Einleitung
Es riecht nach gewaschenen Autos, nach Bratkartoffeln und enttäuschter Hoffnung
Wie ein Land sich in seinen Liedern spiegelt
Als Kind ist es einem völlig egal, wo man lebt. Man weiß nichts von Vierteln, Städten, Ländern oder Kontinenten. Mir wurde erst im Alter von sechs Jahren bewusst, dass ich in einem Land zu Hause war, das »Deutschland« hieß, und dass dieses Land eine Vergangenheit hatte, von der man immer noch sprach und die somit wohl noch gar nicht so ganz vergangen war. Denn auf einmal redeten mein Vater und mein Großvater bei jeder Gelegenheit über »die Deutschen« oder »Deutschland«, die »deutsche Nationalmannschaft« oder »unsere deutsche Mannschaft«, oft in Verbindung mit mysteriösen Ereignissen wie der »Schmach von Córdoba« und dem »Wunder von Bern«, dazu fielen Namen wie Fischer, Förster und Müller – einige Kinder in der sogenannten roten Gruppe im Kindergarten, der ich die vergangenen zwei Jahre angehört hatte, hießen ebenfalls so. Es war der Sommer 1982, in Spanien fand die Fußball-Weltmeisterschaft statt.
Ich durfte die erste Halbzeit des Finales im Fernsehen anschauen, weil mein Vater meinte, das sei wichtig. Deutschland spielte gegen Italien. Die Partie begann mit zwei Liedern. Eines klang so leicht und beschwingt wie die Musik, die die Feuerwehrkapelle unseres Dorfes während des Schützenfestumzugs spielte (nur ein bisschen komplizierter), und wurde von den Spielern in den blauen Trikots und weißen Hosen lauthals mitgesungen. Das andere erinnerte mich an die Marschmusik, die mein Großvater manchmal hörte, war schwer und getragen, und niemand sang mit. Das sei die deutsche Nationalhymne, erklärte mein Vater, und Opa meinte, er komme da jedes Mal mit den Strophen durcheinander und singe deshalb auch nie mit.
Ich fand das alles nicht sonderlich interessant; ich mochte das Lied »Skandal im Sperrbezirk« der Spider Murphy Gang, das ich auswendig kannte, aber nicht laut singen durfte, weil meine Mutter meinte, das gehöre sich nicht (warum, erklärte sie mir allerdings nie; ebenso blieb sie die Auskunft schuldig, wer oder was denn diese »Nutten« waren, von denen dort gesungen wurde und die sich vor der großen Stadt »die Füße platt« standen).
Als das Spiel losging, faszinierte mich vor allem der Torwart der Italiener, weil er mich an Mister Spock aus der Fernsehserie Raumschiff Enterprise erinnerte. Außerdem mochte ich einen von »unseren« Stürmern, weil der so lustige O-Beine hatte und wohl deshalb wie der betagte Dackel unserer Nachbarn lief (und seltsamerweise auch so schaute). Mein Vater meinte schon nach einer Viertelstunde, der müsse dringend ausgewechselt werden. Ich fragte ihn, bei welchem Verein mein neuer Lieblingsspieler denn spiele. »Der spielt bei Köln«, sagte er und fügte für mich vollkommen unergründlich hinzu: »Ein Geißbock.« »Dann bin ich ab jetzt Köln-Fan und auch ein Geißbock«, erklärte ich daraufhin, und mein Vater meinte, dass man in unserer Gegend eigentlich Dortmund- oder – »Gott behüte!« – Schalke-Fan sei, dass Köln aber auch in Ordnung wäre.
Von da an schaute ich mir im Fernsehen alles an, was mit Köln zu tun hatte – die Karnevalsumzüge, das volkstümliche Millowitsch-Theater und natürlich die Sportschau, bei der ich jeden Samstag mit »Litti« mitfieberte, so nannte man den kleinen säbelbeinigen Stürmer, dessen vollständiger Name nicht wie der eines meiner Kindergartenfreunde klang, sondern wie eine eigentümliche Mischung aus jenem trottelig-liebenswerten französischen Komiker, den ich so mochte, und dem polnischen Schuster im Nachbardorf. Pierre Littbarski. Er stammte auch gar nicht aus Köln, sondern – wie ich schließlich dem Fußballstickeralbum von Christian aus der 1b entnahm – aus Berlin, West-Berlin, um genau zu sein. West-Berlin (damals im Gegensatz zu Westdeutschland meist mit Bindestrich geschrieben; es war alles sehr kompliziert) war weit weg, und da kam man nicht ohne Weiteres hin, weil man da durch ein anderes Land fahren musste, das kurioserweise ebenfalls Deutschland hieß, wie mein Vater mir erklärte. Doch nach Köln könnten wir für ein Fußballspiel schon mal fahren.
Als ich dann tatsächlich im Müngersdorfer Stadion auf der Gegengerade saß, musizierte vor dem Spiel auf dem Rasen eine Band, die sich Bläck Fööss nannte, was erstaunlicherweise die nackten und nicht etwa die schwarzen Füße hieß. Ich war hin und weg, weil alle Fans aus vollen Kehlen mitsangen, wie ich das bisher nur an Ostern oder Weihnachten in der Kirche erlebt hatte. Das Lied hieß »En unserem Veedel« und wäre, so dachte ich, eigentlich die bessere Nationalhymne, weil es davon handelte, dass die Welt nur schön sein kann, wenn man sie sich zusammen schön macht und einander in schwierigen Zeiten hilft. Da war jede Strophe irgendwie gut, auch wenn ich nur die Hälfte verstand.
