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LACHFALTEN
Wenn es passiert, geht’s gewöhnlich ruckzuck.
Ich saß auf dem Balkon meines Apartments im West Village und wartete – ohne dass mir mein Warten auch nur ansatzweise bewusst war. Im Sommer liegt eine undefinierbare Lähmung in der New Yorker Luft. Die leeren, leblosen Straßen vermitteln den Eindruck, als hätten Gott und die Welt das Weite gesucht, um in die Berge zu fahren oder zum Strand. Nur die Versager und Tunichtgute sind noch im Village unterwegs und schlurfen durch die Gassen mit den roten Backsteinhäusern.
Doch dann, ohne Vorwarnung, kamen die Rolling Stones – und entführten mich in eine andere Welt. Es erinnerte mich ein wenig an den Traum meiner Kindheit, in dem ich von zu Hause ausreiße und mich einem fahrenden Zirkus anschließe. Der Jahrmarkt. Die Attraktionen. Herkules, der stärkste Mann der Welt. Das Riesenrad, das sich unter dem matten Himmel von Kansas dreht.
1994 war ich immerhin schon sechsundzwanzig Jahre alt – und diesmal waren es auch nicht Zirkusleute, sondern die Stones, die durch Amerika tingelten. Der Rolling Stone, die »Bibel der Rockmusik«, wie sie damals genannt wurde, hatte mir den Auftrag erteilt, ihre US-Tour zu begleiten und darüber zu schreiben. Meine Apathie war wie weggeblasen.
In den beiden nächsten Wochen ging’s kreuz und quer über den amerikanischen Kontinent. Ich stand in der Spelunke, in der sie ihren Warm-up-Gig spielten, betrank mich bei den Stadionkonzerten unter freiem Himmel, lungerte in Hotellobbys und Umkleideräumen herum, lehnte an einer Lautsprecherbox am Rand der Bühne, sah meine Heimat mit den Augen eines Rockstars, erlebte Flughäfen und Städte nur noch als Fata Morgana und lernte, dass die einzige Realität die Realität der nächsten Show ist. Ich saß neben Keith Richards im Stones-eigenen Flieger, alberte mit Mick Jagger herum (der mich zuerst aufzog, weil meine Haare zu lang waren – und dann noch mehr, als sie kurz waren), diskutierte mit Charlie Watts über New Orleans und den amerikanischen Bürgerkrieg, saß nachts allein im Hotelzimmer und hörte Jazz, trank Whisky mit Ron Wood und Bobby Keys, als sie die Nachricht erhielten, dass ihr Freund und Kollege Nicky Hopkins in Nashville gestorben war. Keys verzog das Gesicht, stürzte vier Fingerbreit Jack Daniel’s in sich hinein und hatte Tränen in den Augen.
Als wir in New York Station machten, waren wir nur einen Steinwurf von meinem Apartment entfernt, doch meilenweit von meinem alten Leben. Aus dem Sommer war Herbst geworden, Manhattan glitzerte, überall endlose Avenues. Ich verbrachte einen ganzen Tag in der Radio City Music Hall, wo die Stones für die MTV Video Music Awards probten. Der Auftritt sollte die Verkäufe ihres neuen Albums Voodoo Lounge ankurbeln, doch für die Musiker war es nur ein Stopp unter vielen. Ich verzichtete darauf, in meinem Apartment vorbeizuschauen oder Freunde zu treffen. Der Zirkus hatte in meiner Stadt haltgemacht, doch ich war inzwischen auf einem anderen Planeten heimisch geworden. Die Nähe zu all den Schwertschluckern, Hochseilartisten und menschlichen Mutanten hatte unweigerlich auf mich abgefärbt.
Ich zog es vor, backstage mit der Band abzuhängen. Ich verfolgte, wie Keith und Ron Wood ihre Akustikgitarren rausholten und Songs von Hank Williams spielten – oder wie Mick durchs menschenleere Auditorium lief und auf der Mundharmonika das aufputschende Intro von »Love Is Strong« blies. Auf dem Weg zu den Umkleideräumen hatte ich eine Begegnung, die sogar mein Tête-à-Tête mit Joe DiMaggio in den Schatten stellte (vor einem Spiel diverser Baseballlegenden wurde ich einmal Zeuge, wie er die Reporter anschnauzte: »Can’t you sons-of-bitches see I’m naked?«). Hinter dem Vorhang stolperten Jagger und ich über Bruce Springsteen, der uns etwas misstrauisch beäugte. Ich kannte den Blick noch vom Football-Team in der Highschool, wenn sich zwei rivalisierende Linebacker unter die Lupe nahmen. Mick und Bruce machten etwas Small Talk und tauschten sich über den anstehenden Gig aus. Mick stellte mich als seinen »guten Freund« vor. Als wir dann weiterzogen, zuckte er mit den Schultern, mimte den Lausbub auf dem Spielplatz und flüsterte konspirativ: »Well, you know, Bruce, he gives a very long concert.«
Nach dem Auftritt schmiss Virgin Records für die Stones eine Party. Im Four Seasons auf der 57th Street – um Mitternacht noch menschenleer – stapelten sich dann um zwei Uhr morgens die Rockstars, deren Poster früher unsere Jugendzimmer schmückten. Musik, Leder, Lidschatten, hochhackige Stiefel und Gin, so weit das Auge reichte. Micks Presseagent zog ihn zur Seite und meinte, dass Steven Tyler gerne ein Foto mit ihm machen würde – »nur zu zweit«.
»Und, was meinst du?«, fragte Jagger.
