Wie alles weiterging
von Volker Uhl, Ludwigsburg
»Trauerflor für die Streifenwagen ist angeordnet!«
Gestern war es wieder so weit – das Innenministerium schickte eine Mail an alle elektronischen Postkörbe in den Polizeidienststellen. Ein Kollege hatte im Dienst sein Leben verloren. Wieder in Berlin, unserer Hauptstadt, in der dieser Job gefährlicher zu sein scheint als in meiner barocken Kleinstadt oder der schwäbischen Gemütlichkeit Stuttgarts.
Uwe Lieschied war der Name hinter dem Trauerflor. Er wurde bei einer Personenkontrolle von zwei Tätern erschossen, die zuvor einer älteren Frau die Handtasche geraubt hatten. Einfach so.
Gibt es harmlose Kontrollen? Wahrscheinlich genauso wenig, wie sonnige Sonntagmorgen, die Ruhe und wenig Arbeit versprechen. Tausendfach halten wir täglich Autos an, führen Verkehrskontrollen durch, werden zu Streitereien in Wohnungen gerufen, überprüfen hunderte von Ladendieben, und meist passiert nichts. Harmlose Kontrollen eben. Genauso harmlos wie der Gifttrunk in der Wasserflasche ... solange man ihn nicht an den Mund führt.
Die Eigensicherungsregeln wurden uns in der Ausbildung eingebläut. Wir mussten sie auswendig lernen, wie einst die Mitternachtsformel der quadratischen Gleichung: x eins zwei gleich Minus b plus minus Wurzel aus b Quadrat geteilt durch irgendwas ...
»Wenn ich euch nachts um drei wecke, muss das sitzen. Ihr müsst sie täglich befolgen. Es geht um euer Leben und das eures Streifenpartners.« Ich höre noch heute die Stimme meines Ausbilders.
»Führe deine Waffe immer mit, halte sie griffbereit. In der Routine lauert Gefahr, sei misstrauisch.« Zwei der wichtigsten Bestandteile unserer Überlebensformel. Weit mehr von Nutzen als seitenlanges Auswendiglernen einschlägiger Paragrafen der Straßenverkehrszulassungsordnung, die sich mit der Zulassungsfreiheit verschiedener Fahrzeuge und Anhänger befassen. Ob es nun die selbst fahrende Arbeitsmaschine mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit (bbH abgekürzt) von 6 km/h, der eisenbereifte Möbelpackwagen oder der Anhänger zur Bekämpfung des Kartoffelkäfers war – wir paukten sie alle, wussten, dass gemäß der StVO das Fahrradfahren auf Helgoland verboten war. Wir lernten, dass Straftaten verfolgt werden müssen, und dass wir bei Ordnungswidrigkeiten ein Auge zudrücken dürfen, wenn zum Beispiel das Zeichen 295, die durchgezogene Linie, überfahren wurde.
Am längsten jedoch war die Vorschrift über den Schusswaffengebrauch, den wir nur androhen dürfen, wenn die Voraussetzungen zum Schießen vorliegen.
Nur keine Bedrohungsszenarien bei Verkehrskontrollen durch die gezogene Pistole. Jedes Waffeziehen, jedes Vorzeigen des Schlagstockes, Hiebwaffe im Gesetzesdeutsch genannt, jedes Anlegen von Handschließen, selbst Gespräche zur Informationsbeschaffung, die über ein »Guten Tag« hinausgehen, sind gesetzlich geregelt. Und selbst welche Zwangsmittel wir im Falle des Falles anwenden und einsetzen dürfen, regelt der Erlass über den unmittelbaren Zwang.
Diese Paragraphen schützen uns im täglichen Einsatz und den Bürger vor unangemessenen Übergriffen seiner Polizei. Und so soll es auch sein und bleiben. 1 000 Jahre brauner Willkür haben sich zu sehr in unser Gewissen eingebrannt.
Wovor sie nicht schützen, schon gar nicht die Seele, ist die Brutalität der Worte, Gesten, Unverschämtheiten, Pöbeleien.
»Gib doch zu, dass es dich geil macht, wenn Du einem die Handschließen anlegst und fest zudrückst,« schrieb ein offensichtlicher Fan von Marquis de Sade unlängst ins Gästebuch der Polizei-Poeten, während er gleich darauf betonte, dass er ja auch Gefühle hätte.
Ja, ich finde es geil zu leben, und wenn ich dafür einem Handschließen anlegen muss, dann tue ich es. So wie neulich Marcel, der morgens um sechs bei einer Wohnungsdurchsuchung, einer harmlosen natürlich, sich um ein Haar von dessen Bewohner einlullen lies. Der Typ saß am Küchentisch, darauf jede Menge Tüten mit Rauschgift. Marcel hatte ihm bereits Handschellen angelegt, was eigentlich sicher ist und die Durchsuchung eben wieder zu einer harmlosen, täglichen Angelegenheit werden lässt. Doch Vorsicht, in der Routine lauert Gefahr. Sei misstrauisch!
»Kann ich mir einen Espresso machen? Sie haben doch nichts dagegen, oder? Ich bin doch gefesselt.« Er zeigte seinen Armschmuck, um seine Harmlosigkeit zu unterstreichen und lief zum Küchenschrank.
»Stop!«, brüllte Marcel, als der Festgenommene die Dose mit dem Kaffeepulver bereits in den Händen hielt.
Marcel nahm ihm die schwarze Dose aus der Hand. Er hob den milchigen Plastikdeckel mit dem rechten Daumen an und war nur wenige Zentimeter vom Griffstück des Derringers entfernt. Ein zweischüssiger Ladykiller, ein doppelter Witwenmacher.
