Wirkfaktoren: Improvisieren in der Situation
Situative Aspekte der Improvisation
Wir hatten das Gefühl, dass an diesem Abend auf der musikalischen Palette noch etwas fehlte, dass etwas ergänzt werden musste, um eine Einheit zu schaffen. Das ist eine Sache von Professionalität. Und an einem Punkt hatte ich den – unausgesprochenen – Wunsch, etwas zu spielen, das die deutsche Tradition des Musikhörens aufgreift. Wir hatten den ganzen Abend versucht, gegen den Raum anzuspielen, aber „Straight No Chaser“ war ein Titel, der in diesem Raum schon zu Hause war. Der Anfang des Konzerts war bewusst blues, sogar die Ballade hatte blue notes. Wir konnten den Raum aus seiner örtlichen Bindung lösen. Darin liegt die große Kunst der Improvisation. Man kann aus dem Augenblick heraus einen Konzertsaal, der beispielsweise in Deutschland liegt, in ein anderes Land transportieren. Wenn aber schon vorher bekannt ist, welche Musik auf dem Programm steht, dann befinden Sie sich am Ende des Konzerts genau dort, wo Sie angefangen haben. In der Improvisation geht es aber um Kräfte. Kräfte, die in komponierter Musik nicht vorhanden sind. Bei der weiß man, was einen erwartet. (Keith Jarrett)
„Aus dem Augenblick heraus“: Improvisieren geschieht im „Hier und Jetzt“ einer spezifischen Situation. Damit wird der Moment, der Ort und das Zusammentreffen von Spielerinnen und Spielern bezeichnet. Sie improvisieren ein Musikstück, dessen Verlauf sich unvorhergesehen im Ganzen oder in musikalischen Details entwickelt. Jeder Beteiligte daran ist involviert und agiert in einer gemeinsamen Praxis, die durch individuelle Eindrücke und Befindlichkeiten gesteuert wird. Das entstandene Stück ist von der Situation seiner Entstehung nicht zu trennen. „Musikalische Strukturen gewinnen ihren Sinn in einer spezifischen, einer menschlichen Situation.“ (Brodbeck 2003, S. 18) Gehen wir in Richtung der musikalischen Formbildung noch weiter: „Die Erscheinung des Kunstwerks als ihre Form ist eine Funktion der Situation und nicht umgekehrt, wo ein Ideelles im Kunstwerk die Erscheinung prägt auch entgegen einer Situation.“ (Scheib 1999, S. 177)
In der musikalischen Spielsituation eines Konzerts, einer Probe, einer zufälligen Begegnung hören und handeln die Spielerinnen und Spieler in verschiedener Weise. Musik entsteht im vollen Bewusstsein dieses Zusammentreffens und seiner Bedingungen. Auch „die Besucher und die jeweilige Aufführung in ihrer speziellen Situation, mit ihren speziellen Anforderungen definieren Form, und nicht eine metaphysische oder musikimmanente oder geschichtsphilosophische Folgerichtigkeit oder Notwendigkeit.“ (Scheib 1999, S. 177) Die Arbeits- und Spielatmosphäre, in der man sich trifft, die Ansprache eines Probenleiters oder Lehrers beeinflussen ebenso wie die jeweilige Stimmung der Menschen und der Klang des Raums die Spiellust und die möglichen Ergebnisse. Jeder Spieler bringt darüber hinaus Erwartungen, Kenntnisse und eigene Vorstellungen mit, wie er sein Instrument beherrscht, was er musikalisch versteht oder was seine Vorstellung von einer möglichen entstehenden Musik ist.1
Spontanes Improvisieren in einer geschützten Situation
Immer wieder verblüffend ist die Reaktion von Teilnehmern meiner Workshops, denen nach einer kurzen Vorstellungsrunde gleich anfangs nur die knappe Aufforderung „Nun improvisiert!“ vorgesetzt wird und die sich in ein musikalisches Spiel begeben. Beim Sprung ins „kalte Wasser“ einer Improvisationssituation müssen sie sich ohne eine stilistische oder regelnde Vorgabe einfach auf ihr Zuhören und unmittelbares Verstehen verlassen.2 Das, was die Situation anbietet, muss angenommen werden: das Spielangebot der anderen, die Kalte-Wasser-Situation, eine geschützte Atmosphäre ohne Publikum und das Bewusstsein, dass alle in einer ähnlichen Situation sind (und gleich auch „drankommen“ dürfen). Egal welche Stilistik, welche Klangstruktur entsteht, alle machen die Erfahrung, aus dem Stand eine musikalische Situation gestaltet zu haben.
