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E-Book

Immer noch kein Land in Sicht

Tollkühne Helden auf See

AutorEbba D. Drolshagen
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783492955287
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Von Stahl-Eiern, Minisegelbooten und schwimmenden Jeeps Mit einem Floß oder im fünfeinhalb Meter langen Stahl-Ei über den Atlantik. Mit einem selbstgebauten Segelschiff allein um die Welt. Im Jeep über den Atlantik, den Indischen Ozean und den Pazifik. Monatelang ohne Trinkwasser und Proviant auf hoher See oder aus Sehnsucht nach der Liebsten ohne jegliche Navigations- und Segelerfahrung von Panama nach Australien: Jenseits der radar- und GPS-gestützten Schiff fahrt spürt Ebba D. Drolshagen jenen erfinderischen Männern nach, die in wagemutigen Konstruktionen und auf riskanten Routen die Meere der Welt bezwangen. Die Unerschrockenheit und unbändige Abenteuerlust der Kapitäne versetzen den Leser in Bewunderung, aber auch in fassungsloses Staunen...

Ebba D. Drolshagen, geboren in Büdingen, wuchs bis zu ihrem fünften Lebensjahr in Norwegen auf. Heute lebt sie als Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Frankfurt am Main. Neben politischen Sachbüchern veröffentlichte sie bei Piper ihre erfolgreiche »Gebrauchsanweisung für Norwegen« und bei Malik ihre Sammlung skurriler Seeabenteuer »Immer noch kein Land in Sicht«. 

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Leseprobe
Vorwort   »Sie sind verrückt«, brüllte Angus, der gelernt hatte, seine eigenen Beschränkungen als sicheren Beweis geistiger Gesundheit zu werten. PATRICK WHITE - VOSS   Tote schreiben keine Bücher. Nur wer sein Abenteuer überlebt, kann davon berichten. Daher halten Sie eine Sammlung von Geschichten in der Hand, die (fast) alle ein Happy End haben. Sie handeln von kühnen, verrückten, verschrobenen, visionären Männern, von ihren Heldentaten, Torheiten, Obsessionen, von Träumen, Willenskraft und Leidensfähigkeit. Und sie sind alle wahr. Da es Geschichten mit glücklichem Ausgang sind, handeln sie auch von jenem Quäntchen Glück, ohne das nichts gelingt. Endet ein gewagtes Unterfangen tragisch, und sei es erst kurz vor dem Ziel, sehen die meisten Menschen in den Abenteurern keine tollkühnen Helden mehr, sondern Versager, Neurotiker, Phantasten, die in der Gefahr umkamen, in die sie sich idiotischerweise selbst begeben haben. Diese Menschen erheben die Stimme der Vernunft: Muss man Geld verpulvern und sein Leben aufs Spiel setzen, um einen Achttausender in Nepal zu bezwingen, die Antarktis auf Skiern zu durchqueren, an etwas Naturseide oder Nylon baumelnd aus einem Flugzeug zu springen? Welche Schraube ist bei einem locker, der alles daransetzt, um mit einem Schwimmwagen über Ozeane und Staubpisten die Welt zu umrunden? Ich bin eine solche kopfschüttelnde Stimme der Vernunft. Doch in mir ist auch eine ambivalente Faszination für Menschen, die solche eigenartigen Dinge tun (wollen). Oft - nein, beileibe nicht immer! - gefällt es mir nämlich, wenn jemand etwas sagt oder tut, was mir fremd ist. Das muss ich nicht verstehen. Ich kann es einfach nur anstaunen und mich wundern; ich erkenne mich in Sibylle Lewitscharoffs Satz, dass »Zeitgenossen, die mit ähnlichen Augen in dieselbe Welt schauen«, keine wirklichen Rätsel bergen. Und ich liebe Winston Churchills Bonmot »Wenn zwei Menschen immer dasselbe denken, ist einer von ihnen auf Dauer überflüssig.