Einführung
Mach keine Kompromisse mit dir selbst. Du bist alles, was du hast.[1]
Janis Joplin
An einem schwülen Septemberabend heizt Ruby Boots auf der Bühne des Basement East in Nashville dem Publikum ein und röhrt, begleitet von ihrer E-Gitarre, Janis Joplins Piece of My Heart ins Mikrofon. Das sechstägige Americanafest des Jahres 2018, eine jährliche Musikkonferenz und ein Festival, würdigt Langspielplatten des Jahres 1968, und das Album Cheap Thrills, das Big Brother and the Holding Compay damals den Durchbruch brachte, schaffte es in die umfassende Auswahl. Ruby, im australischen Perth als Bex Chilcott geboren, begeisterte sich schon als Kind für Janis’ Musik. Sie fühlte sich vom klagenden Soul in Janis’ Stimme unwiderstehlich angezogen, der weder Zeit, Entfernung noch der Tod etwas anhaben konnten. Es ist wie damals vor 50 Jahren, wenn Janis den Song anstimmte: Gebannt von seiner rauen, aber furchtlosen Menschlichkeit, drängen sich die Zuschauer im Publikum näher an die Bühne heran.
Als dann im Ryman Auditorium (der einstigen Grand Ole Opry) die Americana Honors & Music Awards Show ausgerichtet wird, treten mehrere Janis-Erbinnen auf die Bühne: Rosanne Cash, Singer-Songwriterin und Aktivistin, bereits als Jugendliche Fan von Janis, bekommt den Preis in der Kategorie »Free Speech in Music«; die im kanadischen Alberta geborene k. d. lang erhält den »Trailblazer Award«. Die Sängerinnen Brandi Carlile, Margo Price und Courtney Marie Andrews – allesamt für verschiedene Auszeichnungen nominiert – lassen in ihren umwerfenden Auftritten Janis’ Einfluss spüren.
Vor Janis’ viel zu kurzem Leben im Rampenlicht hätten diese Künstlerinnen Schwierigkeiten gehabt, ein Idol vom Format dieses Beatniks aus dem texanischen Port Arthur zu finden. Als erster weiblicher Rockstar Amerikas veränderte Janis mit ihrer musikalischen Souveränität, ihrer ungestümen Sexualität und ihrem natürlichen Überschwang alles. Bis heute prägt Janis Generationen von Künstlern verschiedener Genres und über die Geschlechtergrenzen hinweg. Zugleich aber war alles, was sie tat, von ihrer Belesenheit, ihrem scharfen Intellekt und ihrer tiefen Sehnsucht nach einem Zuhause mit dem obligatorischen weißen Gartenzaun bestimmt – Facetten, die in dem für ihre Fans entwickelten Image nicht im Vordergrund standen.
Gleiches gilt für ihre Vorreiterrolle. Zwar betrachtet man Janis’ Ära heute als eine Zeit der Befreiung von den rigiden Strukturen der 1950er Jahre, doch die Rockmusik war nach wie vor eine rein männliche Domäne. In der etablierten Presse wie auch in der Gegenkultur stieß Janis auf einen erstaunlichen Sexismus und wurde von Repräsentanten der Musikindustrie gelegentlich mit eiskalter Geringschätzung bedacht. Trotzdem machte sie weiter. Mit ihrer Willenskraft und ihrem herausragenden Talent gelang ihr der Beweis, dass im Rock auch unbeugsame Musikerinnen, Autorinnen und weibliche Fans einen Platz finden können. Die Feministin Ellen Willis, in den 1960er Jahren Musikkritikerin des New Yorker, bezeichnete Janis als »einzige Heroine der 60er-Jahre-Kultur, die die weiblichen Erfahrungen bei der Suche nach Befreiung des Individuums ausdrückt und öffentlich macht«.[2] Patti Smith, Stevie Nicks, Cindy Lauper, Chrissie Hynde, Kate Pierson von den B-52 sowie Ann und Nancy Wilson von Heart gehören zu den Künstlerinnen, die Janis noch persönlich auf der Bühne erlebt haben. Hier atmeten sie den Geist, der ihre eigene Zukunft bestimmen sollte.
Durch ihren Einfluss und die unablässige Arbeit an sich selbst eroberte sich Janis einen Platz im Zentrum unserer Musik und unserer Kultur. Wenn wir die entscheidenden Momente der Rockgeschichte betrachten, ist sie stets dabei: beim Monterey Pop Festival, in der pulsierenden Szene von Haight-Ashbury, in den rauen Straßen, Clubs und Studios von New York, in Woodstock. Sie war Thema von Museumsausstellungen und einer Vielzahl von Theaterproduktionen und Filmen. Ihr erstes Album ohne Big Brother, das kühne I Got Dem Ol’ Kozmic Blues Again Mama!, klingt heute noch ebenso frisch wie bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1969. Die von Filmemacher D.A. Pennebaker erstellte Filmdokumentation des Monterey Pop Festivals löst bei einer neuen Generation von Fans begeisterten Applaus aus, und das Video auf YouTube wird millionenfach angeklickt.
