Die Biodiversität ist eines der fundamentalsten Konzepte in der experimentellen und theoretischen Ökologie, der Populationsbiologie und der Populationsgenetik und heute der Menschheit wertvollste, doch zugleich die am wenigsten anerkannte Ressource.
Die Biodiversität wird nach NOSS (1990) auf vier hierarchischen Ebenen der biologischen Organisation betrachtet:
1.der genetischen Ebene,
2.der Ebene der Arten,
3.der Ebene der Gesellschaften und Ökosysteme und
4.der Ebene der Landschaften und Regionen.
Folglich besitzen sowohl die Artendiversität als auch die genetische Diversität einen bedeutenden Anteil an der Biodiversität, deren separate Betrachtung und Untersuchung bisher üblich war. Zugleich sind beide Diversitäten von großer Bedeutung für die Ökosystemstabilität und –dynamik. Auch die theoretische und experimentelle Erforschung konkreter Zusammenhänge zwischen diesen beiden Formen der Biodiversität konnte bislang keine weitgehend übereinstimmenden Ergebnisse erzielen. Dies wird am Beispiel der Nischen-Variation-Hypothese oder Nischenbreite-Variation-Hypothese verdeutlicht. Da eine zeitliche irreguläre Nischenschwankung mit der Unvorhersagbarkeit der zeitlichen Dynamik von Umweltbedingungen gleichsetzt werden kann, existieren weitere sehr ähnliche Hypothesen. So vertreten SLOBODKIN & SANDERS (1969) und LEVINS (1968: S.60) die Auffassung, dass Regionen mit hoher Umweltvorhersagbarkeit zu einer hohen Artendiversität tendieren, weil eine stärkere Spezialisierung der einzelnen Arten möglich wird. BEARDMORE & LEVINE (1963) und LEVINS (1968: S.22) behaupten, dass Regionen mit hoher Umweltvorhersagbarkeit eine geringere genetische Variation aufgrund von Spezialisierung aufweisen. JOHNSON (1973) fasst beide Hypothesen zusammen und erklärt, dass beide zuvor genannten Hypothesen nur kompatibel sind, wenn sich die genetische Variation umgekehrt proportional zur Artendiversität verhält. Damit entscheidet das Ausmaß der Vorhersagbarkeit der Umweltbedingungen über die Verteilung biologischer Variation zwischen und innerhalb der Arten. Sollte also das Verhältnis zwischen Artendiversität und intraspezifisch genetischer Diversität vor allem durch die Regularität der jeweiligen Umweltbedingungen geprägt sein, so ist zu erwarten, dass mit steigender Artendiversität die genetische Diversität pro Art fällt. Natürlich sind auch noch andere Gründe für eine solche Beziehung denkbar, wie etwa eine Begrenzung der Gesamtindividuenzahl durch beschränkt verfügbaren Raum.
Es gibt einige neuere Studien, die sich mit einer potentiellen Beziehung zwischen den Diversitätskomponenten intraspezifische genetische Diversität und Artendiversität auseinander setzten. Untersuchungsobjekte waren hierbei häufig naturnahe Wälder. Mit der Naturnähe dieser Wälder verband sich die Erwartung, dass Wechselwirkungen zwischen der Arten- und genetischen Diversität auftraten, die möglichst wenig vom Menschen gestört wurden. Ob aber die Charakteristika von Waldgesellschaften, wie die Artenzusammensetzung, die Stellung in der Waldentwicklung sowie die Naturnähe, tatsächlich einen Einfluss auf die biologischen Diversitäten und ihren Kopplungen besitzen, wurde bisher nicht geprüft.
Die nachfolgende Untersuchung an Baum- und Straucharten in Beständen einiger Waldgesellschaften in Thüringen greift diese Fragestellungen auf. Insbesondere dient die Untersuchung der Prüfung folgenden oben teilweise begründeten Hypothesen:
1. Zwischen der Arten- und der intraspezifisch genetischen Diversität besteht ein negativer Zusammenhang.
2. Die über die Arten gemittelte genetische Diversität eines Baumbestandes fällt mit dem Anteil von Begleitbaumarten, da letztere im allgemeinen in geringen Populationsgrößen auftreten und damit stärkerer genetischer Drift unterworfen sind. Mit zunehmender Sukzession nimmt folglich die mittlere genetische Diversität pro Art zu, da der Anteil dominanter Baumarten zunimmt.
