»Doing Aging« –
Die Macht der Bilder und Gedanken
Einmal in jeder Legislaturperiode gibt die deutsche Bundesregierung einen Bericht zur Lage der älteren Generation heraus. Im 6. Bericht aus dem Jahr 2010, dessen Thema die Altersbilder in der Gesellschaft waren, heißt es: »Wir müssen feststellen, dass in der Wahrnehmung des Alters weiterhin vor allem traditionelle und eher negative Vorstellungen dominieren (…) . Altersbilder sind nicht lediglich unbedeutende Begleiterscheinungen eines gesellschaftlichen Umgangs mit Alter, sie schaffen vielmehr eine Realität. Die Spielräume, die wir zum Erleben und Verhalten haben, sind von ihnen bestimmt.«1
Dieses Erschaffen einer Realität – in unserem Fall einer Altersrealität – wird in der Soziologie mit dem englischen Ausdruck »Doing Aging« benannt. Analog zu der Bezeichnung »Doing Gender« bedeutet dies, dass das Alter und was wir darunter verstehen, zu einem Großteil genauso konstruiert, also »gemacht« ist wie das soziale Geschlecht. Wie wir längst wissen, wird das, was wir unter männlich und weiblich verstehen, nicht ausschließlich biologisch vorgegeben, sondern kulturell hergestellt. Auch das, was eine Gesellschaft mit dem Alter bzw. dem Altsein verbindet, unterliegt in hohem Maß kulturellen Bedingungen und Prägungen. Dies gilt insbesondere für den sozialen Stellenwert und das Ansehen, das alte Menschen haben. Älter zu werden ist also nicht einfach ein Akt der Natur bzw. der Biologie. Was Älterwerden heißt und wie Menschen es erleben, hängt in hohem Maß von den Bedingungen, den Wertmaßstäben und Einstellungen ab, die in einer Gesellschaft bzw. in einem bestimmten Umfeld und Zeitraum gelten.
Der unterschiedliche Blick auf Frauen und Männer
In ihrem Buch »Mutprobe, Frauen und das höllische Spiel mit dem Älterwerden« beschreibt die Journalistin Bascha Mika eindrucksvoll, dass das »Doing Aging« Frauen in einem viel höheren Maß trifft als Männer. Hier nur ein Beispiel: Hartmut Mehdorn wurde vor einigen Jahren noch mit über 70 Jahren zum Chef der Berliner Flughafengesellschaft berufen. Im Vergleich zu anderen Männern in Spitzenpositionen von Wirtschaft, Politik oder Sport galt er damals noch als relativ jung; sein Alter wurde in den Medien nirgends zum Thema gemacht. Als die grüne Politikerin Renate Künast sich jedoch mit 57 Jahren als Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2013 bewarb, lästerten Journalisten, sie sei doch wohl nicht mehr so ganz frisch.
Wie unterschiedlich das Altern von Frauen und Männern in den westlichen Kulturen bewertet wird, hat die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag schon in den 1970er-Jahren ausführlich beschrieben und »The Double Standard of Aging« genannt. Damit ist gemeint, dass die Fähigkeiten und Chancen von Männern im höheren und hohen Alter häufig höher eingeschätzt und bewertet werden als die gleichaltriger Frauen. Dass dieser doppelte Maßstab und die damit verbundene Doppelmoral noch lange nicht überwunden sind, zeigte sich vor Kurzem in einer Fernsehsendung anlässlich des 60. Geburtstags der Fernsehmoderatorin Petra Gerster. Nachdem sie erzählt hatte, wie viel Freude sie an ihrer Arbeit und verschiedenen Projekten habe, fragte man sie, wie lange sie denn noch weitermachen wolle. Dies zu entscheiden stehe erst an, wenn sie ihr erstes Enkelkind bekomme, so ihre Antwort. Ich bin sicher, keinem Mann in einer vergleichbaren Position und mit ähnlicher Kompetenz wäre an seinem 60. Geburtstag eine solche Frage gestellt worden, vielmehr hätte man ihn vermutlich über seine Zukunftspläne befragt und auch die hätten wahrscheinlich anders ausgesehen als die von Petra Gerster. Die Moderatorin dagegen musste sich noch mehr bieten lassen. Ein Mann, der deutlich älter wirkte als sie, sagte – als er bei einem Straßeninterview befragt wurde – lachend ins Mikrofon: »Die ist sehr appetitlich, die kann man immer noch sehen.«
Diese sexistische Äußerung zeigt die Doppelmoral, nach der Frauen und Männer noch immer viel zu oft beurteilt, ja geradezu »taxiert« werden. Auch manche Redensarten halten an dieser Sichtweise fest, zum Beispiel die sprichwörtliche Behauptung, dass Männer im Alter reifen, Frauen dagegen verblühen. Falten eines Mannes gelten demzufolge als Zeichen von Integrität, Lebenserfahrung und Reife. Sie machen ihn zu einer interessanten Erscheinung. Falten einer Frau werden dagegen eher mit Verfall, Verlust und dem Schwinden sexueller Attraktivität verbunden. Wie die immer häufiger in den Medien und insbesondere der Werbung auftauchenden Fotos älterer und alter Frauen zeigen, deutet sich hier zwar ein Wandel an. Allerdings werden gleichzeitig neue Standards gesetzt, denn meist sind es jugendlich und gesund aussehende Frauen ohne Falten, die zudem demonstrieren, wie aktiv, fit und leistungsstark sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch immer sind. Es entsteht der Eindruck, dass Frauen ihre Alterserscheinungen weiterhin verleugnen oder wegretuschieren und sich jünger, faltenfrei und schlank machen (lassen) müssen, um gesehen und beachtet zu werden.
