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E-Book

Jahrgang 1936

Spurensuche in einer bösen Zeit

AutorReinhard Strehl
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783741257780
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Der Autor, Jahrgang 1936, beschreibt in anschaulichen Bildern seine Kindheit als Sohn eines NSDAP-Ortsgruppenleiters in Wittenberg und seine Jugendjahre während der frühen Adenauer-Zeit im katholischen Aachen. Was geschah in jenem bösen November 1938 in Wittenberg? Und wie kann man - nicht zuletzt dank klugen Lehrern - frei werden von der Enge eines Elternhauses, das die Denkmuster des Dritten Reiches nie überwunden hat?

Reinhard Strehl studierte Musik und Mathematik und war nach Promotion sowie einer Zeit im Schuldienst Professor für Didaktik der Mathematik in Freiburg, Berlin und Lüneburg. Er war Stipendiat des Evangelischen Studienwerks, gehörte der Synode der Evangelisch-reformierten Kirche an und ist seit 1970 Mitglied der SPD.

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Leseprobe

Krieg und erste Flucht


Von den Luftangriffen der Alliierten war Wittenberg nicht betroffen. Nur ganz vereinzelt fiel eine Bombe in die Stadt, wenn ein verirrtes Flugzeug, vielleicht vom Einsatz über Berlin zurückkehrend noch restliche "Last" abwarf. Ein Haus in unserer Straße, schräg gegenüber, war ausgebrannt, und ich hatte es nicht einmal bemerkt. Wir Kinder kletterten verbotenerweise in der Ruine herum, doch ich war ängstlich und traute mich nicht über die halb erhaltenen Treppen in die oberen Etagen.

Restlos zerstört war der Bahnhof, denn der war als wichtiger Verkehrsknotenpunkt am Elbübergang auf der Strecke Leipzig-Berlin ein Ziel der Bomber. Doch der Bahnhof lag weit außerhalb. Schon bis zur Luther-Eiche war es für mich ein weiter Weg. - Ich mochte den knorrigen Baum mit dem ruhigen kleinen Platz mit zwei oder drei Parkbänken, eingefasst von einer niedrigen Natursteinmauer. Was Luther hier getan hatte oder getan haben soll, war mir durchaus schon bekannt, auch wenn ich seine Bedeutung nicht verstand. Alles "Heldenhafte" wurde bei uns in Ehren gehalten. - Bald danach kam eine mächtige Unterführung, und dann lief die Straße noch lange immer den Bahngleisen entlang gerade auf den Bahnhof zu. Dort war kaum ein Stein auf dem anderen geblieben, aber die Stadt, das historische Wittenberg, blieb verschont.

Ziele waren auch die chemische Industrie auf der anderen Elbseite und die Wittenberger Arado-Flugzeugwerke. Die waren aber weit vom Zentrum der Stadt entfernt, und man sprach nicht viel von ihnen, vielleicht weil dort in großer Zahl Zwangsarbeiter für die deutsche Luftwaffe eingesetzt wurden. Vielleicht aber war das der Ort, wo ich gelegentlich im Dunkeln jene sonderbaren "Weihnachtsbäume" am schwarzen Himmel gesehen habe, Leuchtraketen am unsichtbaren Fallschirm, die den angreifenden Flugzeugen als Zielmarkierung dienten.

Und doch habe ich als vier- bis achtjähriges Kind sehr unmittelbar den Wahnsinn dieser Zeit erlebt - wenn auch mit glücklichem Ende für mich. Nacht für Nacht wurde ich geweckt, und ging in den zum provisorischen Bunker ausgebauten Keller. Alles war verdunkelt. Ich kannte gut das Motorengeräusch der anfliegenden Bombergeschwader. Sie waren auf dem Weg nach Berlin, und der ging über Wittenberg. Anfangs hörte man noch die Salven der FlaK, und ich wusste als kleiner Junge natürlich auch schon, dass das "Flugabwehrkanone" heißt und war stolz darauf. Dass die Firma Krupp, Zierde auch unserer heutigen Industrie, von dieser schon bei Ende des ersten Weltkriegs entwickelten, danach am Verbot der Siegermächte vorbei weiterentwickelten Waffe bis zum Ende des Dritten Reichs mehr als 20.000 Stück produziert hat, konnte ich natürlich nicht wissen. Die Luftabwehr ließ im Laufe der Zeit immer mehr nach, das Brummen der Bomber blieb.

