Kapitel 7: Von Le Puy nach Conques
Mensch, bin ich gerädert. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn die gestrige Extremetappe auf meiner kleinen Enduro hat ihre Spuren hinterlassen. Der Körper wirkt strapaziert und ungelenk. Jedenfalls bin ich heute Morgen alles andere als geschmeidig. Da auch das Wetter grau bis dunkelgrau ist, werde ich den Auszug aus dem Zimmer restlos ausnutzen und heute Vormittag noch die Stadt erkunden. Das heißt, langsam in Bewegung kommen, in der Hoffnung, dass das Wetter freundlicher wird.
Diese Wetterabhängigkeit ist typisch für die Pilgerei. Trotz bester Kleidung ist das Wetter immer Thema und Launengeber. Der körperliche Zustand verstärkt die gefühlte Temperatur. An Tagen wie heute, wenn der Leib muskelverspannt den Tag begrüßt und das Wetter ebenfalls trübe dreinschaut, ist die Lust zum Aufbruch stark gebremst. Da oft sowohl der Leib als auch das Camino-Wetter Nordspaniens volle Last tragen, wird dieser Gemütszustand alltäglich. Die Hoffnung, irgendwann würde der Körper nicht mehr angestrengt fortschreiten und das Wetter mit freudigen Sonnenstrahlen das Pilgerleben erhellen, ist trügerisch. Der Körper lernt zwar ungemein schnell, mit der täglichen Belastung umzugehen, aber jeden Tag mit Lust zu Fuß 20 bis 30 Kilometer zu wandern, ist und bleibt Kräfte zehrend und entsprechend anstrengend.
Und das Wetter macht, was es will. Regen, Hitze, Wind und teilweise sogar Schnee in den Bergen sind zu ertragen. Da kommt viel zusammen, zumal jede und jeder, der sich aufmacht, auch ein individuelles Stück Last mit sich trägt. Ein Grund zur Pilgerei ist immer vorhanden. Auch wenn die wenigsten gleich eine plausible Begründung ihres Tuns parat haben, so ist doch immer ein inneres Gewicht, das manchmal äußerlich sichtbar wird, im Gepäck – der schwere Gang, die Tränen, die Wut, die Wortlosigkeit.
Der Vorteil des spärlichen Pilgerns ist ja nicht nur der Verzicht auf Telefon, Computer, Auto und so weiter, sondern auch die Fremdheit des Gehens und der Sprache. Ich reduziere mich mit allem auf das Wesentliche. Gute Sprachkenntnisse geben zwar Sicherheit im fremden Land, lassen mich aber auch stärker an den blassen Alltäglichkeiten teilnehmen. Wenn ich zum Beispiel das Handy-Gespräch meines Nachbarn nicht nur hören muss, sondern auch noch verstehe, um welche Oberflächlichkeiten oder Sorgen es gerade geht. Aus dieser Teilnahme komme ich schlecht heraus, denn Ohren lassen sich ja nicht an- und abschalten. Also ist eine Zeit der Ruhe für meine Ohren und mich gut, und diese finde ich auf dem Jakobsweg.
Wenn ich ihn denn finde? Das ist nicht so einfach. In Deutschland gab es fast keine Hinweise. Selbst dem Heiligen Jakobus wurde kaum Verehrung zugesprochen. Gleiche Erfahrungen machte ich in der Schweiz. Einsiedeln, Lungern und andere Streckenabschnitte waren ohne Hinweise. Das heißt, wer sich aufmacht, sollte Jakobus im Herzen und eine gute Wanderkarte in der Tasche haben.
Diese Suche nach dem Camino und seinen Heiligen ändert sich, sobald man die klassischen Zubringer betritt. In der Kirche von Le Puy steht er – erleuchtet, gewürdigt, erklärt und mit Segenswunsch für die Pilgerfahrt. Selbstverständlich konnte ich auch eine Kerze anzünden.
