ErnährungsWissen ist OhnMacht
Vergessen Sie alles über »gesunde« Ernährung
»Ich weiß, dass ich nichts weiß.«
Sokrates
Bevor Sie das folgende Kapitel lesen, führen Sie sich bitte noch einmal vor Augen, was Sie über »gesunde Ernährung« zu wissen glauben. Und dann verabschieden Sie sich vielleicht schon jetzt von diesem »Wissen«. Denn die kommenden Seiten servieren Ihnen zahlreiche Studienergebnisse der anderen Art, die Ihre Sicht auf die Ernährungswissenschaft und unser »allgemeingültiges« Wissen über gesundes Essen und Trinken infrage stellen möchten. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei ein Hinweis erlaubt: Im weiteren Verlauf des Buchs folgt keine wissenschaftliche Beweisführung, um mit einer Studie eine andere zu widerlegen und Ihnen »neue Wahrheiten« aufzutischen. Denn die Erkenntnis des bereits in der Einleitung zitierten Hohenheimer Universitäts professors Biesalski brachte es Ende 2008 in der Welt auf den Punkt: »Die meisten Studien sind medial völlig überbewertet. Zu jeder Studie findet sich alsbald eine Gegenstudie.« Die folgende Darstellung zahlreicher, in den Medien veröffentlichter Studienergebnisse hat daher nur ein Ziel: Sie sollen auf Ihrem Weg zum »mündigen Essbürger« zum unabhängigen Nachdenken und kritischen Hinterfragen angeregt werden, um anschließend selbst zu entscheiden, was Sie persönlich zur »gesunden Ernährung« glauben oder eben nicht.
»Was ist gesunde Ernährung?« – Fragen Sie die Menschen auf der Straße, so antworten sicher die meisten gebetsmühlenartig: viel Obst und Gemüse, reichlich Vollkornbrot (soll gelerntermaßen gesünder sein als Weißbrot), besser weißes Fleisch als rotes, ab und zu Fisch und viel Wasser. Was ungesund ist, wissen wir auch, wir haben es oft genug gehört und gelesen: zu viel Fett, zu viel Zucker, zu viel Alkohol. Somit scheinen die millionenschweren Ernährungskampagnen à la »Fünf am Tag« (Obst und Gemüse) ihren Zweck erfüllt zu haben: Die Deutschen wissen so gut wie nie zuvor über »gesunde Ernährung« Bescheid. Doch wissen wir es wirklich?
Warum gelten dann gemäß des 13. DGE-Ernährungsberichts aus 2017 knapp sechs von zehn Männern und vier von zehn Frauen als übergwichtig? Und warum liebt das deutsche Volk anscheinend auch beim Gewicht Gewohntes und Konstanz, denn: Laut Statistischem Bundesamt waren 2003 ebenfalls 58 Prozent der erwachsenen Männer und 41 Prozent der Frauen übergewichtig, 1999 lagen die Werte noch ein paar Prozent niedriger. Warum verursachen »ernährungsmitbedingte Erkrankungen« mehr als ein Drittel der Kosten im Gesundheitssystem, satte 70 Milliarden Euro jährlich? Und warum scheint Übergewicht keine Frage des Geldes zu sein, denn je geringer der Verdienst, desto höher der Anteil an Fettleibigen? Die Gesundheitspolitiker und Ernährungsgesellschaften haben wahrscheinlich keine adäquate Antwort parat, denn deren erzieherische »Fünf am Tag«-Bemühungen waren entgegen des ersten Eindrucks bislang eher zum Scheitern verurteilt. Am Rande erwähnt: Der pragmatischen Empfehlung, täglich fünf Portionen Obst und Gemüse zu essen, auf der die gleichnamige Kampagne basiert, fehlt der wissenschaftliche Beweis. Warum gerade fünf? Das kann keiner mit Sicherheit sagen, auch nicht der Deutsche Fruchthandelsverband (DFHV), der die Aktion mit beträchtlichem Aufwand unterstützt(e). Trotzdem trommelte dessen Vizepräsident Thomas Bittel noch im Februar 2010 die Warnung ins Land: »In Deutschland wird nach wie vor viel zu wenig Obst und Gemüse verzehrt.« Doch wozu eigentlich »mehr, mehr« pflanzliche Kost? Nur zwei Monate später kam die bittere Ernüchterung in Form der weltweit größten Ernährungsstudie EPIC (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition; wörtlich: Prospektive europäische Studie über Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krebs) und ihres Endergebnisses: Ein Krebsschutz durch Obst- und Gemüseverzehr ist de facto nicht nachweisbar. Andere gesundheitsfördernde Effekte sind rein spekulativer Natur. Da erscheint es nicht weiter tragisch, dass sich fast niemand an die Fünfer-Fantasie-Vorgabe hält – nur etwa 10 Prozent der Deutschen und Österreicher essen fünfmal am Tag Obst und Gemüse.
