Im Laufe unseres Lebens entsteht aufgrund von Erfahrungen und Wissen ein Bild, das wir uns von uns selbst und von der Umwelt machen. Dabei nehmen wir unsere Umwelt „zentriert”, also mit uns selbst als Mittelpunkt unseres „persönlichen” Universums wahr. Das gilt für uns und für alle anderen auch. Das Bild, das wir von uns selbst entwickeln, nennen wir Eigenbild oder Selbstbild. Das Bild, das sich andere von uns aus ihrer Perspektive machen, nennen wir Fremdbild.
Im Allgemeinen nehmen wir aufgrund dieser zentrierten Wahrnehmung unserer Umwelt an, dass unsere eigenen Vorstellungen zum Beispiel von Führung und Autorität „wahr” bzw. „richtig” sind. Viele Führungskräfte fragen sich darüber hinaus kaum, welches ihre individuellen Verhaltensweisen sind und wie ihr Verhalten auf andere Menschen, zum Beispiel auf Mitarbeiter, Kollegen und Vorgesetzte, wirkt. Sich besser zu verstehen ist deshalb die Grundlage jeglicher ordentlichen Führungsarbeit. Es ist sogar eine grundlegende Forderung, welche die griechischen Philosophen und Denker mit dem „Erkenne dich selbst” ja nicht nur für Führungskräfte auf ihren Tempel gemeißelt haben.
1.1.1 Das Johari-Fenster
Im folgenden Fremdbildmodell geht es um Informationen über Ihre eigene Person. In diesem Modell werden die Informationen über eine Person in vier verschiedene Gruppen eingeteilt.
Abb. 3: Das Johari-Fenster (nach Joe Luft und Harry Ingham)
1. Informationen, die nur mir bekannt sind (Privatperson)
Hier geht es um Verhaltensweisen und Motive, die mir bekannt sind, aber nicht öffentlich bekannt gemacht werden. Dazu gehören zum Beispiel Geheimnisse, die ich in der Regel noch nicht einmal mit dem Ehepartner oder dem besten Freund teilen würde. Zu diesem Bereich der Zurückhaltung gehören jene Aspekte unseres Denkens und Handelns, die wir vor anderen bewusst verbergen – die „heimlichen Wünsche”. Aber auch im Berufsleben gibt es Beispiele: Zum Beispiel hält sich eine Führungskraft selbst in einem bestimmten Wissensgebiet für nicht kompetent und möchte das insbesondere vor seinen Mitarbeitern verbergen.
2. Informationen, die mir und anderen bekannt sind (öffentliche Person)
Dies ist der Bereich der freien Aktivität, der öffentlichen Sachverhalte und Tatsachen. Verhalten und Motive sind mir bekannt und für andere wahrnehmbar. In diesem Buch wird in vielen Beispielen immer wieder auf diesen Bereich Bezug genommen, also das rechte obere Feld im Johari-Fenster (Abb. 3). Dieser Bereich umfasst den Teil des gemeinsamen Wissens, also jene Aspekte unseres Verhaltens, die uns selbst und den anderen Teilnehmern der Kommunikation bekannt sind und in denen uns unser Handeln frei, unbeeinträchtigt von Ängsten und Vorbehalten erscheint. Hier sind wir quasi eine „öffentliche Person”. Zum Beispiel möchte ein Abteilungsleiter bei den Mitarbeitern gerne den Eindruck des kollegialen Vorgesetzten erwecken, der sie fördert und ihnen Handlungsfreiheiten einräumt. Zu diesem Bereich gehören aber auch eine ganze Reihe anderer Aspekte.
Achtung
Für eine sichere Kommunikation gilt: Je größer bei den beteiligten Kommunikationspartnern dieser öffentliche Bereich ausgebildet ist, desto abgesicherter läuft die Kommunikation. Dies bedeutet, dass das Risiko einer Fehlinterpretation in dem Maße abnimmt, in dem andere Gesprächspartner Informationen über einen selbst vorliegen haben.
Grenzverletzungen
Der Bereich der „öffentlichen Person” kann auch verletzt werden. Dann geht es darum, dem anderen deutlich aufzuzeigen, dass eine Grenze überschritten worden ist, wie es zum Beispiel bei einem persönlichen Angriff der Fall ist. Da diese Grenzverletzungen im täglichen Umgang auch ganz subtil geschehen können, ergeben sich Gesprächssituationen, bei denen man im ersten Moment nur ein „ungutes Bauchgefühl” hat. Wer das verspürt, sollte kurz innehalten und sich überlegen, ob eine Situation gegeben ist, in der dieser Bereich „Mir und anderen bekannt” nicht genügend berücksichtigt wurde. Dabei helfen Fragen wie die folgenden: „Kann der andere überhaupt verstehen, nachvollziehen, was ich hier meine?”, „Weiß ich wirklich genau einzuordnen, was der andere mir gerade sagte?”, „Kann ich das Verhalten des anderen akzeptieren?”
Abhängig von den Antworten auf diese Fragen ergibt sich gegebenenfalls sofort Handlungsbedarf, um durch gezieltes Nachfragen oder eine zusätzliche Erläuterung der eigenen Ausführungen oder dem Aufzeigen von Grenzen die Kommunikation durch Erweitern des Bereichs „Mir und anderen bekannt” wieder abgesichert möglich ist. Hier ein sehr einfaches Beispiel aus dem Alltag.
