1 Das große Ganze
1 Das große Ganze
EINERLEI, WO IHR WOHNT, in einem Kloster, mitten in der Stadt oder an einer stillen, von Bäumen gesäumten Straße, von Zeit zu Zeit wird es in eurem Leben Schwierigkeiten geben. So ist das Leben nun einmal. Sollte es also mit eurer Gesundheit nicht zum Besten stehen, gebt nicht der Versuchung nach, zu eurem Arzt zu sagen: »Herr Doktor, irgendetwas stimmt nicht mit mir, ich bin krank«; sagt lieber: »Es ist alles, wie es sein soll – ich fühle mich heute krank.« Es liegt in der Natur des menschlichen Körpers, dass er hin und wieder krank wird. Es liegt auch in der Natur der Klärgrube, dass sie ausgerechnet dann ausgepumpt werden muss, wenn es besonders ungelegen kommt, und es liegt in der Natur des Wasserkochers, dass er irgendwann einfach durchschmort. Das Leben ist seiner Natur nach so. Wir geben uns zwar alle Mühe, das Leben für uns selbst und andere möglichst glatt laufen zu lassen, aber wir können nie sicher sein, dass es gelingt.
Wenn Ihr also mit Schmerzen und Schwierigkeiten zu kämpfen habt, denkt immer daran, was Leid in der Tiefe eigentlich bedeutet: etwas von der Welt zu verlangen, was sie nicht bieten kann. Wir erwarten Unmögliches von ihr. Wir möchten das perfekte Heim und den perfekten Job, und alles, was wir so mühsam aufbauen und einrichten, soll zur rechten Zeit und am rechten Ort perfekt laufen. Damit ersuchen wir natürlich um etwas, das nicht gewährt werden kann. Wir wollen hier und jetzt tiefe Meditation und Erleuchtung. Aber so geht es in dieser Welt einfach nicht zu. Machen wir uns also klar: Wenn wir etwas verlangen, was die Welt nicht liefern kann, ersuchen wir eigentlich um Leiden.
Ob ihr also arbeitet oder meditiert, stellt euch einfach darauf ein, dass ab und zu etwas nicht wie gewünscht laufen wird. Fordert nicht von der Welt, was sie nicht geben kann, seht nur sehr genau hin! Es ist nicht eure Aufgabe, dieser Welt Beine zu machen oder sie so hinzubiegen, wie ihr sie gern hättet. Verstehen, annehmen und loslassen, das ist eigentlich eure Aufgabe. Je mehr ihr gegen euren Körper, euren Geist, eure Familie und die Welt ankämpft, desto mehr »Kollateralschaden« verursacht ihr und desto mehr Schmerz handelt ihr euch ein.
Manchmal gelingt es uns, einen Schritt von unserem alltäglichen Leben zurückzutreten, und dann sehen wir das große Ganze. Wir sehen: Es trifft nicht zu, dass mit diesem Kloster, mit uns selbst, mit dem Leben etwas nicht stimmt. Und wir sehen klar: Es liegt in der Natur dieser Welt, dass nicht alles nach unseren Wünschen läuft – und das ist es, was der Buddha als die erste Edle Wahrheit des Leidens formulierte. Wir arbeiten und streben mit vollem Einsatz, wir ringen darum, dieses Leben – unser Zuhause, unseren Körper, unser Bewusstsein – genau richtig hinzubekommen, und dann geht es doch wieder daneben.
Leid und das Wissen darum: der Antrieb zur Praxis
Zu echter buddhistischer Praxis gehört die Betrachtung des Leidens, Dukkha auf Pali. Wir versuchen der Leiden nicht Herr zu werden, sondern bemühen uns einfach, sie zu verstehen, indem wir uns ihre Ursachen vergegenwärtigen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt unserer Praxis, denn bei den meisten Menschen, die Leid erfahren, ist es ja so, dass sie entweder davor zu flüchten oder etwas daran zu ändern versuchen. Sie verdammen die »Maschinerie« wegen ihres Versagens, obwohl jeder weiß, dass die Maschinerie irgendwann versagt. Etwas läuft nicht, wie es sollte, und wir leiden. Ändern wir doch lieber unsere Haltung, stellen wir das Kämpfen ein. Sobald wir nicht mehr gegen die Welt ankämpfen und uns die Natur des Leidens klarmachen, wird sich etwas anderes regen. Und dieses andere heißt Nibbida.
Diese Regung, Nibbida, rührt daher, dass wir die Natur des Körpers, des Geistes und der Welt erkannt haben. Ihr versteht, um was es im Buddhismus geht, um was es geht, wenn ihr ein Kloster oder einen Haushalt aufbaut und dort miteinander lebt. Ihr wisst, dass es da Unbefriedigendes geben wird, Probleme. Ihr seid klug genug, nicht mehr vor diesen Problemen wegzulaufen oder sie unterbinden zu wollen. Ihr wisst, dass Probleme im Wesen des Samsara liegen. Das war eine der großen Erkenntnisse des Buddha, und sie gab ihm ein, seine erste Lehrrede zu halten, das Dhammacakkappavattana-Sutta (SN 56,11).
