Die Gedanken eines Autors gehören ihm nicht mehr, sobald sie in Umlauf sind. Es ist also nicht selten, dass er sich in dem nicht wiedererkennt, was man über ihn sagt oder ihn sagen lässt. Marx beteuerte, er wäre kein ‹Marxist›. Das gilt ebenso für Ivan Illich (1926–2002), der je nach den Zeitläuften als «Anarchist», als «Linker», als «sanfter Träumer», als «radikaler Kritiker» der Institutionen, als «Vordenker» der politischen Ökologie, als «Pionier der Degrowth Bewegung», als «Linkskatholik», als «Befürworter von Selbsttätigkeit», als «Utopist» und was auch immer bezeichnet wurde. Bisweilen wird sein Werk in zwei Phasen unterteilt. Man spricht vom frühen Illich, dem Autor der in viele Sprachen übersetzten Pamphlete, dessen Argumente unzählige Debatten auslösten, und von einem späteren, gereiften Illich, weniger medienstark, fast vergessen, zum wandernden Professor geworden, eine Art intellektueller Nomade für sperrige Essays und zielsichere Einmischungen. Er selbst hatte seine fünf ersten Bücher, erschienen zwischen 1971 und 1975, als «Pamphlete» bezeichnet (Almosen und Folter, Entschulung der Gesellschaft, Energie und Gerechtigkeit, Selbstbegrenzung, Die Nemesis der Medizin) und vertraute 1988 seinem Biographen an: «Es ist mir gelungen, mit spitzem Bleistift eine Menge von Dingen treffsicher zu sagen. Aber der Zusammenhang und meine Ausdrucksweise haben sich verändert. (…) Sie stellen Fragen an einen Mann, der nicht mehr existiert. Gewiss, es handelt sich um mich, und ich übernehme die volle Verantwortung für meine Schriften. Aber diese Texte wurden in der Form von Pamphleten verfasst, wie es der Epoche entsprach, in der ich sie geschrieben habe. Im Übrigen ist es erstaunlich, dass sie noch immer da sind und man über sie spricht. Das ist sehr schön, es schmeichelt mir. Aber es sind tote Texte, Schriften aus einer anderen Zeit» [Illich in Conversation, 119].
Ein unstrittiges Charisma
Ein durchdringender Blick, ein vergnügtes Lächeln, ein schönes, feines Gesicht – das auf der rechten Wange durch eine Art Schwellung verunstaltet wird, die im Lauf der Zeit immer größer wird. Hochgewachsen, schlank – um nicht zu sagen ‹mager› –, aufrecht beeindruckt Ivan Illich und erregt physisch Respekt und Neugierde. Er ist umgänglich, spricht mit jedem, reich oder arm, «bedeutend» oder irgendwer, kann sich aber auch herausfordernd, ironisch, unzufrieden und manchmal herablassend zeigen. Ich persönlich habe nur einen bezaubernden Mann und Charmeur kennengelernt, offen, achtsam und aufmerksam. Ich konnte ihn dank der Vermittlung von Maud Sissung treffen, seiner so sehr geschätzten Übersetzerin («Mit einer Finesse, die niemals aufhört, mich zu überraschen, hat Maud Sissung diese Aufsätze aus dem Englischen übersetzt», bemerkt er in seiner Einführung zur französischen Ausgabe von Schattenarbeit [OC2, 97]). Eines Tages, das war 1988, ließ sie mich wissen, Illich sei in Paris und sein Herausgeber zögere, ABC zu veröffentlichen, The Alphabetization of the Popular Mind, das eben in den USA erschienen war. Es stimmt, Illich erregte nicht mehr die leidenschaftlichen Debatten zur Zeit von Entschulung der Gesellschaft oder Selbstbegrenzung. Er sprühte vor Intelligenz, erzählte tausend Dinge, erwähnte zahlreiche Autoren, die er las oder regelmäßig besuchte. Sein Blick drückte Wohlwollen aus. Sein Lächeln wechselte zwischen Fröhlichkeit und einer gewissen Traurigkeit. Es war der Beginn einer Freundschaft und zahlreicher Begegnungen, anlässlich seiner regelmäßigen Besuche in Paris, und kurzer Telefonanrufe, egal von wo auch immer auf der Welt.