Diese ist bedingt dadurch, was geschieht, vor allem aber, wie die Teilnehmenden das Geschehende wahrnehmen und wie sie darauf reagieren wollen und können. Das kann aktiv sein, indem sie sich auf etwas konzentrieren, genau und fokussiert handeln. Das kann aber auch abschweifend sein, indem sie sich aus der Situation „wegträumen“, nur sporadisch spielen. Auch Nichtstun kann eben ein musikalisches Handeln sein. Musik entsteht, ohne dass man sich über Klänge, Länge, Struktur usw. vorher geeinigt hat. Niemand weiß, was kommt – man wird immer wieder herausgefordert, sich neu zu orientieren. Die gemeinsame „Nähe“ wird zum Maß des Wirklichen (Flusser 1994, S. 211), in das aber Vorerfahrungen einfließen und so einen Rahmen schaffen. „Alles, was geschieht, alles, was in uns geschieht, ist immer schon in einen Rahmen gestellt. Das bedeutet, dass wir nur in einem bestimmten Bezugssystem, mit einer bestimmten Einstellung, mit einer aufgebauten Erwartung, mit einem Vorurteil, also in einem bestimmte Rahmen etwas erkennen, ein Bild sehen […] uns an ein Ereignis erinnern […| Schmerz oder Lust empfinden.“ (Pöppel 2006, S. 18 f.)
Trotz eines – möglicherweise von negativen Vorerwartungen geprägten – Bezugssystems konstruieren Improvisierende die jeweilige Spielsituation vom ersten Moment an. Eine konzentrierte Atmosphäre, in der Neugier und Interesse vorherrschen, ist eine notwendige Voraussetzung fürs Gelingen, das damit auch einen neuen Rahmen (Erfahrung von Gelingen) erstellt. „Wichtige Bereiche eines Improvisationsworkshops bestehen denn erfahrungsgemäß vor allem aus ‚Vertrauen schaffenden‘ Maßnahmen, d. h. aus der alltäglichen Kunst, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie eigentlich längst besitzen, wonach sie suchen.“ (Biesenbender 2005, S. 79)
Direkte Erfahrung und Adhoc-Spielsituationen
Eine Herausforderung für Künstlerinnen und Künstler, Ensembleleiter oder Lehrkräfte ist, diese Atmosphäre herzustellen, alle Spieler in der Situation zusammenzubringen und ihre Konzentration zu erhalten. Dies geschieht nicht nur durch reizvolle musikalische Vorschläge, sondern vor allem durch beharrliches Vormachen und Bestehen auf einem zugewandten, nicht wertenden und offenen Umgang miteinander. Dieser kann in der Praxis vielfältige Ausformungen finden, die wir später genauer betrachten.3 Denn es gibt in diesem Sinne kein richtiges oder falsches Hören oder Handeln, sondern eine besondere Qualität der Wahrnehmung. Achtsamkeit für das, was geschieht, ist Voraussetzung für die Schaffung musikalischer Situationen, nur Achtsamkeit kann sie intensivieren (und kreativer machen). Damit ist zum einen gesagt, dass man sich selbst oder die anderen beachtet, wahrnimmt, zum anderen auch, mit welcher Einstellung man das tut: sensibel, offen und zugewandt. „Achtsames Hören bringt die Quelle der Kreativität zurück. Es entsteht eine Wahrheit hinter dem Klang, die sich der Sprache entzieht.“ (Brodbeck 2004, S. 18) Das unmittelbare Erleben ist immer gegenwärtiges Erleben, nicht abstraktes Erleben aus gedanklicher Distanz. Beides aber spielt ineinander im „grundsätzlichen Konzept der Komplementarität, dass also das, was gezeigt wird, und das, wie es gezeigt wird, sich gegenseitig bedingen und voraussetzen“ (Pöppel 2006, S. 21). Dann können sich Phänomene von musikalischem und emotionalem Energiefluss, „Vibrations“, wie die Jazzmusiker sagen, einstellen.
Das Umgehen mit situativen Aspekten lässt sich am deutlichsten bei den konzertierenden Improvisatoren ablesen. „Ein unübersehbares Merkmal der meisten improvisierenden Gruppen ist die kurze Dauer ihres Bestehens.“ (Bailey 1987, S. 184) Diese Auffassung vertritt Derek Bailey, der Verfasser des einflussreichen Buchs Improvisation. Kunst ohne Werk. „Musikalische Arterienverkalkung“ bei festen Gruppen ist seiner Meinung nach dafür verantwortlich: „die Musik wird vordergründig, dialoghaft, oder es kommt zu einem dauernden Herumreiten auf der Identität der Gruppe“ (Bailey 1987, S. 184). Die auf solche Weise „ausgelaugte“ Gruppe leidet laut Bailey darunter, dass etwas eigentlich „Undefinierbares“ definiert wird, etwas, das sich zwischen den Spielern als unbewusste Beziehung wie eine zweite Spur entwickelt. Der Reiz des Situativen schwindet. Tatsächlich ist es eine Fähigkeit des improvisierenden Musikers, mit vielen anderen „permanente Halb-adhoc-Beziehungen“ (Bailey 1987, S. 185) einzugehen. Man geht gemeinsam auf Tour, trifft sich am Veranstaltungsort X am Abend, um zu spielen, um dann weiterzureisen zum nächsten Spielort. Die künstlerische Performanz der Improvisation spielt sich auf zwei Hauptschienen ab: den Konzerten mit festen Formationen und den unvorhersehbare Situationen schaffenden Adhoc-Konzerten.
Situation und Beobachter
„Viele Systemtheoretiker verstehen ein System nicht als realen Gegenstand, sondern als Modell der Realität. Ein Modell ist nicht richtig oder falsch, sondern mehr oder weniger zweckmäßig. Die Abgrenzung von Systemen gegeneinander, das Herausgreifen bestimmter Elemente und bestimmter Wechselwirkungen und das...