Prolog
Es wird die Reise seines Lebens sein. Sie wird ihn noch einmal in das Land führen, in dem sie ihn töten wollten. Nach Deutschland. Ausgerechnet dorthin will er umziehen, um zu sterben. Und um vorher noch ein wenig zu leben.
Ein Tag im Mai 2016 in Israel. Er hat gerade überlegt, was er noch braucht für diese Reise, fast so wie damals vor 74 Jahren, als alle Wege ins Nichts wiesen. Heute sind da kaum Dinge, von denen einer wie er sich nicht trennen könnte. Sein guter Anzug kommt mit, ein paar Bücher, die Blutdrucksenker. Sonst lässt er alles hier zurück.
Als er ein Junge war, hat ein berühmter Deutscher ihm das Leben gerettet. Seitdem braucht er nicht viel zum Leben.
Er öffnet die Fenster seiner kleinen Wohnung in Haifa. Der Frühling weht in sein Wohnzimmer. Gerade hat es geregnet auf die Erde vor seinem Haus. Die Luft dort draußen duftet nach nassem Staub und Orangenbäumen. Nach Israel. Drinnen in seinem Wohnzimmer riecht es nach Kernseife und dem Holz seiner alten Möbel. Und nun auch nach Mai und einem letzten Aufbruch.
Nur wenig aus seinem Leben hat er in einen Koffer gepackt. Seine Wohnung ist fast leer geräumt. Die Zeiger der Schrankuhr sind schon vor längerer Zeit stehen geblieben. Dabei verrinnt seine Zeit doch so schnell, dass er sie fühlen kann wie seinen viel zu hohen Puls. Die gerahmten Bilder seines Lebens hat er abgehängt. Von ihnen blieben nur Schatten aus Staub an der Wand. Daneben eine Kopie von Beethovens Totenmaske.
Draußen vertreiben die Strahlen der Maisonne den Morgendunst aus der Hafenstadt. Sie fallen aus einem Himmel, der in diesem Land immer etwas näher bei der Erde scheint. Sie durchfluten sein Wohnzimmer und wärmen den Raum. Das macht es vielleicht etwas leichter. Denn die Sonne vergoldet das Zimmer und ein paar der Erinnerungen. Welche von ihnen wird er mitnehmen auf seine Reise?
Dieses Buch beginnt bei Jurek Rotenberg in Haifa. Seit ich ihn vor drei Jahren kennenlernte, wuchs eine Freundschaft zwischen uns, die mir sehr kostbar ist. Nun lud er mich ein, ihn einmal in Israel zu besuchen, bevor er das Land verlässt. Er wollte mir zeigen, wo er herkommt.
Die weiteren Kapitel des Buchs führen aber auch nach Auschwitz und nach Bergen-Belsen. Mit einem Veteranen des D-Day geht es an den Omaha Beach in der Normandie, weiter zu einem Stalingrad-Überlebenden und in die Wohnzimmer von zwei Hitler-Attentätern. Ich erzähle vom Leben und Überleben eines Mannes, der auf Schindlers Liste stand, und von einem Kämpfer der »Weißen Rose«. Ich begebe mich auf Spurensuche nach Sophie Scholl, nach Claus Schenk Graf von Stauffenberg, nach Anne Frank und nach Georg Elser. Und erinnere gleich im ersten Kapitel an einen großen Menschenretter. Dieser Mann war der Patriarch des Stahlgiganten Krupp, Berthold Beitz, der Mann auf dem Cover dieses Buchs. Ihm verdankt Jurek Rotenberg sein Leben.
Von den Fenstern seiner Wohnung aus kann Rotenberg über Olivenbäume hinweg bis auf das Karmel-Gebirge schauen, und wenn der Wind günstig steht, atmet er den Geruch des nahen Meers. Doch ihn zieht eine seltsame Sehnsucht nach Deutschland, obwohl er in diesem Land nie zu Hause war. Fast könnte man es Heimweh nennen, ein Wort, das es so nur im Deutschen gibt und das so viel von diesem Land erzählt.
