Bischöfe als Aufseher
Jürgen Hoeren: Herr Drewermann, haben denn die Jünger Jesu das Anliegen Jesu begriffen, wie sie es geschildert haben: nämlich den Gottesglauben und nur den allein – ohne Mittler, ohne Vermittler, ohne Hierarchie, ohne Ämter?
Eugen Drewermann: Wir haben es bei den Jüngern Jesu mit Juden zu tun, das dürfen wir nie übersehen. Natürlich haben sie begriffen, dass Glaube – hebräisch emuna – nichts anderes sein kann als Vertrauen. Erst unter dem Einfluss griechisch sprechender hellenistischer Christen ist allerdings sehr bald aus der Person Jesu eine Kultgottheit geworden mit einer sehr komplizierten Lehrvorstellung, die ihn beschreibt als den Gottessohn. Auf diese Probleme der Christologie müssen wir unbedingt noch eingehen. Aber es liegt in der ganzen Entwicklung noch ein zweiter Schritt: Wenn die Orthodoxie sich abspaltet von der Existenzform, braucht es Kontrolleure der richtigen Lehre. In Glaubensfragen kann man so gut wie niemals derart strikt argumentieren, dass aus der Logik der Beweisführung das Ergebnis ein für alle Mal abzuleiten wäre. Es liegt in jedem Dogma eine Form von Gewalt, mit dem Versuch, alle anderen Denkmöglichkeiten unter Verbot zu stellen. Diese Kontrolleure des richtigen Glaubens stehen bestimmten Ämtern vor, sie fühlen sich in der Pflicht der Verantwortung, die Richtigkeit der Lehrtradition zu kontrollieren. Und da nun haben wir das Eigentümliche, dass speziell die Bischöfe, die Episkopoi, die Aufseher wörtlich übersetzt, ein Amt bekleiden, dem sie solche göttliche Unfehlbarkeit und den Besitz der Wahrheit zusprechen. Wie sie selbst leben, ist schon nicht mehr gar so wichtig, verglichen mit der Frage, welch ein Amt sie bekleiden. Das Göttliche, das Gnadenhafte, das Wahre liegt fortan im Amt, unabhängig von der Person. Nun haben wir schon im zweiten Jahrhundert den Konflikt der Montanisten in Kleinasien. Montanus will nicht länger diese Aufspaltung zwischen Funktion und Person. Es bildet sich eine große Bewegung, die darauf pocht: Es darf jemand im Raum der christlichen Kirche Sakramente nur spenden, Verkündigung nur tätigen, wenn er mit seiner Person in Wahrhaftigkeit, nicht in formaler Lehrwahrheit, sondern in persönlicher Identität dahinter steht, so wie die Propheten einmal. Auch die besaßen eigentlich nur die Resonanzbühne ihres eigenen Herzens und ihres persönlichen Lebens. Und genau das erwartet man jetzt auch von dem, was man einen Priester nennt. Unterhalb davon wird es, meint man, schizophren. Der Streit geht noch ein Jahrhundert, vor allem in Nordafrika, weiter. Man will in Karthago einen Bischof einsetzen, Cäcilian, der auf eine Weise lebt, dass es skandalös ist. Man lehnt ihn als Bischof ab und setzt stattdessen Donatus als Bischof ein. Daraus entsteht eine eigene Gruppierung, die Donatisten. Es sind die allerletzten, die noch einmal betonen, dass man Leben und Glauben voneinander nicht trennen darf. Es ist bedauerlicherweise Augustinus, der die Donatisten in einen heftigen Streit verwickelt und kirchenpolitisch ausschaltet. Auch das ist ein Erbe des Bischofs von Hippo in der Kirchengeschichte. Er, der der Vater existenzieller Lyrik in der christlichen Literatur genannt zu werden verdient, wendet sich paradoxerweise im Interesse der Kirchenzucht gegen diesen in seinen Augen übertriebenen Subjektivismus der Donatisten und davor der Montanisten. Tertulian – um 200 – gilt als Montanist und hat in entsprechender Radikalität geschrieben, zum Beispiel über die Unmöglichkeit, dass Christen Militärdienst leisten. Da sind die Dinge scheinbar noch klar. In den Tagen des Augustinus aber ist das alles andere als klar. Da ist inzwischen die konstantinische Wende eingetreten, und die großen Theologen müssen versuchen, mit den dadurch entstandenen Widersprüchen klarzukommen.
Jürgen Hoeren: Herr Drewermann, bleiben wir noch bei den Montanisten; sie hatten aber doch auch einen sehr schwärmerischen Zug. Sie glaubten ja, dass das neue Jerusalem bald kommen würde. Sie ließen sich in der heutigen Türkei nieder, in einer kargen Ebene. Sie rechneten damit, das neue Jerusalem komme bald. Und sie kannten auch Prophetinnen mit besonderer Gabe, die sehr engagiert – um es einfach zu sagen – predigten. Waren das Ansätze, die Sie als »richtigen Weg« bezeichnen würden?