Als Janis 1967 in Monterey auf die Bühne trat, war ihr Name außerhalb von San Francisco kaum bekannt. »Wer ist dieses Mädchen?«, fragte Lou Adler, Mitveranstalter des Festivals. »Wo kommt sie her? Und wie sie aussieht! Wieso steht sie in dieser Männerband im Vordergrund?«[3] Die Antwort gab Chet Helms, Impresario aus Haight-Ashbury, als er sie dem Publikum vorstellte. »Vor drei oder vier Jahren, als ich ein Jahr lang durch unser Land getrampt bin, stieß ich in Texas auf ein Mädchen namens Janis Joplin«, erklärte er den nichtsahnenden Zuschauern. »Ich hörte sie singen, und dann sind wir gemeinsam an die Westküste getrampt. Seitdem ist viel passiert, doch es erfüllt mich mit großem Stolz, dass ich heute das fertige Produkt vorstellen kann: Big Brother and the Holding Company!«[4]
Durch ihr mitreißendes Konzert an diesem Abend änderte sich nicht nur Janis’ Leben, sondern auch die zukünftige Entwicklung der Popmusik. Als sie ihr fünf Songs langes Set mit einer dramatischen Interpretation von Willie Mae Thorntons bluesigem Ball and Chain beendete, hatte sich ihr Name bei Tausenden von perplexen Zuschauern und Hunderten verblüffter Journalisten eingeprägt, die sogleich leidenschaftlich über sie berichteten. Ihr emotionaler Gesangsstil sollte schon bald andere Sänger beeinflussen, die am Anfang ihrer Karriere standen, wie beispielsweise Robert Plant von Led Zeppelin. Junge Frauen, die sie im Avalon Ballroom oder in Bill Grahams beiden Fillmore-Auditorien sahen, haben dieses Erlebnis bis heute nicht vergessen. Ihnen kam es so vor, als würde Janis an ihrer statt singen, ihre Geschichte erzählen, ihren Schmerz ausdrücken, sie ermutigen und ihnen die Scham nehmen. Janis war ein wandelnder Lebensnerv und konnte Gefühle hervorholen, die andere ignorierten oder unterdrückten. Und sie war bereit, dafür den Preis zu zahlen.
Wenn es um ihre Vorstellungen ging, machte Janis keine Abstriche. Sie scheute nicht davor zurück, Grenzen zu überschreiten, sei es auf dem Gebiet der Musik, der Kultur oder der Sexualität. Trotz des zu dieser Zeit noch herrschenden Verbots zeigte sie offen ihre Bisexualität und fürchtete weder Gefängnis noch Verurteilungen. Und als ihr die Band ihrem Gefühl nach keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr bot, zögerte sie nicht, ihre Rolle als »Frontfrau« aufzugeben, obwohl sie von Kritikern wie von Fans deswegen verdammt wurde. Nur vier Tage vor ihrem Tod am 4. Oktober 1970 erklärte sie dem Journalisten Howard Smith: »Du bist nur das, womit du dich zufriedengibst!«[5]
Janis Joplin gab sich nie zufrieden. Als ältestes Kind einer Familie mit festem Zusammenhalt verehrte sie ihren Vater, der seine Liebe zu Bach, seine intellektuellen Interessen und seine atheistischen Ansichten in der konservativen, von der Ölindustrie beherrschten Stadt Port Arthur geheim hielt. Vor der Pubertät war Janis ein Wildfang, aber zugleich klug, neugierig und mit einem von ihren Eltern unterstützten beachtlichen Talent in den Bildenden Künsten ausgestattet. Nach ihrer Einschulung in die High School Mitte der 1950er Jahre stieß sie mit ihrer Begeisterung für die Beatniks und mit ihrer progressiven Haltung in der Frage der Rassentrennung jedoch das Establishment vor den Kopf. Ihr erster offener Bruch mit den Konventionen bestand darin, sich als junge Weiße schon früh für die Kraft des Blues zu begeistern und an der Golfküste Kneipen aufzusuchen, wo diese Musik gespielt wurde, und nach Bluesplatten unbekannter Labels zu forschen. Die Ächtung durch Gleichaltrige, die sich auch über ihr Aussehen lustig machten – etwa als sie nach dem Vorbild der in der Zeitschrift Life erscheinenden Fotos die Aufmachung der weiblichen Beatniks kopierte –, konnte sie niemals ganz überwinden.
Zweifellos liebten Seth und Dorothy Joplin ihre älteste Tochter, doch zugleich fühlten sie sich durch deren immer krassere Renitenz zurückgestoßen. Die gleiche Unbeugsamkeit war es jedoch, die Janis letztlich den Ruhm brachte. Rebellion und Sehnsucht nach Aufmerksamkeit äußerten sich in der Pubertät stärker und gesellten sich zu der erwachenden Sexualität, der Entdeckung des Rock ’n’ Roll sowie des Alkohols und der Drogen. Die Verletzungen, die sie in jenen turbulenten Jahren bei den heftigen Auseinandersetzungen im Hause Joplin davontrug, sollten niemals heilen. Janis’ Sehnsucht nach dem Zugehörigkeitsgefühl und der Aufmerksamkeit, die sie in der Jugend vermisst hatte, und die Erkenntnis, dass sie dem Glauben ihrer Familie an Einzigartigartigkeit nur dann gerecht wurde, wenn sie ihren eigenen Weg ging, erzeugte in ihr eine anhaltende Spannung. Erst nachdem sie erkannt hatte, wie herausragend ihre Stimme war, fand sie ihren Platz und die Möglichkeit, sich in Port Arthur und Beaumont, dann in Austin und schließlich in San Francisco im Kreis der Freigeister und Musiker eine neue Familie zu schaffen. Sie stürzte sich mit wilder Freude ins Leben, konnte aber der tiefsitzenden Schwermut, die aus dem vom Vater übernommenen Gefühl der Einsamkeit und seinem blanken Fatalismus stammte, niemals ganz...