War diese Beule, die ihn entstellte, die Ursache für seine häufigen Kopfschmerzen und gelegentliche Schwindelanfälle? Rückblickend auf jenen Sommer 1996 in State College, wo er unterrichtete, erinnere ich mich, wie Ivan mich bat, mich nicht zu beunruhigen, falls er sich plötzlich auf dem Boden ausstreckt und die Augen schließt; er sah einfach ein Unwohlsein voraus und bekam es so in den Griff. Einige Tage später war ich Zeuge einer solchen Episode: Nachdem er sich direkt auf den Boden gelegt, und die Augen für einige Minuten geschlossen hatte, stand er auf, öffnete die Schublade seines Schreibtisches, nahm ein Blatt Aluminiumpapier heraus, eine Kerze und einen einfachen Kugelschreiber, dessen Mine herausgenommen war. Mit diesem bescheidenen Material brachte er ein Kügelchen Opium zum Schmelzen, das er in einem kleinen, hübschen Metallkästchen aufbewahrte, und benutzte das Blasrohr als Pfeife. Nur Opium linderte ihn und war Teil seiner Selbstverarztung. In dieser Campus-Stadt konnte ich mich mit der «Methode Illich» vertraut machen. Sein Seminar war dem Architektur-Department zugeordnet und fand am Spätnachmittag statt. Die Zuhörerschaft war bunt gemischt: zwei Hände voll Studierende aus vier Kontinenten (keiner aus Afrika) und zwei Hände voll Wissenschaftler und Universitätskollegen. Ich verstand, dass der große Bärtige im Overall, der sich als Tischler vorgestellt hatte, einen Doktortitel in Anthropologie besaß und sich auf seinem Gebiet regelmäßig ans andere Ende der Welt begab; dass der Neuseeländer, der so schnell wie ein Wasserfall sprach, sodass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen, einer der «aufsteigenden» Welt-Größen in der Geschichte der Geometrie war; dass der anglophobe kanadische Architekt in seinen Konstruktionen mit ökologischen Technologien experimentierte und der amerikanische Agrarwissenschaftler, der dort wohnte und arbeitete, gekommen war, um seinen Kopf auszulüften, etc. Kurzum, da waren «Schüler» von einer unglaublichen Vielfalt an Alter, Sprachen, Bildung und intellektuellen Erwartungen. «Schüler» ist das Wort, das Ivan liebevoll benutzte. Er sagte einfach «mein Schüler», auch zu einem langjährigen Freund, der beinahe sein Alter hatte, und dessen Renommee nicht mehr etabliert werden musste. Nach einem kurzen Exposé eines Teilnehmers schaltete sich jeder auf seine Weise und in seiner Sprache ein (Ivan diente spontan als Übersetzer). Jeder war für die anderen erstaunlich gegenwärtig. Die gemeinsame Diskussion ging weiter, auch wenn Ivan manchmal aufstand, hinausging, um sich einige Minuten auszuruhen. Jean Robert improvisierte als Chef d’Orchestre, sicherte den Zusammenhalt der Gruppe, erteilte das Wort, sammelte die verstreuten Ideen, rekapitulierte, was gesagt worden war. Die Ideen loderten. Scherze lockerten die Atmosphäre. Eine Dokumentensammlung war verteilt worden, die Texte von Autoren enthielt, die für die Thematik als wichtig erachtet wurden (in diesem Sommer war das Thema «das Blicken»), sowie die laufenden Arbeiten von Studierenden. Ich stellte die Idee des Bildes bei Bachelard vor (eines von Ivan bevorzugten Philosophen, und ein anderes Mal den Blick bei Levinas, einem großen Freund von Ivan). Neben diesen (wenig) akademischen Seminaren gab es andere – off –, die bei Privatpersonen stattfanden und sich während des Abendessens im Freien, im Garten oder auf der Terrasse fortsetzten. Bei diesen festlichen Versammlungen traf ich dieselben Leute wieder, die an den Kursen teilnahmen, manchmal mit ihrem Partner, ihren Kindern, Freunden, Nachbarn; es fanden sich Gruppen zusammen; die Diskussionen waren lebhaft, Ivan hatte die maßgebliche Rolle des Gastgebers. So stellte ich mir Cuernavaca vor, wo ich niemals gewesen war: Studien vermischt mit informellen Diskussionen, ohne irgendeine Hierarchie, ohne Diplom, ohne Karriereplan! Aber ich träumte nicht, denn ich beobachtete, dass der Campus dort wie jede beliebige Institution darin funktionierte, standardisierte Ausbildung abzuliefern; nur entwischt bei dieser Vereinheitlichung die Ausbreitung des Wissens. Illichs Seminar war eine Lichtung in einem so dunklen Wald. Ich wohnte mit Jean Robert in einem kleinen Haus ohne Charme, das wir uns mit fünf Mitbewohnern teilten, alle viel jünger als wir. Jean Robert (geboren 1934) gehört zum ersten Kreis von Ivans Freunden. Nach seinem Architekturstudium hatte er eine Bank entworfen, war gereist, und hatte sich 1972 mit seiner mexikanischen Frau, einer Feministin und Anthropologin, in Cuernavaca niedergelassen. Er unterrichtete an...