»Ich würde dankend ablehnen«, sagte der PR-Mann. »Tyler möchte, dass Aerosmith auf Augenhöhe mit den Stones wahrgenommen wird, aber mal ehrlich … Wir wissen beide doch, was Sache ist, Mick. Oder?«
Dann erzählte er von einem druckfrischen Artikel in der New York Post, in dem enthüllt wurde, dass die Band gerne auf das gerade angesagte »Body Waxing« zurückgreife. Autorin des Artikels war eine Journalistin, die im Lauf der Jahre regelmäßig über die Stones berichtete. »Sie hatte immer den direkten Zugang zur Band«, sagte der PR-Mann. »Schauen wir doch mal, wie dumm sie aus der Wäsche guckt, wenn sie plötzlich draußen steht.«
Ich erinnere mich noch an Micks Choreografen, der ein ungewöhnliches Interesse an mir zu entwickeln schien, mich in einer Ecke festnagelte und darauf bestand, »nach oben zu gehen und einen Joint zu rauchen«.
Kaum hatte ich mich aus dieser Situation befreit, fand ich mich im Kreise diverser Rock-’n’-Roll-Legenden wieder: Steve Winwood von Traffic, ihr Drummer Jim Capaldi, Ron Wood und Keith Richards. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen Charakter, doch im Gesicht waren sie sich verblüffend ähnlich: zerknittert und verwittert, wie ein Stück mürbes altes Leder, das durch ständigen Missbrauch eine ganz eigene Art von Schönheit entwickelt hat. Ein älterer Typ, der Jagger aus der Nähe zu sehen bekam, sagte einmal: »Du hast ja mehr Falten als ich.« Worauf Jagger antwortete: »Alles nur Lachfalten.« Der Typ brach in schallendes Gelächter aus. »So viel Anlass zu lachen gibt es auf der ganzen Welt nicht«, sagte er.
Was natürlich ein krasser Irrtum ist. Jagger hatte allen Grund, sich köstlich zu amüsieren. Es war ein kosmischer Scherz, dass gerade diese Generation dem Schicksal ein Schnippchen schlug – einem Schicksal, das für sie eigentlich ein stumpfsinniges Leben in Fabriken oder Versicherungskonzernen vorgesehen hatte. Stattdessen stolzierten sie plötzlich wie mittelalterliche Prinzen über die Bühne und lebten ein Leben, das bislang nur dem ausschweifenden Adel vorbehalten war.
Jeder Mann in diesem Kreis war mit einem Charisma gesegnet, das sich gerade aus ihren Exzessen speiste. Sie hatten zu viel gezecht und zu wenig geschlafen, hatten bereits schlappe Hirnlappen und knorrige Finger – aber bei Gott: Sie konnten spielen. Sie waren die Letzten einer Generation großer Rockstars, die inzwischen ebenso vom Aussterben bedroht ist wie der Schneeleopard. Diejenigen, die überlebt haben, sind die kostbaren Relikte einer lang vergessenen Ära, in der Musik mehr zählte als alles andere – in der man tatsächlich noch glaubte, dass das nächste Album alle Probleme dieser Welt lösen könne. Die Männer hier vor mir waren die menschlichen Manifestationen dieses Glaubens – Helden, die die Revolution auf den Weg gebracht hatten und ihr bis zum bitteren Ende folgten.
Da standen sie nun, lachten, tranken und erzählten sich schmutzige Witze. »Kennt ihr den von dem Pianisten, der seinem Produzenten neue Songs vorspielt?«, fragte Capaldi. »Also, er spielt zwei wundervolle Songs und sagt: ›Kennt ihr die schon? Der erste heißt Mein Schwanz Ist Lang und der zweite Mein Penis Ist Riesig.‹ Danach geht er auf die Toilette. Als er zurückkommt, sagt der Produzent: ›Kennst du den schon? Dein Hosenschlitz steht auf und dein Schwanz hängt raus.‹
›Ob ich den kenne?‹, sagt der Pianist. ›Den Song hab ich geschrieben!‹«
Richards biegt sich vor Lachen und kriegt sich überhaupt nicht mehr ein. »Ob ich den kenne? Den Song hab ich geschrieben!«
Noch während die Männer lachen, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Ich hatte schon immer das dumpfe Gefühl, dass es diverse Leute auf diesem Planeten gibt, die deutlich mehr Spaß hatten als ich. Ich hatte schon immer den Eindruck, als müsse es rauschende Partys geben, von deren Existenz ich nur nichts wusste. Und da war sie, die Party! Direkt vor meinen Augen! Ich brauchte nicht mehr meine Mailbox nach Einladungen zu durchsuchen, ich musste mich nicht mehr in meinem Bekanntenkreis schlaumachen und fragen, wo ich denn hingehen solle. Ich war mitten auf der besten Party der ganzen Welt! Zum ersten Mal in meinem Leben war ich genau da, wo ich sein wollte.
»Was ist denn mit dir?«, sagte Capaldi. »Hast du auch einen Witz auf Lager?«
Ich verneinte und räumte ein, grundsätzlich eine Niete zu sein, wenn’s ums Erzählen von Witzen gehe.
Steve Winwood schaute mich an. Genau genommen fixierte er mich – so, als hätte er mich zum ersten Mal wahrgenommen. Winwood gehört natürlich dem englischen Rockadel an, hatte »Back in the High Life Again« und »Higher Love« geschrieben und war zuvor die treibende Kraft hinter der Spencer Davis Group, Blind Faith und Traffic gewesen. Er war sechsundvierzig Jahre...