Er war ein Riesenschnörkel. Dieser schwungvolle, Ehrfurcht gebietende Schnörkel stand unter Verträgen auf dem Geschäftspapier «Rowohlt Verlag, Hamburg». Den Mann hinter dem Schnörkel kannte ich nicht.
Das war Anfang der fünfziger Jahre, ich war im Ostberliner Verlag Volk und Welt Abteilungsleiter «Lektorat West» – so üppige Bürokratien leistete sich die DDR: Der zweitgrößte belletristische Verlag des Landes beschäftigte ca. zwanzig Lektoren, drei für Russisch, zwei für Chinesisch, einen für indische Literatur, und für die «Westliteratur» zwölf. Und «Westliteratur», das war Louis Aragon aus Frankreich, Mouloud Feraoun oder Mohammed Dib aus dessen arabischen «Kolonien», Pablo Neruda und, etwas rätselhaft, der Türke Nâzim Hikmet (wohl, weil er im westlichen Exil lebte). Ich war – zwanzigjähriger Student und bald stellvertretender Cheflektor des gesamten imposanten Imperiums – neben dem Studium dort tätig, weil ich als parteiloser «Bürgerlicher» kein Stipendium erhielt. So streckte ich meine Tentakel aus bis zum «Rowohlt Verlag, Hamburg», der recht gerne Lizenzverträge – etwa für Simone de Beauvoirs Amerika-Buch – schloss; wir zahlten pünktlich und in Devisen, recte: DM-West. Solche Verträge waren unleserlich unterschrieben. Der große Unbekannte hieß Ledig-Rowohlt.
Ich kannte – dem ruhmvollen Namen nach gut, persönlich eher flüchtig – nur Ernst Rowohlt, den Gründer des Verlags. Der gefiel sich in jener Zeit in einer so ostentativen wie bramarbasierenden Ost-Sympathie, in Westdeutschland so rar wie ungewöhnlich. So war er eine Art Ehrengast bei den kommunistischen «Weltjugendfestspielen» in Berlin 1951, die Picasso mit einer graphischen Arbeit ehrte; die gab es für 1 DM-Ost als Halstuch für die feiernde Jugend, welche im Rausch der Begegnung mit den Tausenden aparter, auch freizügiger Ausländer am liebsten nur dieses Tuch als Bekleidungsstück trug; es gab das Emblem für 5 DM-Ost als kleine Keramik (heute auf Auktionen mehrere Tausend Dollar wert); und es gab die Figuration der vier (gelb, schwarz, rot, weiß = «Völkerfreundschaft») ineinanderfließenden Gesichter NICHT als Vorhang, wie es der Stückeschreiber Brecht sich gewünscht hatte für sein «Berliner Ensemble» – die dann berühmte Taube musste her.
Auf Taubenfüßen indes besuchte Ernst Rowohlt im heißen Sommer des Jahres 1951 den Verlag Volk und Welt und den jungen Herrn Raddatz nicht. Vielmehr erschien ein röhrendes Naturereignis, gezähmt allenfalls durch einen großen Mercedes mit Chauffeur. Der so herrlich wie herrschaftlich durchreisende Verleger – er wollte weiter nach Moskau – passte kaum in mein nicht gerade überdimensioniertes Arbeitszimmer. Warum er ausgerechnet mich besuchen, mich kennenlernen wollte, habe ich auch in späteren Jahren nicht herausgefunden. Immerhin trug er, fast skandalös für an Werbung nicht Gewöhnte, eine Krawatte mit eingesticktem rororo-Monogramm.
Damit kommt der große Unbekannte mit dem Riesenschnörkel ins Spiel. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt.
Denn entgegen einer weitverbreiteten Fama war es nicht Ernst Rowohlt, der die Taschenbücher erfunden hat. Zwar hatte er gleich nach Kriegsende die legendären Zeitungsdrucke auf billigem Papier initiiert – als Nummer eins erschien Kurt Tucholskys ‹Schloss Gripsholm› –, aber das waren keine Bücher, sondern der Not und Armut der Bevölkerung entsprechend eben «Zeitungen», Literatur für die, die gar nichts mehr hatten, im Zeitungsformat. Immerhin trugen sie bereits den Namen «Rowohlts Rotationsromane» (= Ro-Ro-Ro). Doch was dann nach 1949 sehr bald auf den Markt kam, schreiend bunt und, von vielen Kritikern als Frevel befehdet, mit Anzeigenseiten mitten im Text, das war ausschließlich Ledigs Idee. Er war als einer der (wenigen) deutschen Verleger noch vor der Währungsreform 1948, gleichsam als «Re-Education»-Maßnahme, in die USA eingeladen worden und dort auf die für deutschen Geschmack scheußlichen Taschenbücher aufmerksam geworden: Preiswerte Bücher (Buchreihen war man eher von der erlesen-geschmackvoll ausgestatteten Insel-Bücherei gewohnt), so etwas galt zunächst als genauso neu und fremd wie chewing gum oder Erdnussbutter. Ledig allerdings stand in Flammen, sah eine Zukunft für Publikum und Markt. Er hatte nur ein anfangs unüberwindlich scheinendes Problem: Diese Bücher waren nicht gebunden, sondern geleimt; das Verfahren hieß Lumbecken nach dessen Erfinder, dem Buchhändler Emil Lumbeck, aber «gelumbeckte» Bücher gab es bisher nicht in Deutschland. Es war der findige, angeblich mit Gummi-Ersatz aus dem Kriege sich auskennende Herstellungsleiter des Verlages Edgar Friedrichsen, der nach langen und mühseligen Experimenten eine Lösung dafür fand, wie man 100, 200, 300 Papierseiten per Lumbeck-Verfahren so zusammenfügen konnte, dass sie nicht gleich nach dem ersten Umblättern auseinanderfielen. Der Herr Friedrichsen hatte fortan bis ans Ende seiner Rowohlt-Tage eine Sonderstellung im Verlag, und wenn er dann – bis weit in die achtziger Jahre – ein Buch für unkalkulierbar erklärte, galt sein Wort. Das allein Ledig durch beschwörende List zu umschiffen vermochte: «Friedrichsen, Geliebter, mein Schätzchen», wusste er zu charmieren, «machen Sie mir einen anderen Preis, ich will dieses Buch verlegen» – wenn es etwa um einen voluminösen Thomas Wolfe ging. Ledig konnte seinen Charme einsetzen wie Lauren Bacall ihre Augen, auch etwas verlogen.