« Ich brauche sie also, diese Wagemutigen. Dass ich mich ausgerechnet in Ozeanbegeisterte vergucken musste, bestätigt das Gesagte vermutlich: Ich habe keine Ahnung von Seefahrt, das Liebste am Meer ist mir das Ufer, Booten und Schiffen, gleich welcher Größe, begegne ich mit einem gewissen Misstrauen. »Meine« Seefahrer hingegen legen sich auf gefährliche Weise mit dem Meer an. Sie brechen freiwillig zu Fahrten auf, die ich auf die eine oder andere Weise abwegig und ziemlich sinnfrei finde. Diese beiden Kriterien waren entscheidend, daher bleiben in meinem Buch waghalsige Unternehmungen zu Kriegszeiten ebenso ausgespart wie die Tragödien von Bootsflüchtlingen und Schiffbrüchigen. Mit wenigen Ausnahmen waren alle Seefahrer, deren Geschichten ich hier erzähle, auf dem Meer völlig auf sich gestellt, weil sie keine modernen Navigations- und Kommunikationsgeräte an Bord hatten. Der Grund hierfür ist nicht, dass sie besonders mutig oder puristisch waren, sondern dass es diese Hilfsmittel zu ihrer Zeit nicht gab. Diese Zeit liegt gar nicht so weit zurück, wie es einem angesichts der Allgegenwart von GPS, Mobilfunk und Satellitenüberwachung manchmal vorkommt. Die Extremsegler unserer Tage, die technisch hochgerüstet losziehen, interessieren mich wenig. Sie wissen zu genau, worauf sie sich einlassen (was bekanntermaßen nicht bedeutet, dass sie unter Kontrolle hätten, worauf sie sich hochgerüstet und gut vorbereitet einlassen!), und irgendwie kommt es mir so vor, als blieben sie dank ihrer vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten immer mit einem (Gedanken)Bein an Land. Dezidiert ausgespart bleiben auch Kinder wie die Holländerin Laura Dekker oder die Amerikanerin Abby Sunderland, die mit Billigung ihrer Eltern dazu aufgebrochen sind, allein um die Welt zu segeln, um dem Rekord der »jüngsten Einhand-Weltumseglerin« nachzujagen. Die Verantwortungslosigkeit ihrer Eltern empört mich dermaßen, dass ich darüber weder schreiben will noch kann. Gemeinsam ist meinen Geschichten auch, dass alle von Männern handeln. Das war nicht so geplant. Es war schwierig, überhaupt eine Frau zu finden, die in mein »Beuteschema« passte, aber immerhin gab es da die wunderbare Ann Davison, die 1952 ohne nennenswerte Segelerfahrung als erste Frau allein über den Atlantik gesegelt war. Sie schien ebenso kühn (oder verrückt) wie ihre männlichen Zeitgenossen. Ich schrieb ein Kapitel über sie, schrieb es um, verwarf es, fing von vorne an, bis ich endlich begriff, warum es mir immer wieder misslang: Sie war anders kühn bzw. verrückt als die Männer. Zumindest sprach sie völlig anders über sich und ihre Fahrt, als diese es taten. Wenn sie in ihrem Buch ... und mein Schiff ist so klein von dieser Erstleistung erzählt, dann klingt das, als sei sie ihr irgendwie passiert, als habe sie sie nicht wirklich geplant und im Grunde nicht sehr viel zu ihrem Gelingen beigetragen. Sie habe mit dieser Überquerung ihre Angst bezwingen wollen, schreibt sie. Und habe gelernt, dass der Mut, den sie suchte, nicht der Mut war, physische Angst zu überwinden, nicht das, was »einen Mann dazu befähigt, Gefahren ins Auge zu sehen«. Mut sei die