Hier auf der Via Podiensis ist dann gut gehen. Zumindest gibt es Hinweise und Zeichen. Doch führt dieser Weg sehr oft an der Straße entlang, und eine gute Wanderkarte ist hilfreich, um keine großen Umwege oder Kraftanstrengungen machen zu müssen. Das Wandern an befahrenen Straßen ist einfach nervig und anstrengend. Besser man findet und geht an ausgewiesenen Pfaden ohne Verkehr.
Ich traf heute zwölf Peregrines auf dem Weg und 22 heute Abend in der Kirche. Laut Verzeichnis in Le Puy gehen zurzeit neun bis zwölf Menschen täglich diesen Abschnitt. Das wären hochgerechnet fast 4.000 im Jahr. So ist auch einmal der Jakobsweg in Spanien gestartet, und jetzt sind es 100.000 Pilger jährlich. Im Heiligen Jahr, wenn der Jakobstag, der 27. Juli, auf einen Sonntag fällt, steigert sich die Zahl der Verehrer sogar auf zirka 250.000. Kein Wunder, dass die Infrastruktur des Caminos wächst und Übernachtungen, Essen und alle anderen Bedürfnisse des Wanderers gut erfüllt werden. Wer vor 20 Jahren gegangen ist, würde den Camino wohl kaum wiedererkennen. Der Weg und auch der Peregrino haben sich in der Zeit komplett geändert.
Ähnliches wird wohl auch in Frankreich stattfinden. Mein heutiger Übernachtungsort Conques lässt jedenfalls vermuten, dass auch hier die Pilgerschar alljährlich wächst. Die alte Bausubstanz des Ortes wird ganz im alten Stil rekonstruiert. Hier ist Mittelalter noch erlebbar, wenn man von den vielen kleinen schmucken Souvenirläden und Bars absehen kann. Zurzeit geht’s noch, doch lässt die Zahl der Hotels und Ateliers erahnen, dass im Sommer richtig Saison ist.
Das erinnert mich ein wenig an Griechenland, wo die zahlreichen Geschäfte selbst im ruhigen Frühjahr den Sommerrummel vorhersagen. Allerdings ist Griechenland wärmer und trockener. Hatte ich heute Morgen Dauerregen in Le Puy, wurde daraus ab Saugues Schneeregen. Auf den Höhen bei Aubrac kehrte ich in ein Restaurant ein und musste fast weinen vor Schmerz, weil die Hände so kalt waren. Ich bekam nur langsam die Jacke aus, rundherum tropfte meine Kleidung. Zum Glück brannte ein Ofen, und ich konnte mich an den Tisch daneben setzen. Obwohl ich alleine war, füllte sich der Tisch rasch: Helm, Handschuhe, Halstuch lagen auf der freien Tischhälfte, Jacke und Pullover hingen über den Stühlen. Die andere Hälfte wurde gedeckt mit Kaffee und Pizza, und es erwachte wieder Leben in mir. Dafür war der Anfangsschmerz groß, als die Hände warm wurden.
Der ganze Tag heute war erlebnisreich. In Le Puy gab’s keine Beschilderung. Also fuhr ich nach Kompass. Dann endlich ein Hinweis und große Freude, weil es keinen Spaß macht, im Regen mit einem Motorrad durch eine fremde Stadt zu irren.
Danach kam die Angst, denn die Reserveleuchte mahnte das Tanken schon auf der gestrigen Restetappe an. Leider fuhr ich aus Le Puy nicht auf der großen Ausfallstraße Toutes Directions, sondern folgte kleinen Pilgerwegen. Kurz vor Ortsende fing plötzlich der Motor an zu stottern. Jetzt wurde es interessant. Insgesamt 48 Kilometer reicht die Reserve, davon waren fast alle verbraucht. Gerade fand ich mich damit ab, das Motorrad zurück in die Stadt schieben zu müssen, als plötzlich eine kleine Tankstelle mit drei Zapfsäulen auftauchte. Dem Herrn sei’s gedankt! Ich tankte Rekord: 9,3 Liter. BMW spricht von maximal zehn Liter Tankvolumen. Nun wissen wir auch über die Reichweite dieser Enduro Bescheid. Bisher lag mein Rekord bei 8,1 Liter. Das nenne ich neue Bestmarke. Allerdings muss ich das nicht zu oft haben.