Es dauerte Jahre, bis ich im Geschichtsunterricht lernte, dass es in der Nationalhymne um etwas ganz Ähnliches ging – »Einigkeit und Recht und Freiheit / für das deutsche Vaterland! / Danach lasst uns alle streben / brüderlich mit Herz und Hand!« – und dass es einen Staat namens Deutschland noch nicht gegeben hatte, als der Dichter August Heinrich Hoffmann aus dem niedersächsischen Fallersleben diesen Text 1842 während einer Helgolandreise zur Melodie von Joseph Haydns »Gott erhalte Franz den Kaiser« geschrieben hatte, ja, dass er mit seinem »Lied der Deutschen« die Deutsch sprechenden Menschen gegen ihre Feinde vereinen wollte und außerdem auch »Alle Vögel sind schon da«, »Ein Männlein steht im Walde« und »Morgen kommt der Weihnachtsmann« gedichtet hatte.
Als ich das erfuhr, hatte ich bereits eine weitere Band aus Köln entdeckt, deren Lieder bei den Partys in unserem Jugendheim gern aufgelegt wurden. In einem erzählte der Sänger – mein Verständnis der Mundart war mittlerweile gut genug, um das nachvollziehen zu können –, wie er das Grab seines Vaters besuchte, mit dem er sich wohl zu dessen Lebzeiten nicht besonders gut verstanden hatte. Ein anderes war schwerer zu entschlüsseln, es hieß »Kristallnaach«:
Et kütt vüür, dat ich mein, dat jet klirrt,
dat sich irjendjet enn mich verirrt.
E’ Jeräusch, nit ens laut,
manchmohl klirrt et vertraut,
Selden su, dat mer’t direk durchschaut.
Mer weed wach, rief die Auren un sieht
enn ’nem Bild zweschen Breughel un Bosch
kei Minsch, dä öm Sirene jet jitt,
weil Entwarnung nur halv su vill koss.
Et rüsch noh Kristallnaach.
Breughel und Bosch fand ich in unserem Knaur-Lexikon. Das waren niederländische Maler zur Zeit der Renaissance gewesen. »Kristallnaach« war da seltsamerweise nicht verzeichnet, schon gar nicht in dieser Schreibweise (bei nochmaliger Durchsicht des mittlerweile vergilbten und beim Aufschlagen ein staubiges Bouquet verströmenden Buches stelle ich nun fest, dass ich nicht unter »K« wie »Kristallnacht«, sondern unter »R« wie »Reichskristallnacht« hätte suchen müssen). Die Mutter eines Freundes erklärte mir, was das Wort bedeutete: Deutsche hatten ein halbes Jahrhundert zuvor eines Nachts die Fensterscheiben anderer Deutscher, die eigentlich an den gleichen Gott glaubten, nur irgendwie anders, eingeschlagen, sie gefangen genommen und viele von ihnen ermordet, ihre Läden geplündert, ihre Kirchen, die sie Synagogen nannten, angezündet und ihre Friedhöfe geschändet. Und das war erst der Anfang einer dunklen Zeit gewesen, über die inzwischen niemand gerne sprach. Kein Wunder, dass wir uns im Geschichtsunterricht immer noch mit den langweiligen alten Fuggern aufhielten. Es gab nicht nur das »Wunder von Bern« und die »Schmach von Córdoba«, es gab noch eine andere deutsche Geschichte. Und wenn man diesem Lied glauben durfte, war der Rauch der brennenden Synagogen noch immer zu riechen, und Menschen, die so dachten wie die Mörder und Brandstifter vor einem halben Jahrhundert, kamen langsam wieder aus ihren Verstecken hervor.
Über so was konnte man tatsächlich ein Lied schreiben. Und man konnte es sogar mitsingen und dazu tanzen. Im Jugendheim in Hörstel-Riesenbeck. Und BAPs »Kristallnaach« war nicht das einzige Lied, zu dem die Leute tanzten und das von dem Land handelte, in dem wir alle lebten. Ein Sänger mit heiserer Stimme, der sich Rio Reiser nannte, sang davon, was er tun würde, wenn er König oder wenigstens Kanzler von Deutschland wäre:
Ich denk mir, was der Kohl da kann, das kann ich auch,
ich würd’ Vivaldi hörn tagein tagaus,
ich käm’ viel rum, würd’ nach USA reisen,
Ronny mal wie Waldi in die Waden beißen.
Auch in diesem auf den ersten Blick eher leichten und komischen Song war etwas über die Geschichte und die Mentalität dieses Landes aufgehoben, fand sich – wie ich heute weiß – die deutsche Gemütlichkeit und Lethargie unter dem Kanzler Helmut Kohl und die Forderung nach einer Emanzipation vom großen Bruder im Westen und seinem konservativen Präsidenten Ronald Reagan.
Und dann fiel mitten in meiner bundesdeutschen Jugend die Mauer, und bei Partys im Jugendheim lag man sich in den Armen, wenn zwischen »Kristallnaach« und »51st State« von New Model Army Marius Müller-Westernhagens »Freiheit« erklang: »Alle die von Freiheit träumen, sollen’s Feiern nicht versäumen«, grölte der dünne Mann. Und von Freiheit träumten wir schließlich alle. Denn wenn wir nicht gerade feierten, heimlich unsere ersten Biere tranken oder die Draufgängerischen von uns sich mit den komplexen Verschlussvorrichtungen der in vielen Fällen noch...