3. Die über die Arten gemittelte genetische Diversität eines Baumbestandes steigt mit sei¬ner Naturnähe, da Naturnähe stabilitätsfördernd insbesondere durch eine höhere Angepasstheit und Anpassungsfähigkeit der Population sowie die dafür erforderliche genetische Vielfalt ist.
Die Untersuchungsobjekte sind acht Naturverjüngungen und eine Kunstverjüngung (neun Baumbestände) mit zehn Baumarten, die sich in fünf unterschiedlichen Waldgesellschaften nach POTT (1992) in West-, Mittel- und Ostthüringen befinden. Jede Naturverjüngung wird durch sechs Probekreise bestimmter Größe repräsentiert, die innerhalb einer Naturverjüngung einen Abstand von 40 m zueinander besitzen. In den Probekreisen wurden, getrennt nach den Baumarten mit mehr als 14 Individuen, allen Naturverjüngungspflanzen Knospen und Zweige im Dezember 2002 entnommen. Diese Baumarten stehen dabei stellvertretend für die gesamte Pflanzengemeinschaft in der Naturverjüngung.
Die Knospen wurden extrahiert, aus den Extrakten Isoenzyme der unten angegebenen Enzymsysteme isoliert und mit Hilfe der Stärkegel-Elektrophorese aufgetrennt. In einer Unterstichprobe wurde mittels selektiver AFLP-Technologie repräsentativ der artspezifische Variantenreichtum aller Arten relativ zur Referenzart Buche ermittelt.
Für die Anwendung der entwickelten Merkmalskonzeption sind Vererbungsnanalysen nicht erforderlich. Jedes Zymogramm der fünf Isoenzymsysteme bzw. jedes Muster der AFLP-Fragmentlängenpolymorphismen wurde als genetische Variante (Multilocus-Genotypen) ohne Rücksicht auf die reale Anzahl von Genloci bzw. von Allelen pro Locus betrachtet.
Genetische Varianten von ca. 5.500 Individuen der zehn Baumarten wurden für die fünf Enzymsysteme Phosphoglucose-Isomerase (PGI, E.C. 5.1.3.9), Hexokinase (HEK, E.C. 2.7.1.1), Aspartatamino-Transferase (AAT, E.C. 2.6.1.1), Malat-Dehydrogenase (MDH, E.C.1.1.1.37) und Isocitrat-Dehydrogenase (IDH, E.C. 1.1.1.42) und in einer Unterstichprobe für eine artübergreifende selektive AFLP-Analyse mit der Primerkombination Pst+CCA/Mse+CAG ermittelt.
Basierend auf den Genotyp- und Arthäufigkeiten wurden die sechs Kategorien biologischer Diversitäten
-intraspezifisch genetische Diversität νa,g,
-transspezifisch genetische Diversität νa,tg,
-mittlere intraspezifisch genetische Diversität νa,mg,
-mittlere intraspezifisch genetische Diversität über mehrere genetische Merkmale Va,mg,
-transspezifisch genetische Diversität pro Art νa,tg/νa,Art und
-Artendiversitäten νa,Art und νa,beobArt
für jedes der sechs genetischen Merkmale sowie jeden Bestand mittels der Funktion des Diversitätsprofils νa nach GREGORIUS (1978) bei den wichtigen Profilstellen a = 0, a = 2 und a = ∞ berechnet. So ist jeder Bestand durch seine totale, effektive und vorherrschende Anzahl an biologischen Varianten charakterisiert. Die Abhängigkeiten der sechs mal drei Diversitäten wurden statistisch auf Signifikanzen geprüft.
Die Ergebnisse ergaben unter anderem, dass die intraspezifisch genetische Diversität νa,g abhängig sein kann:
-vom genetischen Merkmal,
-von der Baumart,
-vom Baumbestand,
-vom a-Parameter des Diversitätsprofils,
-von der Stichprobengröße bzw. Populationsgröße und
-von der Artendiversität.