Fazit: Kein Nutzennachweis und keine Unterstützung in der Bevölkerung – die »Fünf am Tag«-Pflanzenkost-Marketingkampagne ist damit wohl reif für den Kompost …
Nach der Kampagne ist vor der Kampagne
Aber ohne die zahlreichen Aufklärungskampagnen, zwar nur pseudowissenschaftlich untermauert, aber stets verstandgesteuert, hätten viele Leute keinen Beruf und manche keine Berufung mehr. Und für irgendetwas muss ja auch das Präventionsbudget der Bundesregierung eingesetzt werden. So wurde neben »Fünf am Tag« und dem darauffolgenden Fünf-Punkte-Paket »Fit statt Fett« Mitte 2008 gleich die nächste Kampagne losgetreten: Mit dem Nationalen Aktionsplan »IN Form – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung« möchten unsere bundesrepublikanischen Minister für Gesundheit und Landwirtschaft/Verbraucherschutz dem Übergewicht zahlreicher Deutscher zu Leibe rücken. Beide Ministerien speisen die noch bis 2020 laufende Aufklärungsaktion zur »Vorbeugung von Fehlernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und daraus resultierenden Erkrankungen« zusammen mit jährlich zehn Millionen Euro. Diese Summe soll dafür sorgen, »Prävention als einen gesellschaftlichen Wert zu verankern«. Ob weniger als 0,014 Prozent der Kosten, die pro Jahr für die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten aufgewendet werden, dafür ausreichen?
Unabhängig von der vergleichsweise geringen Höhe des Präventionsbudgets liegt die Vermutung sehr nahe, dass auch diese Kampagne viele Millionen Euro Steuergelder verschlingen und dabei vergleichbare Effekte wie alle Aufklärungsversuche davor haben wird: sicher kaum einen Übergewichtigen weniger, dafür neue Unsicherheit in puncto »gesunder Ernährung«. Aber wenn die Staatsorgane anhand der Datenlage feststellen: Die Deutschen werden weiterhin immer dicker, dann muss natürlich auch weiterhin was passieren. Also her mit einer neuen Kampagne »weniger Ungesundes essen, dafür mehr Obst und Gemüse auf den Speiseplan sowie mehr Sport treiben«! Kommt Ihnen das bekannt vor? Genau: Alter Wein in neuen Schläuchen. Die recycelten Ratschläge bleiben in etwa die Gleichen, nur die Verpackung ändert sich: Aus »Fünf am Tag« wird »Fit statt Fett« wird »IN Form«.
Statt aufpolierte Aktionen zu propagieren, sollten sich die verantwortlichen »Kampagneros« besser die Anregung von Udo Pollmer, sogenanntes »Enfant terrible der Ernährungswissenschaften«, zu Herzen nehmen, der anregt, verstärkt zu erforschen, warum die bisherigen Maßnahmen gescheitert sind. Vielleicht deshalb, weil die Rolle der Ernährung bei der Entstehung von krankmachendem Übergewicht noch unklar ist? Ernährungsmediziner Professor Andreas Pfeiffer von der Berliner Charité meint dazu vielsagend in einem dpa-Interview: »Je mehr wir forschen, umso deutlicher wird, dass jeder Mensch unterschiedlich auch auf Ernährung reagiert.« Was den einen krank macht, hält den anderen vielleicht gesund. Daher ist Ernährung wohl »viel zu komplex für einfache Botschaften«, wie Professor Helmut Heseker, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) in der Welt zu bedenken gibt. Doch nicht nur die essenziellen Probleme der Ernährung an sich machen erfolgreiche Kampagnen zu einem äußerst schweren Unterfangen. Darüber hinaus müssen sich die missionarischen Minister auch mit der Begrifflichkeit der »gesunden« Ernährung auseinandersetzen, da das Prädikat leider ein schlechtes Image hat: »Gesunde Nahrungsmittel machen zwar nicht dick, schmecken aber auch nicht besonders lecker.« Gesundes Essen ist für viele Menschen gleichbedeutend mit lästiger Pflichterfüllung, die wenig Genuss bietet – muss man essen, will man aber nicht wirklich. Dabei ist die Einteilung in gesund und ungesund Unsinn. Es gibt im Grunde keine gesunden Nahrungsmittel, genauso wenig wie es ungesundes Essen gibt. Das sieht übrigens auch die DGE so. Deren Sprecherin Antje Gahl stellte in einem dpa-Artikel zu diesem Buch klar: »Die Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel hat keinen Sinn.« Dieser Meinung sind (auf Nachfrage des Autors) auch das Deutsche Institut für...