Der Keller des Hauses hatte keine gegossene Sohle, wie es heute selbstverständlich ist. Es gab nur ein Streifenfundament unter den tragenden Wänden des Hauses. Der Boden fest gestampftes Erdreich, die Keller der einzelnen Wohnungen durch Lattenwände voneinander abgetrennt. So kam etwas Licht von den kleinen Kellerfenstern, durch die Kartoffeln und Kohlen angeliefert wurden, auch bis in den Mittelgang zwischen den Kellern. Am Ende dieses Ganges, zum Nachbarhaus hin lag der große, durch zusätzliche Balken besonders gesicherte, gemeinsame Luftschutzraum für das ganze Haus, der auch einen Licht- und Luftschacht zur Hofseite hatte und vor allem einen "Durchbruch" zum Nachbarhaus. Das war eine dünne Stelle in der Trennwand zum ebenso gebauten Nachbarhaus, brandsicher zwar, aber so dünn, dass man mit einem schweren Hammer leicht einen Fluchtweg zum Nachbarhaus schaffen konnte, falls bei einem Bombenangriff die Ausgänge des eigenen Hauses durch Einsturz oder Brand versperrt wären. In allen deutschen Städten war das so während des Bombenkrieges, und jedes kleine Kind wusste das. Der schwere Hammer lag bereit, und auch wir Kinder hatten einmal probiert, ob wir ihn wohl würden schwingen können.

Aber das war in der Adolf-Hitler-Straße nicht notwendig. Wittenberg lag eben für die Bomber nur auf dem Wege nach Berlin. Doch haben wir ungezählte Nächte in diesem kühlen Keller gesessen, in Decken gehüllt, oder auf provisorischen Liegen ein wenig gelegen, kaum je geschlafen. Was geschah draußen? In regelmäßigen Abständen ging jemand an die Tür. Was sprachen die Großen, die Erwachsenen? Stalingrad wurde nicht erwähnt. Wann gab es Entwarnung?

Hier im Keller bin ich ein guter Skatspieler geworden. Wir hatten eine Zeitlang unsere Aachener Verwandten aufgenommen. Das war die Familie meines Onkels Karl, des Bruders meiner Mutter. Wenn in Deutschland über die Fluchtbewegungen gesprochen wird, die der 2. Weltkrieg bewirkt hat, so wird vielfach vergessen, dass es zu Anfang eine Flucht von West nach Ost gab, dass nämlich die Bevölkerung der westdeutschen Städte vor den alliierten Bombenangriffen in ländliche Bereiche und vielfach auch staatlich organisiert nach Mitteldeutschland ausweichen musste: Evakuierung. Mein Onkel hatte es verstanden, nicht nur seine Familie ins damals sehr sicher geglaubte Wittenberg zu bringen, sondern dort auch eine Filiale seiner Aachener Gummiwarenhandlung zu eröffnen, obwohl er selber Soldat war. Kurt Fellenberg, der Mann einer meiner Wittenberger Patentanten, war irgendwie dem Militärdienst entgangen und übernahm die Geschäftsführung.

Das Skatspiel aber habe ich bei Onkel Matthias gelernt. Auch der, ein Vetter meiner Tante Annemarie, der Frau jenes Onkel Karl, war nicht Soldat, und ich weiß nicht warum. Ich weiß nur: er war nett, erzählte uns Kindern spannende Geschichten und war ein hervorragender Skat-Lehrer. So saßen wir Nacht für Nacht vor einer Holzkiste, die als Tisch diente, und horchten zwischen "18, 20, 2, 3,…" oder ähnlichen Ansagen auf das Brummen über uns und auf die kurzen Ansagen der Erwachsenen, die nach draußen geschaut hatten, hörten vielleicht noch eine Geschichte von Onkel Matthias oder hüllten uns nur in unsere Wolldecken bis endlich der sehnlichst erwartete, lang anhaltende, gleichmäßige Sirenenton "Entwarnung" anzeigte.