Freude und Angst lagen heute dicht zusammen. Regen, aber auch schöne Orte und nette Menschen. Kälte und dann plötzlich ein Restaurant mit Ofen. Stotternder Motor und dann eine Tankstelle. Jakobus sorgte gut für mich.
Auch hier in Conques, diesem schönen mittelalterlichen Touristenort, knatterte ich in den Ortskern und stand plötzlich an der Kirche. Ich stieg ab und ging hinein. Da kamen zwei Peregrines und verschwanden vor mir in einer Herberge, die ich nicht wahrgenommen hatte. Also frage auch ich dort nach einem Zimmer und wurde aufgenommen. Besser geht es nicht. Ich blicke auf die Kirche und auf mein Motorrad, das vor der Tür steht. Da noch viele andere Peregrines im Hause sind, genieße ich das Flair, auch wenn ich kein richtiger Pilger bin. Immerhin bin ich heute 200 Kilometer vorangekommen – in fünf Stunden. Das ist zehnfache Pilgergeschwindigkeit. So ein Motorrad ist schon klasse.
Meine Mutter ist da übrigens anderer Meinung. Sie hat Angst, dass mir etwas passiert. Auch von anderen weiß ich, dass sie in Bezug auf das Zweiradfahren große Bedenken haben. Interessanterweise sind das aber stets Menschen, die diese Leidenschaft nicht teilen und kein Motorrad bewegen. Ein Phänomen, das ich auch von der Pilgerei oder dem Marathon kenne. Ich erzähle ganz begeistert davon, und mein Gegenüber hebt die Augenbrauen und reagiert mit einem abwertenden Kommentar: „Willste jetzt fromm werden?“ oder „Marathon ist doch ungesund“ oder „Motorrad ist doch was für Selbstmörder.“ Dabei grinst er, steckt sich eine Zigarette an und setzt sich vor die Glotze. Man könnte auch sagen, zwei Welten treffen aufeinander. Schlimm ist es nur, wenn solche Kollisionen im engsten Beziehungskontext stattfinden. Da sind Vertrauen und Respekt notwendig – im engen wie im weiten Lebensraum.
Motorrad fahren führt nicht zwangsweise zum Tode. Ich fahre jetzt 30 Jahre. Hatte kritische Augenblicke, aber trainiere auch die notwendigen Bewegungsabläufe. Motorradprofessor Bernt Spiegel hat tolle Hinweise gegeben, die den Umgang mit dem Zweirad schulen. Außerdem werden überall sinnvolle Trainingskurse angeboten.
Das Niveau der Motorradfahrer halte ich für überdurchschnittlich hoch, auch wenn am Motorrad oft das Rowdy- oder Rockerimage hängt. Ein Rowdy auf dem Jakobsweg würde bestimmt der eine oder andere Fernsehfritze kommentieren, sähe er mich jetzt fahren. Jakobus und sein Rocker offenbaren das Wunder, selbst Motorradfahrer so zu frommen, dass sie sich nach Compostela aufmachen.
Die Leidenschaft zum Zweirad lässt eine vielseitige Szene entstehen. Den Motorradfahrer an sich gibt es gar nicht. Der eine fährt viel, der andere wenig. Jener fährt lieber schnell, dieser lieber langsam. Manche jagen durch das Gelände, andere lieber über abgegrenzte kreisrunde Einbahnstraßen. Die Szene hat so viel Profil wie die verschiedenen Reifenarten. Der eine Reifen ist breit und flach, der andere...