»Ihr habt nicht für die Schule, sondern für das Leben gelernt. Und das Leben, da draußen,« unser Ausbilder zeigte mit ausgestrecktem Arm Richtung Kasernentor, »die Welt da draußen, wird eure beste Schule werden.« Mit diesen Worten und dem Abschlusszeugnis der 18-monatigen Grundausbildung wurden wir in den Streifendienst, zur richtigen Polizei, nach draußen versetzt.
Meine Mutter sorgte sich um mich. Dabei umfasste mein Revierbereich doch nur diese friedlich-ländliche Idylle, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. Ab und zu ein betrunkener Autofahrer oder Ede, nach dem Einbruch in die Feldscheune, vorbeihuschte, während die Waldbewohner auf der Hut sein mussten, nicht vorn Wilderer erschossen zu werden.
»Auf dem Bau fallen doch viel mehr Leute vom Gerüst!«, beruhigte ich sie, was natürlich nicht ganz den tatsächlichen Begebenheiten entsprach, und was trotz meiner unschuldigen Miene die sorgenvollen Blicke und Stirnfalten meiner Mutter nicht wirklich ausbügelte.
Oma war da wesentlich praktischer. Sie strickte mir ein Paar Fingerhandschuhe, bei denen sie die Kuppen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger freiließ.
»Die haben wir unseren Männern auch gestrickt, als sie an die Ostfront zogen.«
Sie wärmten mir lange Jahre die winterkalten Hände bei der Aufnahme von Verkehrsunfällen.
Zwei Wochen vor der Buchpremiere von »Die erste Leiche vergisst man nicht«, dem ersten Buch der Polizei-Poeten, betrat ich Pauls Laden. Ich wollte seiner Witwe mitteilen, dass ich über Pauls Tod in meinem Buch geschrieben hatte.
Sie stand gebeugt hinter der hüfthohen Kassentheke. Ich drückte die Tür zum Laden auf, ließ die Zeitungsregale rechter Hand liegen, vorbei an den Kosmetikartikeln und den Konserven bog ich am Ende des Ganges links ab. So wie in meiner Kindheit standen an der Stirnseite noch immer die Kühltheken. Rechts der Käse und die Aufschnittswurst.
An der Kasse musste ich warten. Sie erblickte mich, erkannte mich gleich wieder.
»Herr Uhl, wie geht es Ihnen?«
Wir unterhielten uns. Ihre Augen hatten eine jugendliche Frische.
Ihre Mitarbeiterin gesellte sich zu uns, während ein Kunde ein Kilo Bananen für die Gesundheit, der andere zwei Flaschen französischen Landwein gegen seinen Kummer kaufte.
Unser Gespräch bewegte sich tastend an der Oberfläche der Ladentheke entlang. Das Bonbonglas, das ich kannte, stand dort nicht mehr. Ein kleiner Junge kaufte zwei Rollen Haushaltskrepp für 1,89 Euro. Pauls Witwe gab dem Buben nach dem Zahlen ein paar Weingummi-Kirschen aus der runden Plastikdose, die in Griffnähe im Regal stand.
Dann beugte sie sich über die Verkaufstheke und flüsterte mir zu:
»Nächste Woche werden es 24 Jahre, seit das mit meinem Mann war. Sie waren doch auch dabei.«
»Ja, ich weiß. Ich habe es nie vergessen.«
Ein Kunde kam dazwischen. Ich konnte ihr nichts vom Buch mit meiner Geschichte von Pauls Tod erzählen. Ich versprach, zurückzukommen. Gegen halb sieben fuhr ich erneut zu ihrem Laden, sah aber, dass sich mehrere ältere Damen dort versammelt hatten.
Ich schrieb ihr einen Brief. Schrieb von Kindheitserinnerungen mit ihrem Mann und von dem Buch. Berichtete von meiner Sorge, dass ich mich nach so langer Zeit vielleicht zu weit in ihr Leben, in ihre Erinnerungen, einmische. Dies war nicht der Fall, schrieb sie, nachdem sie das Buch gelesen hatte, ebenfalls in einem Brief.
Werde ich von den Toten, den Leidenden, den Verbrechern gefragt, ob sie sich in mein Leben einmischen dürfen? Nein, aber sie dürfen das. Dafür bin ich da. Nur in meinen Träumen und Gedanken haben sie nichts zu suchen. Doch das ist leichter gesagt als getan: den Dienst mit der Uniformjacke an den Haken im Umkleideraum des Polizeireviers zu hängen.
»Wieso schreiben Sie so schreckliche Sachen?«, wurde ich auf einer Lesung gefragt.
Weil die Welt, in der wir leben, sich aus vielen Dingen zusammensetzt, Freude und Leid eingeschlossen. Nach meiner Erfahrung als Polizist, und auch als Vater, wird die Tiefe unseres Daseins dadurch bestimmt, wie bereitwillig wir der Wahrheit ins Gesicht schauen wollen. Ich musste selbst lernen, dem Leid gegenüberzutreten. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich erst durch das Schreiben zu genau der Offenheit und Verletzlichkeit gefunden, die ich sonst in meinem Leben allzu oft verstecke. Und so schreibe ich weiter, von dem, was ich sehe, höre, rieche und fühle.
Und trotzdem, die Realität unseres Berufes hinterlässt Dornen in unserer Seele. Wir können nur dann eine Sache wirklich hinter uns lassen, wenn wir durch sie hindurchgehen und nicht um sie herum.
Um 18 Uhr kam die Meldung mit dem Stichwort »Bahnleiche«. Drei Silben, die den Einsatz der Kripo erfordern.
Hanna, die 26-jährige Kollegin meiner Bereitschaftsgruppe, meinte, dass dies ihre erste Bahnleiche wäre. Ich gab ihr Michael, einen erfahrenen Kollegen zur Seite. Draußen war es saukalt....