Eugen Drewermann: So sind Propheten, so sind Mystiker, so sind religiös glühende Existenzen. Das Gottesreich kommt nicht irgendwo, sondern es kommt in Phrygien, da wo die Montanisten leben. Immer da, wo sie sie selbst sind, geschieht das Eigentliche. Und sie sind ungeduldig. Es ist unter dem Druck des Leids an einer verkehrten Welt nicht anders möglich, als das Anliegen Christi auf den Nägeln brennen zu spüren. Alles muss jetzt kommen, es duldet keinen Aufschub. Das gehört mit zu der prophetischen Existenz, so wie Jesus selbst sie verkörpert. Zugegeben: Dieses Schwärmertum ist ohne Zweifel auch das Bedenkliche, denn wenn es mit zu viel Angst sich selbst durchsetzt, kann es die Züge des Fanatischen annehmen und mehr Schaden als Nutzen stiften. Deshalb ist ein Gegengewicht des normativ Zügelnden schon erforderlich, aber dieses Gegengewicht müsste eines der Güte sein, der Toleranz, des menschlichen Umgangs. Man müsste die Punkte, an denen die Visionäre leiden, aufgreifen und sie mit ihnen gemeinsam durchgehen. Dann würde sich der Furor temperieren lassen.
Jürgen Hoeren: Aber diese Leute setzen sich als verbindlich, indem sie sehr asketisch leben, auf Sexualität verzichten, das Armutsideal geradezu übersteigern, geradezu fanatisch leben …
Eugen Drewermann: Damit greifen sie das, was Jan Hus 1200 Jahre später will, bereits auf; das geht in gerader Linie weiter. Aber sie greifen vor allen Dingen 200 Jahre zurück. Denn die Person Jesu wollte ohne Zweifel genau dies: ein Visionär sein, der in Armut unter radikalem Machtverzicht lebt. Wenn wir den Mann aus Nazaret als Erlöser begreifen, dann müssten wir die bürgerlichen Begriffe von Grund auf umprägen. Beginnen wir nur mit dem Zentralbegriff der Verehrung Jesu: Er ist der Sohn Gottes, sagt das Dogma. In den Weihnachtstagen wird das Ereignis seiner Ankunft begangen, wie über dem Feld der Hirten die Engel davon sprechen, Gott habe Herrlichkeit im Himmel nur, wenn auf Erden Friede sei bei den Menschen – ich übersetze die Stelle ein bisschen frei –, die an Gnade glauben können und auf Gewalt verzichten. Wenn das so ist, ist die gesamte Weihnachtsbotschaft das Gegenprogramm zur sogenannten Friedenspolitik des Kaisers Augustus. Es geht bis in die mythologische Sprache hinein. Der Gründer Roms, Romulus, wurde geboren von Rhea Silvia, einer Vestalin, die keinen Mann berühren durfte, und vom Gott Mars, vom Kriegsgott. So kam Romulus zur Welt, ein Gotteskind. Und auch das Julisch-Claudische Kaiserhaus trat durch die Göttin Aphrodite, die von Anchises den Äneas gebar, in die Geschichte ein. Gotteskinder sind also die Gründer Roms und die Herrscher Roms. Und sogar deren Ende ist danach: Romulus stirbt, indem er auf dem Marsfeld eine Militärparade abnimmt und dann unter Donner zum Himmel auffährt. Lukas steht nicht an, die Geschichte Jesu in genau diesen beiden Spannungen zu erzählen: die Geburt Jesu in Betlehem bereits als Kontrastprogramm zu Romulus, und das Ende des Jesus genauso als Kontrast zu Romulus. Jesus fährt im ersten Kapitel der Apostelgeschichte zum Himmel auf. Und das stellt jeden, der Jesus anschaut, vor die Frage, wen er für den wahren Gottessohn hält. Das Mysterium ist nicht, dass es Gottessöhne gibt – das Mysteriöse macht erst das Kirchendogma aus dem Mythischen in fast gespenstischer Weise mit metaphysischen Begrifflichkeiten, die alle erst einmal zurechtgebogen werden müssen, um begreifbar zu werden. Für die antike Welt sind Gottessöhne etwas ganz Normales. Die Frage ist also: Wen halten wir für einen Gottessohn und mit welchen Konsequenzen? Glauben wir daran, dass Cäsar oder Augustus Götter sind, Gottessöhne? Die waren groß – ohne Frage. Cäsar immerhin hat eineinhalb Millionen Gallier ermordet, nur um die Macht in Rom zu erlangen. Groß! Er hat alle Schlachten gewonnen, gegen Pompejus später sogar den Bürgerkrieg – ganz groß. Aber lesen wir Lukas, müssten wir sagen: Er ist winzig klein. Er ist gemein. Darauf hinaus läuft sogar das Ende aller Reden, die Jesus im Lukasevangelium hält, im Abendmahlssaal – auch das ein Thema, das dann für Jan Hus sehr wichtig wird: Wie feiert man das Abendmahl? – Da diskutieren die Jünger über genau diesen Punkt: Was halten wir für groß? (Lk 22,24) Und Jesus antwortet: Die da auf den Thronen sitzen, willküren herab auf ihre Untertanen und nennen sich dafür Wohltäter. Bei euch nicht so (Mk 10,42–43). Man müsste das Gemeinte jetzt frei wiedergeben und sagen: Wenn ihr euch niederbeugt zu den Kleinsten und euch fragt, wie ihr denen aufhelft, dann seid ihr wirklich groß. Mit anderen Worten: Wir haben einen Begriff aus der Antike, einen Begriff aus der altorientalischen Königstheologie oder Mythologie übernommen, indem wir Jesus den Gottessohn nennen. Das erklärt, warum er als König, als Messias, als Christus definiert wird in theologischer...