Das Frühjahr 1945 habe ich als eine Zeit mit herrlichem Wetter und viel blauem Himmel in Erinnerung, "Wittenberg wird verteidigt!" Die Erwachsenen schüttelten den Kopf, während ich, der ich immer noch mein helles "Heil, Hitler!" sagte, nicht wusste, ob mein Stolz noch angebracht war. Ich war acht.

In diesen Wochen wurden für die Verteidigung Wittenbergs Volkssturm-Gruppen aufgebaut. Die ganz wenigen Männer, die nicht an der Front waren, und Frauen wurden herangezogen. Ich stand stumm aber gespannt dabei, als Herr Stehlich, unser Hausbesitzer, für eine kleine Gruppe von Hausfrauen die Bedienung einer Panzerfaust erklärte. Herr Stehlich arbeitete bei der Feuerwehr, war deshalb "unabkömmlich" und nicht Soldat. Panzer kannte ich nur als Spielzeug oder aus der Wochenschau, die ich im Kino gelegentlich gesehen hatte. Und da war es stets unmöglich gewesen, einen deutschen Panzer zu stoppen. Ich stand neugierig etwas hinter den Frauen und sehe noch das armdicke Rohr mit dem topfartigen Kopf, der "Faust", vor mir. Das Gerät auf Herrn Stehlichs Küchentisch sollte es also können, jedenfalls wenn russische Panzer anrollten.

Wenig später aber haben wir uns nicht weiter um derartige Verteidigungsübungen gekümmert, sondern stattdessen unsere wichtigsten Habseligkeiten zusammengepackt und sind südwärts über die Elbe nach Kemberg geflüchtet, in ein kleines Dorf, wo wir mitten im Ort bei einem Bauern ein enges Notquartier fanden. Die Hoffnung aller, die damals über die Elbe nach Süden oder Südwesten auswichen, war, von der amerikanischen und nicht von der russischen Frontlinie erreicht zu werden. Das galt für Zivilisten wie für vor der russischen Front zurückflutende deutsche Truppenteile. Die Angst ging um. - Doch für uns kam es anders.

Bei unserer Flucht aus Wittenberg konnten wir noch wie sonst bei Sonntagsausflügen über die Elbe, kurz danach wurde die Brücke von deutschen Truppen gesprengt, um den russischen Vormarsch aufzuhalten.

Was von unserer Habe mitzunehmen war, wurde also verladen, auf einen großen Handwagen und auf Fahrräder. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie es meine Mutter geschafft hat, alles, was drei Personen zum Überleben brauchten, und vieles, was nach Meinung unserer Mutter für uns unverzichtbar wäre, zu retten. Sogar das Schachspiel im schwarzen Kästchen mit der Kerbschnitzarbeit von Onkel Willi war dabei.

Und so stand ich bald darauf schon wieder müßig - Schule gab es in diesen Tagen nicht - unter strahlend blauem Frühlingshimmel am Ortsrand des kleinen Dorfes Kemberg, von dem ich bis dahin noch nie gehört hatte. Kaum wusste ich, wie wir dorthin gekommen waren. Ich stand am Feldrand und sah ein Flugzeug, klein, hoch und so weit entfernt, dass es nicht einmal brummte, wie sonst die Bomber nachts über Wittenberg gebrummt hatten, und so, dass es aussah, als ob es sich kaum bewege. Es war still. - Und dann sah ich die Bomben fallen, erst eine, dann noch eine, in der Sonne blinkend, wie frisch geputzte Silberlöffel - Sidol, das war das Mittel, das meine Mutter damals benutzte, und das noch...

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