DEN BEDÜRFNISSEN AUF DER SPUR
(NEURO)BIOLOGIE DES JAGDVERHALTENS
Jagdverhalten …, was aus biologischer Sicht normales Hundeverhalten ist, treibt uns Menschen oftmals Sorgenfalten auf die Stirn. Aus normal wird aufgrund der Aktivität unserer Vierbeiner schnell unnormal. Uns fehlt es an Verständnis für hündische Hobbys, da unsere Zeiten des Jagens und Sammelns doch schon sehr weit zurückliegen. Hierzu kommt mir eine interessante Parallele aus der Menschenwelt in den Sinn, es geht um überaktive (Menschen)Kinder, Hyperaktivität wird ihnen als krankhaft übergestülpt. Thom Hartmann führt 1995 Überaktivität auf die genetische Variabilität und das eben nicht mehr Jagen und Sammeln als biologisches Erbe zurück. Dieses Nicht-mehr-aktiv-Sein, das biologische Zeitbudget für Ressourcensicherung nicht mehr auszufüllen, führt in seinen Augen zu übermäßiger Aktivität an anderer, unpassender Stelle. Erkennen Sie die Querverbindung zu unseren Hunden? Einschränkung, z. B. von Umwelterkundung, lässt sie wuseliger und aktiver werden, von ihrem Zeitbudget ist noch jede Menge übrig, Frustration macht aktiv. Beleuchten wir also das Jagen und Sammeln als hündisches Hobby unter dem Licht der (Neuro)Biologie.
BEUTEGREIFER UND ABSTAUBER
Zum Zweck des Nahrungserwerbs wären unsere Hunde unter natürlichen Bedingungen nicht nur Beutegreifer, sie wären auch Abstauber. Kleinere Beutetiere würden gejagt und vertilgt, alles andere wäre wenig erfolgversprechend, und der Hundemagen bliebe leer. Aas und dergleichen würden gesammelt und vertilgt. Hunde, die z. B. im Süden auf der Straße leben, verdingen sich in puncto Nahrungserwerb bevorzugt im Sammeln. Sie schwärmen aus und grasen nahrungsträchtige Stellen ab, um danach satt zurück nach Hause zu gehen. Jagen ist hingehen nicht unbedingt von Erfolg gekrönt, der Jäger strengt sich an und geht hin und wieder hungrig nach Hause.
© Anna Auerbach
Galgos wie Oona werden in Spanien als Hetzjäger selektiert, auf der Straße verdingen sie sich als Sammler.
FUNKTIONSKREISE HÜNDISCHEN VERHALTENS
„Futter“, „Freund“ und „Feind“ sind die drei Hauptfunktionskreise hündischen Verhaltens, vielleicht mögen Sie den Wust an Verhalten Ihres Vierbeiners einmal einsortieren? Die Krux für unsere Hunde ist, dass diese drei Funktionskreise nicht fröhlich nebeneinanderher wabern, nein,sie überschneiden sich, weil in der Hundewelt über die Sinnesorgane immer und immer wieder neue Reize ins Hundegehirn dringen. Neue Reize erfordern neue Entscheidungen, und aus der Menschenwelt addieren sich zusätzliche Reize hinzu. Nicht immer fallen Entscheidungen leicht, Motivationskonflikte entstehen. Und nicht immer führen Entscheidungen ans Ziel, vielleicht schränkt der Mensch sie durch die Leine ein, Frustration kommt auf. Erleichtern Sie Ihrem vierbeinigen Begleiter seine Entscheidungen, indem Sie die Funktionen unterbrochenen Verhaltens in den Belohnungen aufgreifen (Stichwort: funktionale Verstärker), und lassen Sie Bestrafung im Training außen vor.
© Wolfgang Lang-Graf
Funktionen und Emotionen hündischen Verhaltens
Funktionskreis „Futter“
Schauen wir uns den Funktionskreis „Futter“ bzw. das Jagen und Sammeln genauer an. Zum Zweck des Nahrungserwerbs auszuschwärmen, wirft Fragen auf: Was ist ess- und jagdbar? Wo und wie sind Ess- und Jagdbares zu suchen und zu finden? Wie findet der Jäger und Sammler zurück? Genießbares und Ungenießbares, diese zwei groben Kategorien sind angeboren, was genau Hund so alles essen kann, dafür beginnt das Lernen tatsächlich bereits im Mutterleib. Körperumrisse, Bewegungs- und geruchliche Muster potenzieller Beute sind teils ebenso angeboren und werden durch Lernen verfeinert und ergänzt. Am Lernen sind anfangs die Mutterhündin und später die Gruppenmitglieder oder andere Artgenossen beteiligt. So kann aus einem Sichtjäger schnell ein Nasenjäger werden, wenn der Hundefreund ihn entsprechend anleitet. Such- und Erkundungsverhalten führen den Hund in seine Sammel- und Jagdgründe. Es gilt, Suchengebiete zu finden, die Ess- oder Jagdbares beherbergen, und diese möglichst flächendeckend abzusuchen, um fündig zu werden. Such-, Erkundungs- und Neugierverhalten werden von einem emotionalen System gesteuert, das Jaak Panksepp das SEEKING-System nennt. Suchen müssen unsere Jäger und Sammler nicht lernen, wir müssen innerhalb von Sucharbeit ihre Motivation für Suchobjekte/-gerüche nur bilden und erhalten.