Insbesondere zwischen der Artendiversität und den MDH- und IDH-Diversitäten der Baumart Rotbuche wurden signifikant negative Zusammenhänge beobachtet. Eine Ursache kann ein indirekter Zusammenhang zwischen den beiden Diversitäten über die zeitliche Umweltschwankung bzw. Umweltvorhersagbarkeit sein.
Die transspezifisch genetischen Diversitäten pro Art νa,tg/νa,Art und die mittlere intraspezifisch genetische Diversität νa,mg kann abhängig sein von
-den intraspezifisch genetischen Diversität νa,g beteiligter Arten und damit auch
-vom genetischen Merkmal,
-von der Baumart,
-vom Baumestand,
-vom a-Parameter des Diversitätsprofils,
-von der Stichprobengröße bzw. Populationsgröße und
-z.T. von der Artendiversität,
-positiv von der Artendiversität,
-der Baumartenzusammensetzung,
-den Sukzessionsstadien und
-der Naturnähe.
Für einige Bereiche des Diversitätsprofils und einige Enzymsysteme ergeben sich statistisch signifikante positive Zusammenhänge zwischen der Artendiversität und der transspezifisch genetischen Diversität pro Art νa,tg /νa,Art bzw. mittleren intraspezifisch genetischen Diversität νa,mg.
Die Ursachen liegen in der im Durchschnitt etwa doppelt so großen intraspezifischen genetischen Isoenzymdiversität νa,g der in dieser Untersuchung vorkommenden Begleitbaumarten und in dem steigenden Anteil dieser Baumarten bei zunehmender Artendiversität. Die mit zunehmender Artendiversität vermehrt vorkommenden Begleitbaumarten bedingen die Zunahme der transspezifisch genetischen Diversität νa,tg/νa,Art und der mittleren intraspezifisch genetischen Diversität νa,mg. Der negative Zusammenhang zwischen der Artendiversität und der genetischen Diversität einzelner Arten, wie Rotbuche, wird überlagert. Die meisten dieser Baumarten wurden als r-Strategen bzw. K-r-Strategen identifiziert. Die verschiedenen genetischen Diversitäten sind vermutlich Voraussetzung zur Umsetzung der verschiedenen Strategien.
Im Rahmen dieser Untersuchung ist die Hypothese 1 einer inversen Beziehung zwischen der Arten- und der intraspezifisch genetischen Diversität für die Baumart Rotbuche zu bestätigen. Die Hypothese 2 und Hypothese 3 müssen abgelehnt werden, da die über die Arten gemittelte genetische Diversität eines Baumbestandes mit dem Anteil von Begleitbaumarten stieg und mit zu¬nehmender Sukzession tendenziell in der Untersuchung abnahm. Ein generell positiven Zusammenhanges zwischen der Naturnähe und der über die Arten gemittelten genetischen Diversität wurde nicht beobachtet.
Indirekte und direkte Beziehungen zwischen der Arten- und genetischen Diversität können durch Faktoren, wie Isolierung, Arealgröße, frühere menschliche Landnutzung, Sukzession, Umweltvorhersagbarkeit, Naturnähe und/oder intraspezifische und interspezifische Interaktionen, entstehen, deren Einflüsse über die Richtung und Stärke des Zusammenhanges entscheiden. Das Zusammenspiel dieser Faktoren kann auch eine Unabhängigkeit beider Diversitätsebenen ergeben.
In Hinblick auf eine bevorstehende Klimaänderung werden solche Wälder am stärksten betroffen sein, die von Natur aus geringe Arten- und genetische Diversitäten aufweisen, denn das evolutionäre Anpassungspotential in Form genetischer Variation ist relativ klein. Die Situation stellt sich noch kritischer für solche Wälder dar, in denen die Diversitäten zusätzlich künstlich abgesenkt wurden. So werden in Mitteleuropa reine Fichten- und Buchenwälder als Klimax besonders anfällig auf einen Klimawechsel reagieren und sich vermutlich vorübergehend in baumfreie Sukzessionsstadien verwandeln, weil abpuffernde Pionier- und Intermediärbaumarten weitestgehend fehlen. Da fichten- und buchendominante Wälder zusammen etwa die Hälfte aller Wälder in Deutschland bilden, kann bei schnellem Klimawandel der resultierende volkswirtschaftliche Schaden eine nationale Dimension erreichen.
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