Wenn ihr erkennt, dass Leid in den Stoff eingewebt ist, aus dem Samsara besteht, ändern sich eure Reaktionen. Es ist wie bei einem fauligen Apfel, von dem ihr die Faulstellen wegzuschneiden versucht, um den Rest zu essen. Wer weise ist, der sieht, dass der Apfel durch und durch faul ist und man nur noch mit Nibbida reagieren kann – man weist ihn zurück, man ekelt sich vor ihm, man wendet sich von ihm ab oder wirft ihn einfach weg. Ihr seht, dass ihr diesen Apfel nicht braucht, und wendet euch von ihm ab. Es kommt also darauf an, das Leid in der Welt zu verstehen – und zu sehen, wie absolut Leid ist, das Unbefriedigende. Ihr werdet seiner niemals Herr werden, es steht nicht in eurer Macht, eine Lösung zu finden und die Dinge auf die Reihe zu bekommen.
Wenn wir das betrachtet haben und es verstehen, haben wir einen echten Anreiz, den buddhistischen Weg zu gehen. Für den Buddha, so erzählen die Suttas, genügte es zu sehen, dass die Menschen alt und krank werden und sterben. Das gab ihm den Impuls, nach der Befreiung von allem Leiden zu streben (MN 26). Er wusste, dass es auch ihm bestimmt war, alt und krank zu werden und zu sterben, dass er über all das nicht hinausgewachsen war. Das trieb ihn an, nach der Beendigung des Leidens zu suchen.
Diese Probleme sind unser aller Erbe; genau das erwartet uns in der Zukunft. Dies ist euch gewiss: Ihr werdet alt und krank werden und sterben. Daran ist nichts zu ändern. So sehen die Tatsachen des Lebens und eures menschlichen Körpers und aller anderen Dinge aus. Alles wird alt, verfällt und stirbt, alles funktioniert irgendwann nicht mehr, alles geht kaputt. Der werdende Buddha wusste bereits, dass er dieses Leid mit all seiner spirituellen Stärke und seinem angesammelten Verdienst nicht verhindern konnte. Etwas anderes war hier notwendig: es ganz zu verstehen.
Sich lösen
Die erste Edle Wahrheit vom Leiden, so heißt es im Dhammacakkappavattana-Sutta, muss gründlich verstanden werden (SN 56,11). Ihr versucht also nicht, die Leiden zu überwinden oder etwas daran zu ändern oder alles besser zu machen oder ihnen irgendwie zu entkommen – sondern ihr versteht sie. Schwierige Zeiten sind eine wunderbare Gelegenheit, sich hinzusetzen und dem Leid nicht auszuweichen; es völlig zu verstehen, statt immer wieder den leichteren Weg der Flucht zu wählen.
Die meisten Menschen verfügen über ihre ganz eigenen Fluchtmechanismen, wenn irgendetwas leidvoll oder problematisch wird: Man gibt sich Tagträumen hin, sieht sich Filme an, surft im Internet, liest, plaudert, trinkt Tee oder Kaffee oder macht Spaziergänge. Wovon entfernen wir uns eigentlich mit all dem? Weshalb überlassen wir uns Fantasien? Wir haben uns angewöhnt, so zu reagieren, wenn irgendetwas nicht gut genug ist, unbefriedigend ist. Nun, wenn ihr im Leben, sei es Klosterleben oder weltliches Leben, etwas erreichen wollt, wenn ihr weise und frei werden wollt, dann rät euch der Buddha, ein tieferes Verständnis des Leidens zu erstreben.
Als Erstes wird euch dabei auffallen, dass wir alle Leid erfahren. In den Therigatha (Thi 213–23) finden wir die berühmte Geschichte von Kisagotami. Kisagotamis Sohn war gestorben, und der Buddha erreichte, dass sie sich von ihrem Kummer und Schmerz löste. Er machte ihr eindringlich klar, dass andere Menschen ebenfalls sterben und der Tod ihres Sohns nichts Einzigartiges war, sondern ein Ereignis in einer endlosen Folge gleichartiger Ereignisse. Der Buddha wollte, dass Kisagotami dieses Leid namens Tod verstand. Der Tod ist natürlich, er liegt im Wesen der Dinge. Er ist überall, nichts und niemand entgeht ihm. Der Buddha bot ihr also keine Lösung des Problems an, nämlich die Wiedererweckung des Sohns, sondern machte ihr die Allgegenwärtigkeit des Sterbens klar.
Wenn wir verstanden haben, nehmen wir die Dinge nicht einfach hin – denn das ist ebenfalls keine taugliche Reaktion. Der Gedanke »Lass gut sein, so liegen die Dinge nun mal, meinetwegen« ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Wenn wir wirklich verstanden haben, was Leid ist, was uns bevorsteht, wie es im Leben wirklich zugeht, gibt es nur eine natürliche Reaktion, und die besteht weder in Flucht noch im Akzeptieren von allem, was kommt, sondern in Nibbida.
Nibbida bedeutet, dass man sich von etwas löst oder freimacht. Wir wenden uns von diesem Ding namens Leben ab. Wenn ihr etwas zu ändern versucht, verwickelt ihr euch nur weiter ins Leben, und die Dinge anzunehmen bedeutet ebenfalls, dass ihr bei ihnen bleibt. Loslösung ist die Antwort. Sich zu lösen bedeutet, dass ihr die Dinge sich selbst überlasst und euch nicht mehr mit ihnen befasst oder um sie sorgt. Ihr sitzt da und lasst euch nicht mehr auf das ein, was ihr erlebt. Und da ihr euch nicht mehr auf eure Erfahrung einlasst, tretet ihr vom Leben zurück. Es ist fast eine Art Ablehnung, ein Zurückweisen, das die Dinge zum Verschwinden bringt.
Ihr könnt in den Suttas lesen, wie...