1 Prolog – Winterthur im Mai 2008
Es ist Mai, die Cafés in der Altstadt von Winterthur verströmen schon ein sommerliches Flair. Ich bin Gast der Orientwoche und freue mich, ein wenig aus dem Alltag herauszukommen. Zudem geht es um interkulturellen Dialog und religiöse Toleranz, also Themen, die mich schon seit Langem beschäftigen. Die Vortragenden sprechen sehr kultiviert über den West-östlichen Diwan, den geistigen Austausch der Kulturen und das Miteinander der Religionen im Kanton Zürich. Dort leben 70 000 Muslime, und selbst in meiner Heimatstadt Wiesbaden, wahrlich nicht für ihr orientalisches Flair bekannt, gibt es 11 Prozent registrierte Muslime, und 41 Prozent der eingeschulten Kinder haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Doch Veranstaltungen dieser Art kenne ich bei uns nicht. Man bemüht sich im Kanton Zürich.
Die Orientwoche wird mit schöner Sufimusik eröffnet, und ein Erzähler rezitiert hinreißend aus Tausendundeiner Nacht. Ich höre wieder die Ney, Rebab und die Ud, sehe edle orientalische Gesichter und werde angesprochen auf mein Buch Das Fest der Derwische und was ich denn so vorhätte?
Am nächsten Morgen überfliege ich am Frühstückstisch die Züricher Zeitungen und bleibe bei einem Artikel über Pakistan hängen: Ohne Scheu nennt man die Dinge beim Namen. Die sogenannte Parteiendemokratie in Pakistan sei nichts als eine getarnte feudale Familienherrschaft, gleichgültig ob gerade der sich volksnah gebende Bhutto-Clan an der Macht ist oder die Familie des Großindustriellen Sharif. Eitle, machthungrige Herren allesamt, die sich gegenseitig ins Gefängnis bringen oder auf Rache sinnen. Der Regierungschef Gilani saß fünf Jahre unter seinem jetzigen Staatschef Pervez Musharraf im Gefängnis, der Bhutto-Gatte Asif Ali Zardari elf Jahre wegen Korruption. Benazir Bhutto wurde in die Luft gesprengt, ihr Vater Ali erhängt, der damalige Staatspräsident Zia ul-Haq im Flugzeug ins Jenseits befördert. Was für ein Land!
In sechs Wochen will ich es wieder bereisen und für Arte-Entdeckungen die Landschaften, die sozialen und kulturellen Verhältnisse links und rechts des Indus erkunden. Über dreitausend Kilometer durch ein Land, dessen Ansehen auf einen Tiefpunkt gesunken ist.
Glaubt man den gängigen Darstellungen, so ist Pakistan ein nukleares Pulverfass, voll mit Ausbildungslagern islamistischer Terroristen, Rückzugsgebiet der Taliban, Heimstätte des Opiumkartells und der Heroinproduktion, ausgestattet mit einem unauflöslichen Indienkomplex, feudalistisch und menschenverachtend und immer noch dem Bedürfnis ergeben, Amerika zu gefallen.
Viele dieser Klischees scheinen nicht zusammenzupassen. Es bleibt diese wunderbar undurchschaubare, anarchistische Mischung aus Widersprüchlichkeiten, die mich in den letzten zwanzig Jahren immer wieder nach Pakistan gezogen hat. Und immer war es ganz anders, als die Klischees nahelegen.
Das erste Mal kam ich 1989/90 nach Pakistan. Damals zeichnete sich der 1. Golfkrieg zwischen Saddam und Bush senior ab. Bis dahin hatte ich bevorzugt in Tibet, Indien, Nepal, der Mongolei und anderen asiatischen Ländern gearbeitet und mich mit dem Verständnis von Buddhismus und Hinduismus herumgeplagt. Erst die Realisation eines ZDF-Zweiteilers – Straße der Achttausender – führte mich nach Pakistan mit seinen Bergriesen K2, Gasherbrum 1 und 2, Nanga Parbat und Broad Peak. Schon damals stand das Land nicht gerade ganz vorne auf der touristischen Hitliste, aber zumindest Alpinisten und Trekker liebten den Karakorum Highway, Hunza, Ferry Meadow und so manche legendäre alpine Route.
Die Produktionsreise 1990, noch mit 16-mm-Kamera, Kran, Schienen, alles in 37 Kisten verpackt, wurde zu einem eindrücklichen Erlebnis. Der Monsunregen, der sonst im September aufhört, dachte in diesem Jahr nicht daran. Gegenden im Sindh und in Belutschistan, wo es jahrelang nicht mehr geregnet hatte, standen unter Wasser. Die Städte waren überflutet, in den Bergen brachen Dämme, Straßen rutschten ab. An einem Tag stürzten 300 Brücken über den Indus ein. Und mittendrin in diesem Riesenchaos unser Team mit den besagten 37 schweren Kisten. Tag für Tag staunten wir mehr über die schicksalsergebene Improvisationskunst der Pakistani: Mehrmals gerieten wir in völlig aussichtslose Situationen, und dann klappte alles irgendwie doch noch, obwohl die Straßen weg waren, die Ausrüstung in alle Richtungen verteilt lagerte und das Wetter allen sonstigen Gepflogenheiten widersprach. Nur zu Fuß das K2-Basislager zu erreichen gelang uns nicht. In Skardu warteten wir eine Woche, bis der Wind nachließ und die Armee zustimmte, uns in kleinen Hochgebirgshubschraubern zum Basislager des K2 zu fliegen, wenn auch nur für ein paar Stunden. Es war ein betörend schöner Tag und der Beginn zweier Beziehungen, die mein weiteres Leben prägen sollten: Der Chogori, der große Berg, wie die Pakistani den K2 respektvoll nennen, hatte sich wochenlang hinter Wolken versteckt. Als wir dann mit den libellenartigen Lama-Hubschraubern über den Baltoro-Gletscher flogen und endlich den zweithöchsten Berg der Erde erblickten, war dies ein Moment von ungeheurer Euphorie und Demut. Für zwei Stunden setzten uns die Armeepiloten am Basislager ab. Aktar Mummunka, unser Reiseorganisator, hatte eigens einen Trupp junger Bergsteiger zwei Wochen lang zum Basislager laufen lassen, weil nicht klar war, wie lange wir dort bleiben müssten, um den K2 ohne Wolken zu filmen. Als wir in gleißender Sonne und infolge der Höhenluft taumelnd aus dem Hubschrauber ausstiegen, kümmerte sich ein junger Bergsteiger mit Schneebrille und verbrannter Haut um uns. Er reichte uns Schalen mit einer hellroten, chemisch schmeckenden Flüssigkeit, die gegen die Höhenkrankheit helfen sollte. Wir waren kaum in der Lage, ein Stativ aufzustellen, der Schweiß rann in Strömen an uns herab, aber dieser Berg war einfach überwältigend, trotz der vielen anderen Bergriesen, die wir zuvor besucht hatten.
