Der Moment der Verletzung
Wenn ein Kind hinfällt und sich dabei wehtut, dann erlebt es zunächst einen kurzen Moment der Starre, es ist überrascht und irritiert. Es braucht ein, zwei Sekunden, manchmal auch etwas länger, bis es seinen Schmerz wahrnimmt, ihn spürt und zu weinen anfängt. Es ruft nach seinen Eltern. Sie, andere Erwachsene oder ältere Kinder kommen herbei und heben es auf. Sie schauen die Verletzung an und leisten wenn nötig Erste Hilfe und versorgen die Wunde. Vor allem sind sie körperlich spürbar da. Das Kind fühlt sich durch ihre Präsenz beschützt.
In den frühen Tagen der Menschen war ein Kind ganz besonders angreifbar und wäre anderen Mitgeschöpfen leicht zur Beute geworden, ganz besonders, wenn es auch noch verletzt war. Ein Kind ist schwach. Seine einzige Überlebensstrategie besteht darin, Aufmerksamkeit zu erregen und sich von anderen auffangen zu lassen. In ihrem Schutz spürt es Geborgenheit, das wirkt beruhigend. Es ist nicht allein in seinem Schmerz. Vielleicht weint es noch ein wenig, allmählich kann es loslassen, sein Schluchzen verebbt. Auch wenn sein aufgeschlagenes Knie weiterhin wehtut, der Schmerz verändert sich.
Die Welt des Kindes zieht sich im Moment der Verletzung blitzartig zusammen auf dieses kleine verletzte Areal über der Kniescheibe. Auf diesen Schmerz konzentriert sich die gesamte Wahrnehmung des Kindes. Es spürt sich selbst nur noch dort. Es gibt nur noch diesen Schmerz. Die unmittelbare Nähe der Mutter oder einer anderen vertrauten Person, ihre Wärme, ihre Ruhe und Kraft führen dazu, dass sich der Zustand des Kindes ihrem Zustand allmählich angleicht. Sein Atem wird tiefer, das Herz schlägt ruhiger, es lässt die Anspannung der Muskeln los, sein Brustbereich, der sich im Moment der Verletzung krampfartig zusammengezogen hatte, weitet sich wieder. Auch ist seine Wahrnehmung weniger eingegrenzt, das Kind kann jetzt auch wieder anderes spüren als sein verletztes Knie, zum Beispiel wie die Mutter es liebevoll in ihren Armen hält. Es hört den vertrauten Klang ihrer Stimme. Dadurch löst und wandelt sich der Schmerz allmählich. Mehr und mehr lässt das Kind los. Bald kann es wieder aufspringen und sich der Welt und ihren Reizen neu zuwenden.
Eine Veränderung hat stattgefunden. Die Welt war in einem einzigen Moment zusammengestürzt. Sie wird wohl nicht mehr ganz so sein wie zuvor, als das kleine Kind so unbekümmert durch den Garten gelaufen war. Es hat erkennen müssen, dass es Hindernisse beachten muss, mit denen sein kleiner Körper kollidieren kann. Es hat auch erlebt, dass es Schmerz gibt und dass glücklicherweise auch Menschen da sind, die ihm zu Hilfe kommen und seine Welt wieder aufrichten. Dank ihrer Anwesenheit, ihrer Ruhe und dem Rückhalt, den sie ihm geben, geht es durch den Schmerz und lässt ihn, nachdem es ihn durchlebt hat, auch wieder los.
Auch nach einer seelischen Verletzung ist die Welt für das Kind eine andere. Das einfache Orientierungssystem von »angenehm« und »unangenehm«, von »gut« und »böse« differenziert sich. Es erlebt, dass der liebe Sandkastenfreund, mit dem das Spielen sonst so viel Freude bringt, nicht immer nur nett ist, und dass es bei aller Harmonie Interessengegensätze und Grenzen gibt. Als es nach dessen Schaufel greift, wird der Sandkastenfreund böse und haut damit. Die Tante, die ihm eben noch Schokolade gegeben hat, schüttelt nun den Kopf und legt den Rest in die Dose. Die älteren Kinder, die sonst so freundlich sind, lassen es nicht mitspielen und schicken es fort. Es stößt an Grenzen und jede Kollision verändert sein Bild von der Welt. Es wird von Mal zu Mal differenzierter. Es nähert sich mehr und mehr der Welt da draußen an, wie sie ist. Ein Dialog findet statt, die Welt reagiert auf die Versuche des Kindes, sich im Leben zurechtzufinden. Sein Misslingen oder sein Gelingen, sein Versagen oder sein Erfolg wird beantwortet mit Schmerz oder mit Freude.
Stress im Erleben
Wenn ein Mensch bedroht oder gar physisch angegriffen wird, gerät er in Stress. Ganz von selbst reagiert unser Körper so, wie es die Natur für die Sicherung des Überlebens unserer tierischen und frühen menschlichen Vorfahren in der Wildnis vorgesehen hat. Zu unseren ererbten Reaktionen gehören etwa verstärkte Adrenalinausschüttung, die Erhöhung des Muskeltonus, aber auch Veränderungen unserer Wahrnehmung und unseres Denkens. Die Wahrnehmung fokussiert sich einzig und allein auf das, was uns bedroht. Alle anderen Reize sind in dem Moment nicht wichtig und werden ausgeblendet. Unser Großhirn wird weitgehend abgeschaltet, der Zugang zu unserem Wissen spielt in diesem Moment keine Rolle, es geht allein um das Überleben in der Bedrohung. Die Entscheidungsmöglichkeit wird begrenzt auf Angriff, Flucht oder das Sich-tot-Stellen, und nicht einmal diese Entscheidung treffen wir willentlich, damit wären wir viel zu langsam. Sie wird uns abgenommen. Mit anderen Worten, wir sind im Stress bestens ausgerüstet für den Überlebenskampf in der Steinzeit, bei dem es einzig darum geht, unser Leben zu erhalten. Allerdings ist dieses genetische Erbe für uns Heutige in unserer komplizierten zivilisierten Umwelt eher zum Hindernis und zur Last geworden.
