Erster Applaus im Tanzcafe Bijou
Das Telefon läutet… „Hallo“ Es ist meine Tante aus Schweden. „Alles Gute zum Geburtstag“, - wir reden noch ein wenig über dieses und jenes und ich erzähle ihr, dass ich gerade ein Buch schreibe.
„Gute Idee!“, meint sie und setzt nach: „das hätte auch deiner Oma gefallen“. Meine Gedanken katapultieren mich zurück in die Kinderzeit. Meine Großmutter und ich - wir waren immer zusammen! Sie mochte Tiere, Musik und sie liebte es, unterwegs zu sein. Wir unternahmen viel.
Ich wuchs in einer Zeit auf, in der der deutsche Schlager noch einen großen Stellenwert hatte. Es gab damals nicht so viele Sängerinnen und Sänger wie heute.
Das Taschengeld, das ich als kleiner Junge bekam, wurde von mir gleich in die neuesten Lieder, die es auf sogenannten Singles gab, investiert. Niemals hätte ich gedacht, dass ich Jahre später mit meinen damaligen „Favoriten“ auf ein und derselben Bühne stehen werde. Faszinierend fand ich damals Renate Kern, Peggy March, Katja Ebstein, Siw Malmkvist - die mit ihren Liedern, sowohl was die Stimme als auch das Aussehen betraf, ein offenes Ohr und Auge bei mir fanden. Deren Platten liefen den ganzen Tag bei uns zu Hause und ich sang immer mit. In meiner Phantasie sah ich mich auch schon da oben auf der Bühne!
Es gab in Nürnberg, gleich beim Admiral Kino, das Tanzcafé Meissner. Nach ein paar Stufen die Treppe hinunter, befand man sich sogleich in einem Tanzsaal. Die Band auf der Bühne spielte die neuesten Hits für das tanzwütige Publikum. Ein Conférencier führte durch das Programm und der eine oder andere Star stand hier „auf den Brettern, die die Welt bedeuten“. In der Faschingszeit lockte ein Kindernachmittag mit Wettbewerb. Jedes Kind konnte hier einmal zeigen, ob es „bühnentauglich“ ist.
„Da möchte ich singen“, rief ich, als meine Großmutter mir davon aus der Zeitung vorlas. Ich wählte Romeo und Julia von Peggy March und hatte nach meinem Vortrag ein recht gutes Gefühl - ich wurde Siebter, immerhin! Meine Freude war groß. In dieser Zeit versuchte ich mein Glück immer wieder bei verschiedenen Nachwuchswettbewerben, heute Casting genannt. An einen kann ich mich besonders gut erinnern. Im Deutschen Hof fand im Lessing Saal ein Talentwettbewerb statt - natürlich war ich dabei. Ich sang Alle Blumen brauchen Sonne von Renate Kern. Mit diesem Song hätte sie beinahe die Deutschen Schlagerfestspiele in Baden-Baden gewonnen. Der Ansager fragte mich, als ich an die Reihe kam, was ich zum Besten geben möchte und ich schlug ihm mein Lied vor. Er strahlte über beide Ohren und erzählte mir, dass er ein guter Freund von Renate Kern sei. Die Band fing zu spielen an und ich sang. Ich hatte zwar eiskalte Hände, war aber sonst gänzlich unbekümmert und gegenwärtig, wie es nur Kinder sein können. Danach gab es einen Moment der Stille und dann brandete tosender Applaus auf. Überglücklich und erleichtert verneigte ich mich artig, wie ich es im Fernsehen immer gesehen hatte. Der Conférencier kam und drückte mich. Er fragte nach meiner Adresse, um Renate Kern von diesem Event zu erzählen. Der erste Preis beeindruckte mich tief - es war eine riesengroße Carrera-Autorennbahn, die ich kaum tragen konnte. Wir sind daher mit dem Taxi nach Hause gefahren. Eines stand für mich jetzt felsenfest: ich werde Schlagersänger - koste es, was es wolle!
Ein paar Tage später kam ein großer Umschlag mit der Post. Ich war ganz aufgeregt und riss das Kuvert ungeduldig auf. Zum Vorschein kam ein handgeschriebener Brief von Renate Kern. „Lieber Marco, ich habe gehört, dass Du vor ein paar Tagen großen Erfolg mit meinem Lied Alle Blumen brauchen Sonne hattest. Ich wünsche Dir auf Deinem weiteren musikalischen Weg alles erdenklich Gute. Deine Kollegin Renate Kern.“
Ein großes Pressefoto mit einer lieben Widmung lag auch dabei, das hing ein paar Minuten später in meinem Kinderzimmer. Ab diesem Zeitpunkt durfte ich nun bei jeder Feier oder Geburtstagsparty beweisen, wie groß mein Repertoire inzwischen geworden war.
Die Schule wurde mir immer mehr zur lästigen Pflicht, ja, ich hatte sogar das Gefühl, sie würde mich mehr behindern als unterstützen. Eine Ausnahme gab es allerdings: das Fach Musik, unterrichtet von Frau Kleinlein. Sie war wirklich etwas Besonderes: elegant, blond, Chanel Kostüm und Sportwagen, ein blauer Karmann Ghia – perfekt. Sie passte so gar nicht zur anderen farblosen Lehrerschaft. Wir mochten einander auf Anhieb. Am Jahresende gab es in Singen immer Noten. Ich durfte am Schluss einen Schlager singen, den Einser hatte sie aber schon vorher eingetragen. Ein paar Mal nahm sie mich in ihrem Sportwagen mit, um mich, von allen sichtlich beneidet, nach Hause zu chauffieren.