Ledig Triumphator. Stolz führte er Ernst Rowohlt, der ja noch immer Haupteigentümer des Verlages war, die ersten Probeexemplare der neugeborenen rororo-Ausgaben vor. Und der war empört. Er trampelte wütend auf ihnen herum, hochrot vor Ärger, und schrie: «Das Zeug kommt mir nicht ins Haus!»
«Ledig Triumphator», 1961
Sie kamen dann ins Haus. Mehr noch. Mit Riesenauflagen «bauten» sie das Haus. Mühelos konnte Ledig damals durch gigantische vorausbezahlte Garantieauflagen bei jedem deutschen Verlag Lizenzen für Titel seiner Wahl erwerben, mal Unterhaltungsschund wie Gábor von Vaszary und mal Joseph Roth. Seine Taschenbücher waren Selbstgänger, sanierten den verschuldeten Verlag, schafften den Spagat aus Renommee und Gewinn. Als später – übrigens zu Ledigs Ärger; aber es gab ja kein Patent für diese Art Bücher – der S. Fischer Verlag eine eigene Taschenbuchproduktion auflegte, gingen die Leute in den Laden und verlangten «ein rororo von Fischer».
Doch «Haupteigentümer Ernst Rowohlt» – wie das? Ernst von Salomon hat in seinem Erfolgsklassiker ‹Der Fragebogen› die höchst widersprüchliche Beziehung zwischen Ernst Rowohlt und Heinrich Maria Ledig in einem ausführlichen Kapitel aufgezeichnet. Hier deshalb nur eine Skizze. Ledig – manchmal lässt Geschichte keine Pointe aus – war der 1908 geborene uneheliche Sohn aus einer frühen Leipziger Affäre, die Ernst Rowohlt mit einer Schauspielerin namens Ledig hatte. Wie Mütter das so tun, wollte die Dame dem Sohn ein möglichst warmes Nest bereiten. Sie schmuggelte den knapp erwachsenen Knaben als Lehrling in den Rowohlt Verlag. «Der Alte», wie Ernst Rowohlt bald allenthalben genannt wurde, wusste von Beginn an, wer dieser Lehrling war – und ignorierte es komplett. «Herr Ledig soll mal kommen»: So lauteten die väterlichen Anordnungen. Ledig wurde in den zwanziger und dreißiger Jahren wie ein fremder Angestellter gesiezt.
Nachdem Ernst Rowohlt 1938 aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen worden war, was einem Berufsverbot gleichkam, leitete Ledig in der Nazizeit dann allerdings – implant publisher heißt so etwas heute – den Rumpf-Verlag unter dem schützenden Dach der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart. Ernst Rowohlt, so will es eine fromme Legende, war emigriert; in Wahrheit seiner Frau nach Südamerika gefolgt. Aus lauter Anti-Nazi-Widerstand kehrte er mitten im Krieg nach Berlin zurück. Erich Kästners Bonmot «Die Ratten betreten das sinkende Schiff» ist bekannt: Da hatte er den «Emigranten» am Kurfürstendamm getroffen, bereits in Uniform; denn Rowohlt war alsbald Offizier in Hitlers Armee.
Als das Schiff gesunken war, also 1945, wurde der Rowohlt Verlag neu gegründet. «Der einzige Verlag mit Lizenzen aller vier Besatzungsmächte», verkündete «der Alte» bei jeder passenden Gelegenheit. Auch das war gezinkt. «Väter’chen Rowohlt», wie er sich gerne nennen hörte, war nämlich nicht nur Offizier gewesen – er war auch Mitglied der NSDAP. Ein Pg hatte keine guten Chancen bei der Verteilung von Lizenzen. Da entdeckte der schlaue Mann, dass er ja einen Sohn hatte. Ernst Rowohlt erhielt zwar die britische, der unbelastete, kriegsverwundete Ledig aber die amerikanische Lizenz. Die russische holte Mary Tucholsky – als geborene Baltin russischsprachig –, die inzwischen als Sekretärin in Ernst Rowohlts Berliner Büro arbeitete; der «Frau» (in Wahrheit geschiedenen Witwe) des «großen deutschen Antifaschisten Tucholsky» mochten die Genossen in Karlshorst die Lizenz nicht verweigern. Zuvor schon hatte Kurt Kusenberg die französische Lizenz erhalten, was dem skurril-begabten Erzähler und später kundigen Herausgeber von Rowohlts Monographien zeitlebens einen Sonderstatus im Verlag garantierte. Jahre danach, als ich für und mit Ledig arbeitete, akzeptierten Kusenberg und ich es als stillschweigende Übereinkunft der Rücksichtnahme, dass ich das...