Rotenberg liebt die deutsche Sprache. Und noch mehr die deutsche Musik. So sehr, dass dieser in seinen Worten so gewandte Herr diese Liebe schwer beschreiben kann. Er deutet stattdessen auf sein Herz und klopft ein paarmal mit seiner Faust sanft auf seine Rippen: »Da drinnen wohnen Schumann und Beethoven.« Dann fährt er mit seiner Hand zu seinem Kopf und deutet auf seine Stirn: »Und hier oben leben Schopenhauer und Bach«, sagt er. Ihre Kompositionen, ihre Schriften und ihr Geist. Auch deswegen braucht er jetzt nicht viel mitzunehmen.
Die Bücher und das alte Geschirr hat er in Kartons gesteckt. Er will sie verschenken oder sich nachschicken lassen, man wird sehen. Was dieser feine alte Herr mitnehmen möchte aus Israel, trug er immer schon in sich, und der Rest passt in seinen zerschlissenen Lederkoffer, der da mitten in seinem Wohnzimmer steht und aus den Dreißigerjahren stammt. Es ist einer jener Koffer, wie man sie aus dem Film Schindlers Liste zu kennen glaubt oder von den Bildern aus Auschwitz mit den Bergen von Gepäck, das denen gehörte, die nicht mehr leben. Viele aus Rotenbergs Familie gingen mit solch einem Koffer ins Verderben. Die SS-Leute befahlen ihnen, ihre Heimatadresse mit Kreide auf das Leder zu schreiben. Ganz so, als gäbe es noch ein Zurück für die Koffer. Und die Menschen. Es war eine der letzten Lügen der Täter, mit denen sie ihre Opfer täuschen wollten.
»Dabei wussten wir doch, dass wir alle zum ›Himmelskommando‹ bestellt sind«, sagt Jurek Rotenberg. »Himmelskommando«, so nennt er den Holocaust bis heute, weil er das Deutsche nun mal so schätzt. Weil er, der gebürtige Pole, einen sehr deutschen Nachnamen trägt. Weil die deutsche Sprache für das Schönste und das Schlimmste im Leben die besten Worte bereithält. Deswegen hat sich Rotenberg das Wort »Himmelskommando« ausgedacht, als er 14 Jahre alt war und diesem Kommando auf wundersame Weise entging. Und weil dieses Wort beides in sich birgt: die Anmut und die Angst. Die Allmacht und den Abgrund. Die Herrlichkeit und die Hölle.
Jurek Rotenberg ist 87 Jahre alt. Der studierte Jurist arbeitete lange erst in seinem Heimatland Polen, dann bei einer Reederei in Haifa. Er sagt: »Ich habe als Junge dank eines einzelnen Mannes ein anderes Deutschland erlebt. Dank des Herrn Direktor.« Dieser Herr Direktor war Berthold Beitz, der spätere Generalbevollmächtigte von Krupp. Und dieses andere Deutschland, das existiert für Rotenberg in seinem Herzen bis heute. Deshalb will er jetzt umziehen. Auch weil er Berthold Beitz bis heute so dankbar ist, dass er sich ihm in Deutschland näher fühlt, fast ein wenig aufgehoben – selbst wenn Beitz nun schon drei Jahre tot ist.
Ich fühle mich verbunden mit Jurek Rotenberg. Für mich ist dieser Gentleman alter Schule eine personifizierte Hoffnung, einer, der ermutigt gegen die Ohnmacht, die die Schoah in mir als Deutschem zurückgelassen hat, gegen den Schmerz, der mich trifft, wenn Antisemitismus in Deutschland wieder aufflammt und Juden hier bedroht oder angegriffen werden. Rotenberg ist für mich ein Trost. Wenn ich mit ihm spreche, fühle ich mich leicht und reich, er ist ein Freund, der mich berührt und mitreißt.