Ein paar Jahre später gab es einen großen Wettbewerb einer ebensolchen Faschingsgesellschaft im legendären Tanzcafé Bijou. Das Bijou war ein elegantes Etablissement, wie man es sich heute wieder sehnsüchtig wünschen würde. In allen Zeitungen wurde über diesen Wettbewerb berichtet. Es war klar, dass ich da auch mitmachen wollte. Man musste an einem Nachmittag in diesem bewussten Tanzlokal erscheinen und vorsprechen bzw. vorsingen. Ich wählte zwei Lieder aus, die mir geeignet schienen. Begleitet von meiner Mutter, die Notenmappe unter dem Arm, marschierte ich los. Es waren viele Bewerber, die bei dieser Vorrunde erschienen: ein Opernsänger, der sich pausenlos nervös übers Haar strich, ein paar junge Mädchen, die einander gegenseitig „ihr“ Lied vorsangen, usw. Beinahe fünfzig Talente hatten sich eingefunden. Es gab Kaffee und Kuchen und für die kleineren wie mich Kakao. Eine sechsköpfige Kapelle kämpfte sich durch den riesigen Berg von Noten, denn damals gab es noch kein Playback. Ich war noch mit meinem Kuchen beschäftigt, als eine Assistentin des Wettbewerbs zu mir kam und mich freundlich an der Hand nahm und zur Bühne führte. Ich gab dem Bandleader meine Klaviernoten. Er sah sich alles gründlich an und nuschelte etwas Unverständliches auf Tschechisch. Ich fragte ihn, ob alles klar wäre und er gab mir in gebrochenem Deutsch zu verstehen, dass es eine schwierige „Nummer“ sei und sie da ein bisschen dran arbeiten müssten. Ich schlug ihm voreilig vor, dass ich gleich mitsingen könnte. Er lachte und sprach mit seinen Musikern. Unter lautem Gelächter begannen sie zu spielen. Ich setzte ein und sang, wir schafften es auf Anhieb, im Gleichklang zu sein und am Ende setzte im Saal ein derart stürmischer Applaus ein, den ich so nicht erwartet hatte. Der Veranstalter kam angelaufen und umarmte mich. Als er mich zu meiner Mutter brachte, meinte er: „Der kleine Mann ist in der Endrunde.“ Ich war happy!
In vierzehn Tagen begann der Wettbewerb, ich bekam eine neue „Bühnengarderobe“, ein blaues Sakko, eine graue Hose und einen weißen Rolli und neue schwarze Schuhe. Und zum Friseur musste ich. Haare schneiden. Ich fand zwar, dass meine langen Haare gut passten, aber ich fügte mich und freundete mich nach längeren Diskussionen mit einer neuen Kurzhaarfrisur an.
Schule spielte in meinem „neuen“ Leben eine untergeordnete Rolle. Ich hatte nur noch den Kopf für das Singen frei - ein fataler Fehler. Der Tag des Wettbewerbs kam und ich musste mit meiner kleinen Entourage, bestehend aus meinen Eltern, meiner Oma und meiner Tante schon am Nachmittag im Bijou erscheinen. Wir wurden sehr herzlich begrüßt und der Veranstalter des Wettbewerbs bat meine Eltern an den Tisch zu einem Gespräch, während ich mit dem Orchester, das aus sieben Mann bestand, mein Lied proben konnte. Es klappte alles wie am Schnürchen, auch die Stelle, bei der ich am Schluss den Ton sehr lange halten musste. Als ich an den Tisch zu meinen Eltern kam, sah ich, dass meine Mutter ein wenig blass aussah. Was war in den drei Minuten passiert? Meine Oma und meine Tante strahlten um die Wette, nur meine Mutter nicht - was war passiert? „Wir reden zuhause darüber“, antwortete meine Mutter knapp.
Wir fuhren nach Hause, denn ich musste noch ein wenig schlafen, der Abend würde lang werden.
Ausgeschlafen, angezogen und mit frisch gewaschenen Haaren stieg ich ins Taxi. Jetzt war ich doch ein bisschen nervös. Als wir ankamen, standen schon viele Leute herum, die Damen ganz elegant und frisch vom Friseur. Wenn ich heute ins Theater oder ins Opernhaus gehe, sehe ich viele in Jeans und Freizeitkleidung - damals undenkbar.
Das Bijou hatte ein ganz besonderes „Flair“, der Nightclub beeindruckte durch eine große, halbkreisförmige Bühne für die Künstler, rundherum eingefasst von eleganten Stühlen und Tischen, auf denen kleine Lampen eine intime Atmosphäre verbreiteten. Diese Art der Beleuchtung verströmte ein besonderes Fluidum.
„Ich glaube, ich hab meinen Text vergessen“ sagte ich leise zu meiner Mama. Wir gingen auf die Toilette zum „üben“.
„Du kannst ihn doch, da bin ich ganz sicher“,...