kämpferische Fähigkeit, »zu wissen, dass man nichts Besonderes darstellt, und diese Tatsache mit Gleichmut anzuerkennen, ohne dabei in seinen Anstrengungen nachzulassen«. Sie habe Tausende von Meilen über den Ozean segeln müssen, um zu begreifen, dass dieser Mut der Schlüssel zum Leben sei. Sie demontiert mit jeder Seite ihres Buches das Bild einer heroischen, todesmutigen Atlantiküberquererin. Vielleicht dachten ihre männlichen Entsprechungen ähnlich. Gelesen habe ich es bei keinem. Daher wirkt sie neben ihnen wie eine Quotenfrau. Und das hat sie wahrlich nicht verdient.   Die Boote, mit denen sich die Männer dieses Buches aufs offene Meer gewagt haben, oder die Begleitumstände, unter denen das geschah, provozieren verzagtere Gemüter zu der verwirrten Frage: »Sie haben - was?« Die Bestätigung, dass sie das Unvorstellbare wirklich getan haben, zieht zwingend die Frage aller Fragen nach sich: »Warum sollte jemand das wollen?« Warum in aller Welt träumt jemand davon, sich buchstäblich bis aufs Blut zu schinden und in Lebensgefahr zu begeben? Masochismus ist nicht die einzige mögliche Antwort. Im Gegenteil, es gibt viel mehr Gründe, als man zunächst meinen sollte: Eine Theorie beweisen. Im Kampf gegen Konkurrenten oder die Elemente siegreich bleiben. Eins mit dem Meer werden. Dem Lärm entfliehen. Selbstüberschätzung, Geltungsdrang, Eitelkeit. Eigene körperliche und psychische Grenzen überwinden. Mit einer sensationellen Leistung Geld verdienen. Berühmt werden. Als Erster erreichen, was niemand für erreichbar hielt. Und vergessen wir nicht die schlichtesten und zugleich unerklärlichsten Gründe: Abenteuerlust. Unstillbares Fernweh. Das Fatale an dieser Liste ist, dass sie nur versteht, wer das Wagemutige schon in sich trägt, also ähnlich fühlt und denkt. Die vielen, vielen anderen nehmen diese und weitere Erklärungen interessiert zur Kenntnis, grübeln vielleicht sogar ein wenig darüber nach. Und fragen dann ratlos: »ABER WARUM?« Warum? Warum? Warum? Die einzig vernünftige Erklärung ist die legendär gewordene Antwort des Engländers George Mallory auf die Frage, warum er den Mount Everest besteigen wolle: »Because it is there.«*   Ebba D. Drolshagen Frankfurt am Main, im Winter 2011   * Das war im Sommer 1924. Mallory kam bei der Besteigung um, seine Leiche wurde erst 1999 gefunden. 1 Eine kleine Probefahrt über den Atlantik   Ole Brude und sein Ei-Boot       Ich begab aufs hohe, weite Meer mich Mit einem Schiff allein und mit der kleinen Genossenschaft, die nimmer mich verlassen. DANTE ALIGHIERI - DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE       Sie werden an dieser Geschichte mehr Freude haben, wenn Sie jetzt aufstehen, einen Zollstock holen und auf dem Fußboden fünfeinhalb Meter ausmessen. So haben Sie die Länge des Schiffs vor Augen, von dem die Rede sein wird und das im Übrigen ebenso breit wie hoch ist, nämlich zweieinhalb Meter. Runden Sie nun bitte (in Ihrer Vorstellung) diesen Würfel so ab, dass er einem Ei gleicht. Betreten Sie es und laden Sie drei erwachsene Männer ein, Ihnen Gesellschaft zu leisten. Schließen Sie dann - von innen - die Tür. Und nun zur Geschichte.   