Stress bei seelischen Verletzungen
Jeder körperliche Angriff und jede körperliche Verletzung ist zugleich auch eine seelische Verletzung. Wir wünschen uns ein Leben ohne Bedrohung und Niederlagen, wir wünschen uns Unversehrtheit und Wohlergehen. Es kommt zu einer physischen Kollision und wir reagieren als ganzer Mensch darauf mit unserem Denken, unserem Körper und unseren Gefühlen. Ebenso sind die Auswirkungen von seelischen Verletzungen keineswegs allein auf unsere Gefühle beschränkt. Mit ihnen verändern sich zugleich auch unsere körperliche Befindlichkeit und unsere Art zu denken. Und das Denken wirkt sich wiederum auf unsere Gefühle und auf unsere körperliche Befindlichkeit aus. Wenn wir nicht aufpassen, drehen wir uns in unserem Schmerz im Kreis und erneuern ihn damit ständig.
Manche seelischen Verletzungen kommen schleichend und heimlich auf uns zu und sind kaum zu greifen. Andere hingegen treffen uns plötzlich und direkt wie ein Schlag ins Gesicht. Wenn wir uns angegriffen und seelisch verletzt fühlen, dann kann auch in diesem Moment unsere Stressreaktion aus der Steinzeit ausgelöst werden, mit all ihren Folgen auf Körper, Wahrnehmung und Denken. Wir sehen dann nur noch unsere Verletzung und unseren Schmerz. Begleitende und mildernde Umstände können wir nicht mehr erkennen, ebenso wenig sehen wir, dass wir vielleicht selbst etwas dazu beigetragen haben, dass es so weit kam. Wir haben die Zwischentöne verloren, weder Wahrnehmung noch Denken sind jetzt noch in der Lage, zu differenzieren. Wir sehen Schwarz oder Weiß, betrachten andere als Freund oder als Feind, bewerten sie und ihr Verhalten als gut oder böse. Diese Art wahrzunehmen und zu denken fragt nicht nach Ursachen, sondern sucht nur den einen Schuldigen. Zur Lösung eines zwischenmenschlichen Problems sind wir in einer solchen Situation am wenigsten fähig. Greifen wir an oder ziehen wir uns kampflos und beleidigt zurück? Oder stellen wir uns tot?
Und noch etwas passiert: Wir werden aufgeladen mit einer Spannung, mit Energie. Sie kann sich im Moment des Angriffs zu unserer Verteidigung entladen oder wir tragen sie als zähe und lähmende Last weiterhin mit uns. Nicht allen gelingt es, sie in einigermaßen konstruktive Bahnen zu lenken. Wir müssen Aufmerksamkeit und Energie aufbringen, um sie auszurichten und nutzbar zu machen oder sie unter Kontrolle zu halten. Ansonsten könnte sie sich zum Beispiel aggressiv gegenüber dem entladen, der uns verletzt hat, oder vielleicht sogar unbemerkt von uns sich gegen Unbeteiligte und Schwächere oder gegen uns selbst wenden.
Oft befindet sich die Person, die uns verletzt, selbst auch in einem Stresszustand. Dann begegnen wir uns wie einst im Neandertal, mit dem Unterschied, dass wir gewöhnlich nicht handgreiflich werden. Der Konflikt kann auch anderweitig eskalieren und ist erst dann lösbar, wenn beide ihren Stress abgebaut haben.
Unsichtbar, doch spürbar
Die Reaktion auf seelische Verwundungen verläuft ähnlich wie bei körperlichen Verletzungen. So wie bei einem aufgeschürften Knie kann es einen kleinen Moment dauern, bis die eintreffende Information als Schmerz wahrgenommen wird. Auch bei der seelischen Verletzung zieht sich die Welt des Getroffenen in diesem einen Moment so eigenartig zusammen, sie reduziert sich allein auf den verletzten Bereich und auf den Schmerz. Alles andere scheint nicht mehr zu existieren.
Sich zusammenziehen ins Innerste
Körperliche Verletzungen und Schmerz führen zu einem Zusammenziehen und Erstarren des Körpers. Wer sich verbrennt, zieht die Hand zurück. Wer in einen Dorn getreten ist, verharrt in genau dem Moment seiner Bewegung. Jeder weitere Schritt könnte den Dorn tiefer in den Fuß treiben. Durch jede ausfahrende Bewegung könnte man sich noch mehr verletzen oder den Angreifer reizen. Das geschieht spontan und blitzschnell. Ein Mensch, der sich beim Gurkenhobeln geschnitten hat, reagiert auf diese Weise ebenso wie eine Person, die sich erschreckt oder unvermutet körperlich angegriffen wird. Bei seelischen Verletzungen ist es nicht anders. Vielleicht ist es weniger deutlich, doch ein Betroffener reagiert mit demselben Zusammenziehen des Körpers.
Wenn wir in der Bedrohung reflexhaft unsere Schutzhaltung einnehmen, krümmen wir uns zusammen, wir machen unseren Rücken rund, ziehen unsere Beine an, sodass unser Bauchraum nicht getroffen werden kann, wir halten uns die Arme vor die Brust, die Hände vors Gesicht. So zusammengezogen können wir Schlägen und Misshandlungen noch...