Wie der Titel von Bascha Mikas Buch zeigt, ist es für viele Frauen tatsächlich eine Mutprobe, zu ihrem Alter zu stehen und aus dem System der Doppelmoral sowie der damit verbundenen Abwertung des weiblichen Alters auszusteigen. Wer dies wagt, muss sich zunächst frei machen von überkommenen Vorstellungen und Bildern von sich selbst als älter werdender oder alter Frau. Mika nennt die Bilder und Mechanismen, die Frauen im Blick auf das Alter auch in sich selbst tragen, ein Kopfkino. Und sie empfiehlt, sich immer wieder zu fragen: Welcher Film läuft in meinem eigenen Kopf beim Thema Alter ab? Welche Bilder und Vor-Bilder erscheinen auf meiner Leinwand, wenn es ums Älterwerden geht?2
Frauen stehen heute also nicht nur vor der Herausforderung, gesellschaftliche Zuschreibungen und Vorstellungen von Weiblichkeit und Alter zurückzuweisen und zu korrigieren, sie haben zudem die Aufgabe, ganz neue Bilder von sich selbst als alt werdende Frauen zu entwerfen. Dazu gehört es, Einstellungen, Interpretationen und Denkgewohnheiten, die den weiblichen Körper und Geist betreffen, zu hinterfragen und abzulegen. Manches von dem, was wir über das Alter denken, stammt aus einer Zeit, in der viele Menschen bereits in einem Alter starben, in dem wir Heutigen noch 20, 30 geschenkte Lebensjahre vor uns haben.
Weil sowohl die persönlichen wie auch die gesellschaftlichen Bedingungen und die Art und Weise, wie wir alt werden, ganz andere sind als noch vor 50 oder mehr Jahren, weil vieles, was noch für unsere Eltern und Großeltern bedeutsam war, nicht mehr von Belang ist, fehlt es uns häufig an Vorbildern, die uns beim Altwerden helfen könnten. Wie wir noch sehen werden, gab es jedoch auch in der Vergangenheit und gibt es bis heute weibliche Lebensmodelle und Lehrmeisterinnen, bei denen wir Anregungen für das Älterwerden im 21. Jahrhundert bekommen.
Frauen als Protagonistinnen einer neuen Alterskultur
Anders als manche AutorInnen, die sich mit der zunehmenden Überalterung unserer Gesellschaft beschäftigen und zahlreiche negative Begleiterscheinungen der dritten bzw. vierten Lebensphase beklagen, richtet die Politologin und Journalistin Antje Schrupp in ihrem Buch »Methusalems Mütter« unseren weiblichen Blick auf die Chancen und die Vorteile, die ältere Frauen gegenüber Männern haben. So weist sie darauf hin, dass Männer sich im Renten- bzw. Pensionsalter oft völlig neu orientieren müssen, weil ihr Leben wie schon das ihrer Väter und Großväter in erster Linie an Erwerbstätigkeit, Laufbahn und Leistung ausgerichtet war. Frauen hingegen konnten sich noch nie darauf verlassen, beruflich ihr Leben lang die Karriereleiter kontinuierlich nach oben zu klettern. Viele unterbrachen ihre Erwerbsarbeit, wenn Kinder kamen, oder sie suchten sich eine Teilzeitbeschäftigung. Zudem ist der Prestigeverlust, den Frauen beim Eintritt ins Rentenalter verkraften müssen, bei den meisten selbst heute noch gering.
Im Blick auf eine Zukunft, in der wir alle länger berufstätig sein werden, Arbeitsbedingungen und -zeiten sich immer stärker ändern, ständige Fort- und Weiterbildung notwendig ist und Rentenbezüge knapper ausfallen, sind es eher die Männer, die lernen müssen, flexibel auf bisher ungekannte Herausforderungen zu reagieren. Die Biografien sehr vieler Frauen dagegen werden allen Veränderungen zum Trotz vermutlich auch in Zukunft Brüche und eine andere Prioritätensetzung aufweisen. Frauen haben – so Antje Schrupp – immer schon Familien- und Fürsorgearbeit (Care) miteinander vereinbaren wollen oder müssen und tun es bis heute. Sie sind ehrenamtlich tätig und kümmern sich, kaum dass ihre Kinder das Haus verlassen haben, trotz eigener Berufstätigkeit um ihre alten Eltern oder Schwiegereltern. In den zahlreichen HelferInnenkreisen und Initiativen, die Flüchtlingen und AsylbewerberInnen zur Seite stehen, engagieren sich überwiegend Frauen. Weil ihre Altersbezüge schon bisher und wohl auch in Zukunft häufig nicht zur Existenzsicherung reichen und im Durchschnitt weit unter denen der Männer liegen, sehen sich viele Frauen gezwungen, im Rentenalter noch Geld dazuzuverdienen oder nach einem langen arbeitsreichen Leben staatliche Unterstützung zu beantragen. Nicht zufällig ist lange schon von einer Feminisierung des Alters die Rede, denn in ihrer Mehrheit sind alte Menschen weiblich. Das wird allen Prognosen nach so bleiben, denn die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen wächst auch in den nächsten Jahrzehnten weiter.
Auch das schon vor vielen Jahren in die Schlagzeilen gekommene Stichwort »Die Armut ist...