Unser Held heißt Ole Martin Brude. Er kam 1880 in Ålesund zur Welt, einem Fischereihafen an der norwegischen Westküste, und wurde, wie an jenem Ort und zu jener Zeit üblich, als 16-Jähriger Schiffsjunge. Zwei Jahre später geriet sein Schiff bei Neufundland in einen Sturm, es drohte zu sinken, und das hölzerne Rettungsboot zerschellte am Schiffsrumpf. Wäre das Schiff wirklich untergegangen, hätte sich die Mannschaft nicht retten können. Dieses Erlebnis schockierte Brude zutiefst, denn er hatte gesehen, wie instabil offene Holzboote waren. Und nachdem er einmal angefangen hatte, über Rettungsboote nachzudenken, erkannte er bald, dass sie Schiffbrüchige nicht vor Sturm, Wellen, Kälte oder Hitze schützten. Danach lag er, wie er später schrieb, »viele Nächte wach und grübelte darüber nach, wie ein zuverlässiges Rettungsboot aussehen müsste, aber ich kam zu keinem Ergebnis«. Brude hatte, wie sich zeigen sollte, viele Talente - das effektvolle Erzählen seiner eigenen Geschichte gehörte allerdings nicht dazu. Daher wissen wir nur, dass er etwa fünf Jahre lang grübelte, plante, rechnete und zeichnete, nicht aber, wann und wodurch er seinen Heureka-Moment erlebte und ihm die Idee seines Lebens kam, das Ei des Brude, sozusagen: Ein Rettungsboot, das gar kein Boot im herkömmlichen Sinne war, sondern vielmehr ein aus Stahlplatten konstruiertes Ei. Sobald ein Schiff in Seenot geriet, mussten die Passagiere (noch bevor das Schiff sank) in dieses Ei hineinklettern und es - von innen natürlich - verschließen. Dann war Nervenstärke und Zuversicht gefragt, denn Brudes Clou war, dass man, im Boot sitzend, den Untergang des Schiffs abwarten musste. Das Ei sinke zwar zunächst mit dem Schiff in die Tiefe, wenig später aber, versicherte er, tauche es von allein wieder an die Meeresoberfläche, wo es dann bei jedem Wetter bleibe. Das erinnert stark an die unsinkbaren und unversenkbaren Plastikentchen in der Badewanne. 1903 beauftragte der Norweger die Aalesunds mekaniske Værksted AS, nach seinen Konstruktionszeichnungen den Prototyp eines solchen Rettungsbootes zu bauen. Die Fertigstellung verzögerte sich, weil am 23. Januar 1904 in Ålesund ein Feuer ausbrach. Nach 16 Stunden stand im gesamten Stadtgebiet nur noch ein einziges Haus, auch Brude war obdachlos geworden. Das konnte ihn jedoch nicht beirren. Sein großer Plan würde an dieser Tragödie nicht scheitern. Und obwohl die Ålesunder jeden Handwerker zum Wiederaufbau brauchten, brachte er die Werft dazu, das vermutlich eigenartigste Gefährt zu bauen, das diese Anlage jemals verlassen sollte: ein rundum geschlossenes Ei aus Stahlplatten, 18 Fuß - fünfeinhalb Meter - lang, an der dicksten Stelle zweieinhalb Meter hoch. Auf der oberen Hälfte dieses »Dings« befanden sich ein U-Boot-artiger Ausguck mit vier »Glasventilen«, zwei enge Einstiegsluken und ein Mast. Es hatte ein Ruder und einen sogenannten Schwenkkiel, der in seichtem Gewässer hochgezogen werden konnte, besaß aber weder einen Motor noch Paddel. Auf den gut 13 Quadratmetern des Prototyps würden nach Brudes Berechnungen »vierzig Personen ganz bequem« Platz finden. (Haben Sie noch den Raum vor Augen, in den Sie gerade mit drei anderen hineingestiegen sind?) Nun musste er nur noch beweisen, dass seine Erfindung auch »auf völlig zufriedenstellende Weise manövriert und navigiert« werden konnte. Er hätte diese »Probefahrt«, wie er sie nannte, in den nahen Geirangerfjord oder auch ins etwa 170 Seemeilen (gut 300 