Der junge Bergsteiger, der uns vor dem Höhenrausch bewahrte, hieß Tayyab. Bei all meinen mittlerweile sieben Filmprojekten in Pakistan und Afghanistan und den Reisen im Umfeld des Buches Das Fest der Derwische ist er zum unverzichtbaren Helfer und Weggenossen geworden. Ein vielsprachiger Familienvater, mit hintergründigem schwarzen Humor und großer Liebe zu den Bergen und zu den Sufis. Ohne diese Eigenschaften kann man als Reiseorganisator in Pakistan auch nicht existieren.
Die zweite Beziehung, die sich an diesem Tag vor zwanzig Jahren anbahnte, sollte meinem Leben eine neue Richtung und geistige Orientierung geben, wenn alles auch sehr eigen anfing: Nach zwei Stunden holte uns der Hubschrauber vom K2-Basislager ab und brachte uns 1000 Meter tiefer in ein adlernestartiges Armeecamp auf 4500 Metern Höhe. Es handelte sich um einen Außenposten des Kaschmirkrieges, und die Soldaten mit ihren schweren Maschinengewehren sahen alles andere als glücklich aus. Es gab Suppe und wieder diese nach Chemie schmeckende Flüssigkeit gegen die Höhenkrankheit. Einer der Soldaten, mit langem Bart und ausgezehrt von der Höhe, war tief versunken in ein zerfleddertes und abgelesenes Buch von gewaltigem Umfang. Aha, dachte ich noch so bei mir: Ein lesender Soldat! Ab und zu musterte er mich, der ich damals nichts weiter als ein übermütiger Heißsporn war, der keinem Abenteuer aus dem Weg ging. Die Offiziere im Camp drängten zur Eile. Sie wollten uns loswerden. Denn um die Mittagszeit beginnt der Wind zu wehen, und dann ist an Fliegen nicht mehr zu denken. Bevor wir in den Hubschrauber einstiegen, der uns hinunter nach Skardu bringen sollte, fasste mich der bärtige Soldat an der Schulter und sagte in diesem typischen Pakistani-Englisch: »There is one woman in your country who knows Pakistani culture better than any Pakistani. She wrote many books, also this one. I give it to you!« Er gab mir seinen abgelesenen englischsprachigen Schinken, und erst auf dem Rückflug las ich den Titel: The Mystical Dimensions of Islam.
Autorin war die deutsche Harvardprofessorin Annemarie Schimmel. Sie war über den pakistanischen Urvater Muhammad Iqbal, einen Lyriker und Philosophen, der in Heidelberg studiert hatte, sehr eng mit der Kultur dieses Landes verknüpft und der beliebteste ausländische Gast in Pakistan. Schon zu ihren Lebzeiten benannte man einen Boulevard in Lahore nach ihr.
Nachdem ich die Filme fertiggestellt hatte, versuchte ich die Mystical Dimensions of Islam zu lesen. Ich verstand kein Wort, aber das sollte sich ändern. Ich schrieb der Professorin, und sie empfing mich in Bonn zum Tee. Es war von Anfang an eine aufregende Beziehung. Sie konnte inspirieren, und ihre Studenten und Doktoranden behandelte sie wie ihre Kinder. Sie wusste stets genau, wen sie vor sich hatte. Ein paar Bemerkungen, und ich hatte geistige Nahrung für Monate oder Inspiration für ein neues Projekt. In ihren letzten zehn Lebensjahren kam ich alle paar Monate zum Tee. Als mein Interesse am Sufismus wuchs, nahm sie mich mit zu Konzerten oder gab Bescheid, wenn sie mit geschlossenen Augen ihre unvergesslichen Vorträge hielt. Manchmal durfte ich sie fahren. Sie sprach unglaublich viele Sprachen, konnte Poesie vom Sindhi ins Urdu übersetzen und ist vermutlich seit Friedrich Rückert die kongenialste Kennerin, Übersetzerin und Liebhaberin der orientalischen Geisteswelt gewesen. Eine bezaubernde Person, ohne jeden Dünkel und immer bemüht zu helfen, etwas entstehen zu lassen. Auf ihrer Beerdigung in Bonn waren mehr Orientalen als Deutsche, und durch die Anwesenheit vieler Sufis und Derwische auf...