weltraumschiffes malten wir uns plastisch aus. Es war eine Rakete mit...

Blick ins Buch

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