Kilometer) entfernte Bergen machen und dabei den Nachbarn im Süden zeigen können, was für knallharte und findige Kerle die Ålesunder waren. Aber Brude hatte ein viel ehrgeizigeres Ziel: Er wollte der ganzen Welt zeigen, was für ein findiger Kerl er war. Dafür musste er ins amerikanische St. Louis, wo 1904 die Weltausstellung stattfand. Denn dort hatten die französische Regierung und ein reicher Amerikaner eine Million Franc für ein »revolutionär neues Rettungsboot« ausgelobt. Berücksichtigt wurden aber nur Boote, die bis zum 26. November vor Ort waren. Brude hatte sich mit seinem Boot angekündigt, und man hatte ihm einen Platz reserviert. Er war überzeugt, dass er gewinnen würde. Als sich sein Plan einer »größeren Reise« in Ålesund herumsprach, »meldeten sich so viele tüchtige Seeleute zu meiner Begleitung, dass mir die Wahl schwer wurde«. Er heuerte drei Mann an: Karl Thomas Hagevik Johansen und Lars Madsen Salthammer, beide Steuerleute wie er selbst, sowie Kapitän Iver Thoresen, der auch der Navigator sein würde. Thoresen hätte mit seinen 43 Jahren fast der Vater der drei anderen sein können. Warum sie bei Brude anheuerten, ist nicht zweifelsfrei geklärt, wir können aber davon ausgehen, dass sie es aus freien Stücken taten. Der Name des Gefährts jedenfalls schreckte sie nicht: Brude hatte es auf den rührenden Namen Uræd getauft - Furchtlos. Im Sommer 1904 gingen die vier Seeleute, die einander kaum kannten, zum Fotografen. Feierlich blickten sie in die Kamera, in Uniformen mit Goldknöpfen, an den Schildmützen eine Anstecknadel: das Brude-Ei in einem Rettungsring. Am 27. Juli 1904 verließ die Uræd, »von den brausenden Hurras einer tausendköpfigen, an der Abfahrtstelle versammelten Menge begleitet«, den Hafen. Auf dem handtuchschmalen Promenadendeck drängte sich die komplette Crew und schwenkte ihre Mützen. Acht Stunden später mussten sie wieder umkehren, weil durch die Schweißnähte Wasser drang. Auch wenn die Schuld nicht bei ihnen, sondern der Werft lag: Diese Rückkehr muss peinlich und angesichts ihrer Pläne beunruhigend gewesen sein. Wer will es Brude verdenken, dass er diese Blamage in seinem späteren Bericht über seine »Probefahrt« unter den Tisch fallen ließ. Am 7. August ging es dann wirklich los. Das war sehr spät im Jahr, sie würden den Nordatlantik nicht nur gegen die Hauptwindrichtung, sondern auch bei schlechtem Herbstwetter überqueren müssen - und eigentlich herrscht im September schon fast Winter. Der Grund für diesen ungünstigen Zeitpunkt waren der Stadtbrand und die lecke Hülle, aber Brude wendete die Missgeschicke zu seinem Vorteil: Das sei Absicht, er wolle die Seetüchtigkeit der Uræd »nicht nur bei schönem Wetter, sondern auch in den schweren, auf dem Atlantischen Ozean herrschenden Herbststürmen« beweisen. Er ging davon aus, dass sie binnen drei Monaten in New York sein würden, von dort sollte es über Binnengewässer bis nach St. Louis gehen. Nur zur Erinnerung: Wir sind im Jahre 1904, sie hatten selbstverständlich weder Seefunk noch satellitengestütze Orientierungs- und Überwachungstechnik. Navigiert wurde mit Kompass, Sextant und Seekarten. Sobald sie auf offener See waren, waren sie völlig auf sich gestellt, und zur Beschleunigung und Beeinflussung der Richtung gab es nur das eine Segel.   