Beispiel
Stellen Sie sich vor: Ihr Chef und die Kollegen warten bereits seit zehn Minuten im Besprechungsraum und wollen mit der Sitzung beginnen, während Sie eben noch ein wichtiges Telefonat mit einem Kunden hatten. Gerade als Sie endlich mit Ihrem Notebook zum Besprechungsraum eilen wollen, klingelt wieder das Telefon. Das Display verrät Ihnen, dass es sich erneut um einen besonders wichtigen Kunden handelt. Nun völlig unter Zeitstress nehmen Sie das Gespräch an. Sie haben nun zwei Möglichkeiten, das Gespräch zu beginnen:
Möglichkeit 1: Sie versuchen, Ihren Gesprächspartner so schnell und gut wie möglich zu bedienen und ihn möglichst schnell wieder aus der Leitung zu haben, da die anderen Kollegen und Ihr Chef mittlerweile langsam ungeduldig werden.
Möglichkeit 2: Sie sagen Ihrem Gesprächspartner sofort nach der Begrüßung, dass Sie schon seit zehn Minuten in einer wichtigen Sitzung sein müssen, und fragen ihn, ob Sie ihn in eineinhalb Stunden zurückrufen können. Sie bitten ihn, kurz den Anlass des Anrufs zu nennen, damit Sie dann beim Rückruf bestens für ihn vorbereitet sind.
Im ersten Fall haben Sie zwar Ihrem Kunden geholfen, aber dieser wird sich nach dem Auflegen wahrscheinlich fragen, was denn heute mit Ihnen los gewesen sei – so kurz angebunden, fast schon unhöflich. Er wird zumindest irritiert sein.
Im zweiten Fall orientieren Sie sich an dem „rechten oberen Feld” im Johari-Fenster. Das bedeutet: Ihr Gesprächspartner ist sofort über Ihre aktuelle Situation informiert, kennt dies mit Sicherheit aus eigener Erfahrung, versteht also, warum Sie nur kurz angebunden mit ihm kommunizieren. Er wird nach dem Telefonat nicht irritiert sein, sondern ohne einen negativen Eindruck Ihren Rückruf abwarten.
Tipp
Sorgen Sie dafür, dass allen Gesprächspartnern die gleichen Informationen vorliegen. Das macht die Kommunikationssituation sicherer. Vermutungen oder gar Unstimmigkeiten können so vermieden werden.
3. Informationen, die nur anderen bekannt sind (blinder Fleck)
Der „blinde Fleck” beschreibt einen Bereich, der für andere sichtbar ist, mir selbst jedoch nicht bewusst. Hier geht es um verdrängte oder nicht bewusste Gewohnheiten. Dieser Bereich umfasst den Anteil unseres Verhaltens, den wir selbst wenig oder gar nicht, andere Personen dagegen recht deutlich wahrnehmen: unbewusste Gewohnheiten und Verhaltensweisen, Vorurteile, Zu- und Abneigungen. Hier können uns die anderen Hinweise auf uns selbst geben. Dieser „blinde” Bereich wird meist nonverbal, etwa durch Gesten, Kleidung, Klang der Stimme, Tonfall etc. anderen gegenüber kommuniziert und umfasst insgesamt das Auftreten. Wenn dieser Bereich sehr ausgeprägt ist, ist dies für eine effiziente Gesprächsführung oft hinderlich. Ein Beispiel ist der Tonfall und die Mimik, mit der die Führungskraft zu den Mitarbeitern spricht.
Wer kennt die Situation nicht? Man selbst hat sich seit Tagen vorbereitet, um auf der Abteilungsleitersitzung ein wichtiges Vorhaben vorzustellen. Die vorbereiteten Folien, der Vortragsleitfaden, alles passt und man geht konzentriert zu Werke. Bittet man aber nach dem Vortrag einen guten Kollegen um eine offene und ehrliche Rückmeldung, dann erfährt man meistens erst, wie der eigene Vortrag tatsächlich gewirkt hat. Man erfährt, wie viele Füllwörter man benutzt hat, ob man recht rege mit seinen Händen gesprochen hat oder gar die ganze Zeit am Stift gespielt hat.
Beispiel
In einem meiner Seminare hat ein Abteilungsleiter durch gezieltes Einholen von Feedback bei seinen Mitarbeitern herausgefunden, dass er aus deren Sicht viel zu häufig das Wort „wichtig” in Besprechungen benutzt. Ihm selbst war das überhaupt nicht aufgefallen, dennoch wussten alle Mitarbeiter darüber Bescheid und warteten schon auf den Augenblick, wenn er das nächste Mal „wichtig” sagen wird. Die Absicht, mit dem Wort „wichtig” ihm wichtige Dinge hervorzuheben, verkehrte sich dabei geradezu ins Gegenteil: Da nun sehr, sehr viele Dinge immer wichtig waren, war keiner der Punkte besonders wichtig! Der unbewusst häufige Gebrauch des Worts „wichtig” hatte sich bei diesem Abteilungsleiter eindeutig zu einem blinden Fleck entwickelt.
Was ist so problematisch an blinden Flecken? Sie können einen selbst stark verunsichern. Dies geschieht aus folgendem Grund: Nehmen wir einmal an, Sie sind bei einem Vortrag angespannt und bemerken überhaupt nicht, wie Ihre Hände permanent mit einem Kugelschreiber spielen. Ihr Publikum hat aber sehr wohl amüsiert wahrgenommen, dass bereits die ersten Strichmännchen auf Ihrem Konzeptpapier entstehen. Diese Situation ist deswegen problematisch, weil Sie die amüsierte Reaktion Ihrer Zuhörer unbewusst registrieren. Da Ihre Ausführungen aber...