Suchen mit Suchenglück
Ein flächendeckendes Suchmuster führt den Jäger und Sammler zu mehr Jagdbarem und Essbarem, verschiedene Individuen und Hundetypen unterscheiden sich deutlich in ihrer Art, eine Fläche abzusuchen. Diffus, von außen nach innen, in kleinen, engen oder großen, weiten Querschlägen, vieles ist praktikabel und erfolgversprechend. Suchfelder, in denen der Jäger und Sammler erfolgreich war, legt das Hundegehirn im Hippocampus ab, in dem das Ortsgedächtnis verankert ist.
Hunde sind wahre Meister darin, sich an ergiebige Örtlichkeiten zu erinnern, genauer gesagt erinnern sich ihre „Platzzellen“, die an diesen Stellen anspringen und den Hund motivieren, hier genauer nachzusehen. Die „Platzzellen“ werden uns auch später im Buch immer mal wieder begegnen. Im Erkundungsmodus zwischen den Suchfeldern merkt sich das Ortsgedächtnis Landmarken in der Hundewelt, und Urinmarken sorgen zudem für einen Wiedererkennungswert. Unwegsame Hindernisse im Gelände werden umlaufen und der ursprüngliche Weg fortgesetzt, die Ausweichbewegung wird durch eine entsprechende Gegenbewegung ausgeglichen. Mit einer Brise Suchenglück wird etwaige Beute lokalisiert, und damit beginnt das große Rechnen. Die Sinneseindrücke über Ohren, Augen und Nase werden beidseitig trianguliert, über kleine Bewegungen des Kopfes werden die Reizintensitäten ab- und ausgeglichen, bis sich der Beutegreifer in direkter Verlängerung seiner Beute befindet. Schaut man Vorstehhunden bei der Arbeit zu, wird schnell klar, wie genau Beute geortet werden kann. Schauen Sie sich die Anordnung ihrer Augen an, die Sichtfelder überlappen sich – ein anschauliches Beispiel für „form follows function“. Geortet! Die Kopfbewegungen stoppen, und was nun folgt, ist der Beutesprung. Nach dem Beutezug geht es zurück nach Hause. Während der Bewegung bildet sich das Ortsgedächtnis, der Hippocampus merkt sich den Startpunkt, die zurückgelegte Entfernung wird abgelegt, und aus all diesen Informationen wird der kürzeste, sparsamste Heimweg ermittelt. Gestresst kann der Jäger und Sammler auf dieses innere GPS nicht zurückgreifen, ihm bleibt der energieaufwendigere Weg auf seiner Eigenspur. Verschwindet Ihr hündischer Begleiter einmal in den ewigen Sammel- oder Jagdgründen, warten Sie dort auf ihn, wo er Ihnen abhandengekommen ist. Jagen und Sammeln sind ein biologisches Erbe, das unsere Hunde in ihrem Verhaltensrepertoire nicht leugnen können.
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Orientierungsreflex: Die Aufmerksamkeit des Dingos ist gebündelt.
DIE JAGDSEQUENZ UND WAS SIE ANTREIBT
Als fester Bestandteil des Nahrungserwerbs ist das Jagdverhalten unseren Hunden angeboren, und ihre Sinnesorgane reagieren auf die passenden Auslösereize: So werden über die Augen optische Signalbilder wahrgenommen, Bewegung, Beuteschemata …, über die Nase olfaktorische, Witterung, Fährten, Spuren, Geläufe …, und über die Ohren akustische. Schmecken und Fühlen gesellen sich zu den hündischen Sinnen hinzu.
Es braucht eine Beutefangsequenz, die angepasst an die jeweilige Beute, die angeborenen Verhaltenspuzzleteile in die richtige Reihenfolge bringt: Orientieren, Fokussieren, Beschleichen, Verfolgen, Festhalten, Töten, Zerlegen und Vertilgen. Kaninchen und Hasen als Beute zu erkennen, ist angeboren, dass man die Puzzleteile seiner Beutefangsequenz an beide anpassen muss, ist eine Frage des Lernens. Die angepassten Jagdstrategien werden abgespeichert, hervorgekramt und fortlaufend verfeinert.
Wildhunde, wie der Australische Dingo, zeigen alle Puzzleteile in einer völlig ausgewogenen Ausprägung. Alle Puzzleteile sind gleich groß, eine Selektion hat nicht stattgefunden. Seine Beutefangsequenz ist zielführend, denn so macht er Beute. Werfen wir später einen Blick auf die Selektionsgeschichte der Jagd- und Hütehelfer, gilt der Begriff „zielführend“ in erster Linie für den Menschen, denn viele der vergrößerten Puzzleteile machen, biologisch betrachtet, überhaupt keinen Sinn. So käme der Beutegreifer nicht an seine Beute – bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vorstehen oder mit heiterem Geläut Fährten und Spuren verfolgen, würde unter natürlichen Bedingungen jeden Jagderfolg vereiteln. Ursprüngliches Jagdverhalten ohne Selektionshintergrund ist aus biologischer Sicht ganz normales Verhalten. Im Verlauf der Beutefangsequenz liefert das jeweils vorhergehende Puzzleteil die nötige Erregung für das nachfolgende Puzzleteil, bis für das Festhalten und Töten ein ausreichendes Erregungsniveau erreicht ist. Das Vertilgen würde bei einem Dingo die Beutefangsequenz zum Abschluss bringen und das Erregungsniveau gleichermaßen senken. Begleitet der Botenstoff Dopamin die Beutefangsequenz vom Orientieren bis zum Zerlegen, bringen die Endorphine beim Vertilgen die Zufriedenheit.
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Die Beutefangsequenz eines Dingos
Das SEEKING und sein Botenstoff
Vertilgen und Zufriedenheit sind genau das, was den Spezialisten am Ende ihrer Jagd- oder Hütesequenz fehlt, ohne Ermüdung läuft sie in einer Dauerschleife ab. Zur...