»Ich habe Deutschland nie gehasst. Ganz im Gegenteil. Auch wenn die Nazis uns gehasst haben, habe ich nie zurückgehasst. Sonst wäre ich doch wie ein Nazi gewesen«, sagt er und lächelt. Meist liegt ein Glanz in seinen Augen, und seine Mundwinkel deuten fast immer nach oben. Jetzt schaut er noch einmal hinaus aus seinen 60 Quadratmetern Israel. Als hätte sich ihm das Panorama nicht ohnehin schon unauslöschlich eingeprägt. Er steht mit mir vor seinem Wohnzimmerfenster, deutet auf die Berge des Karmel und erzählt ein wenig von ihrer uralten Geschichte. Dann flackert sein Blick wieder hin und her an den kahlen Wänden mit den grauen Rändern, die die Bilderrahmen hinterlassen haben. Er erzählt, wie es früher bei ihm aussah. Manchmal ist ihm schwer zumute dabei.
Er merkt das, wenn er seinen Blutdruck misst. Der ist viel zu hoch, seitdem er sein Leben verpackt. 180 zu 90. Der Arzt hat ihm deswegen Valium verschrieben. Er meinte, das mit dem Blutdruck sei seelisch bedingt. Rotenberg versucht, so etwas wegzulächeln, doch dann steht wieder eine seiner großen Fragen in seinem Gesicht: »Wenn man die ganze Familie verloren hat, wohin soll man dann gehen? Wohin soll ich gehen?« Diese Frage einte fast alle Juden, die vor sieben Jahrzehnten hierherkamen, und natürlich stellte auch Rotenberg sie sich. Jetzt, nachdem auch seine Freunde gestorben sind, einer nach dem anderen, kommt es wieder in ihm auf, dieses wehe Gefühl des Verlorenseins, der Heimatlosigkeit. Es verbindet viele Opfer des Holocausts und trennt sie. Deswegen sind sie doch damals nach Israel gegangen. Weil sie endlich irgendwo auf der Welt ein Zuhause haben wollten.
Und jetzt spüren viele von ihnen im Alter, dass sie innerlich wieder unbehaust sind. Dass sie vielleicht sogar ihr Leben lang seelisch auf der Durchreise waren. Mit jedem Menschen, der nun stirbt, den sie liebten und mit dem sie hierherkamen, gehen sie doch auch selbst ein bisschen fort. Und fühlen sich am Ende ihres Lebens ein wenig so wie nach dem Krieg. Ohne festen Halt und Heimat. Weniger als Überlebende, das wäre ja gut. Sondern als lebenslang Übriggebliebene.
Rotenbergs Blick sehnt sich in den Garten vor seinem Mietshaus. Die Bäume dort hat er vor 45 Jahren gepflanzt, als er hier einzog. »Einen für meinen Großvater, einen für meine Großmutter und einen für meinen Vater«, sagt er. Es sind deutsche Fichten in israelischem Boden, die inzwischen hinauf zu seinem Appartement im dritten Stock gewachsen sind. Ihre Wipfel wiegen sich vor seinen Blicken im Wind, der vom Mittelmeer zu ihm herüberweht.
Von Bäumen Abschied zu nehmen, ist fast so schwer wie von Menschen. Doch von den Bäumen fortzugehen, wird neu für ihn sein. Von den Menschen nicht, das hat er früh lernen müssen. Darüber kann er bis heute nicht gut sprechen. Ich bitte ihn dennoch darum. Und weil wir beide uns gut verstehen, führt er mich zu seinem Schreibtisch und zieht jetzt diesen einen Papierstapel aus seiner Schublade. »Ich habe das, was ich Ihnen gleich zeige, nicht vielen Menschen gezeigt bisher«, sagt er. »Und ich kann Ihnen auch nicht viel dazu erzählen, weil es mich traurig macht. Aber hier, sehen Sie selbst.«
Mehr als tausend Namen sind auf den...