Haben Sie noch an den knapp 13 Quadratmeter großen Raum vor Augen, in den Sie sich zu Beginn hineingedacht haben? Das ist das Innere des Brude-Eis, in dem Sie mit Ihren drei Gefährten Wochen, ja Monate verbringen werden. Wie würden Sie das Ei zweckmäßig für vier Leute einrichten? Sie sind völlig frei in Ihrer Gestaltung, denn leider existiert keine Beschreibung, wie die Kajüte bei dieser Jungfernfahrt aussah. Natürlich gab es eine Kochstelle und einen Tisch mit Sitzbänken, in denen sich unter Klappdeckeln vier Schlafplätze verbargen. Die Proviantliste umfasste »für 4 Männer für 6 Mte.« etwas über fünfzig Posten, darunter 416 Kilo Brot, 25 Kilo Mehl, 350 Kilo Kartoffeln, 100 Kilo Butter, 50 Kilo Zucker und 5 Kilo Kakao, außerdem Petroleum »zur Beleuchtung und zur Füllung des Kochapparats«. In Tanks wurden 2 000 Liter Süßwasser mitgeführt, bei ruhigem Wetter sammelte ein Trichter am Mast zusätzlich Regenwasser - ruhig musste es sein, weil bei starkem Wind in der Luft und somit im Regenwasser zu viel Salz ist. Die Vorräte lagerten in vier getrennten Stauräumen in der unteren Bootshälfte, die von den zweieinhalb Metern Höhe abgezogen werden mussten. Die Männer konnten - wenn überhaupt - vermutlich nur im Ausguck aufrecht stehen. Nach vier Tagen näherte sich die Uræd dem äußersten Norden der Shetlandinseln. Sie wurde von einem Fischkutter gesichtet, dessen Besatzung überhaupt nicht begriff, was sie da sah: Sie hielten das bucklige Ding für ein Seeungeheuer, dann für einen Wal, aus dem eine Harpune ragte. Erst als sie Männer winken sahen, überwanden sie Furcht und Verwunderung und schleppten schließlich die Uræd in den Hafen von Baltasound. An sich hatte Brude schon jetzt die überlegene Seetüchtigkeit seiner Wal-Nuss bewiesen. Aber er hoffte auf das Preisgeld und auf internationalen Erfolg - beides gab es nur in den USA. Als die Uræd am 19. August wieder in See stach, war die komplette Crew an Bord, was beweist, dass die Männer nicht nur gegen Seekrankheit und Klaustrophobie immun, sondern wirklich furchtlos waren. Laut Brude waren sie überdies »in bester Laune und Verfassung«, weil sie nach der geglückten Nordseeüberquerung Vertrauen in ihr Bötchen gefasst hatten. Sie werden jedes Quäntchen Vertrauen gebraucht haben, denn nun wurde es wirklich ernst. Ihr nächstes Ziel war Neufundland. Vor ihnen lagen 1966 Seemeilen offenes Meer. Zwei Wochen später fielen die befürchteten Stürme über sie her. Es herrschte starker Wind aus Westen, also genau von da, wohin sie wollten. Die Uræd kam kaum voran und driftete zudem immer wieder vom Kurs ab. Der Wind, schrieb Brude, wurde zum rasenden Orkan, er »peitschte die Wogen haushoch empor, sodass uns in unserer Nussschale doch etwas beklommen ums Herz wurde«. Sie verloren beide Treibanker, die für gewöhnlich wie eine Art Notbremse wirken. Bei schwerer See verlangsamen sie ein Boot, lassen es nicht mehr so heftig schlingern und verringern somit die Gefahr des Kenterns. Kapitän Thoresen notierte in sein Tagebuch: »Die Tage sind so lang, wenn man gezwungen ist, sich zu verbarrikadieren und alles zuzuschrauben, damit das Meerwasser nicht hereinkommt. Jetzt sitzen wir wie Ratten in der Falle.« Hinzu kam die ständige Angst, von einem großen Schiff übersehen und gerammt zu werden.
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