Was macht den Esstisch zum Stresstisch?
In diesem Kapitel erfahren Sie …
? was passiert, wenn Eltern zu viel tun:
Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, wenn Sie für Ihr Kind entscheiden wollen, wie viel es essen soll
? was passiert, wenn Eltern zu wenig tun:
Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, wenn Sie Ihrem Kind überlassen, was auf den Tisch kommt und wie es sich beim Essen benimmt
? Wenn Eltern zu viel tun
Was auf den Tisch kommt, bestimmen Sie – das wurde im ersten Kapitel genau begründet. Ob und wie viel Ihr Kind von Ihrem Angebot essen möchte, kann und sollte es ganz allein entscheiden. Wenn Sie sich in diesem Punkt einmischen, verstoßen Sie gegen die Spielregel: Sie »mogeln«. Beim Thema Essen kann das leicht zu einem Machtkampf führen, und das bedeutet Stress für Eltern und Kind. Es geht dann nicht mehr um »satt« oder »hungrig«, sondern um die Frage »Wer gewinnt?«. Die Eltern zeigen ihrem Kind: »Du kannst das nicht allein entscheiden.« Sie trauen ihm nicht zu, ein einfaches und wichtiges Grundbedürfnis selbst zu regeln.
Das Kind verlernt, sich in diesem Punkt selbst zu vertrauen. Es verlernt, auf seine innere Stimme zu hören.
Wenn es ganz unglücklich läuft, schleicht sich bei ihm das Gefühl ein:
»Mit meinem Körper stimmt etwas nicht.« Und es verlernt, seinen eigenen Körper zu mögen. Wenn Eltern »mogeln,« bedeutet das bei jüngeren Kindern in den meisten Fällen: Die Eltern bringen das Kind dazu, mehr zu essen, als es selbst möchte. Sie sagen: »Du musst essen, weil du zu dünn bist.« Manchmal bedeutet »Mogeln« das Gegenteil: Die Eltern geben dem Kind weniger, als es möchte. Dann sagen sie: »Du darfst nicht essen, weil du zu dick wirst.«
»Du darfst nicht so viel essen!«
STELLEN SIE SICH BITTE EINMAL FOLGENDES VOR: Eine Mutter verweigert ihrer sechsjährigen Tochter einen Nachschlag an Nudeln, eine weitere Scheibe Brot oder einen Apfel mit den Worten »Du darfst nicht mehr essen, weil du zu dick bist«. Die Kleine würde sich verletzt und unter Druck gesetzt fühlen – zu Recht. Essen sollte nicht den ganzen Tag über verfügbar sein. Aber während der Mahlzeiten darf das Kind aus der grünen Abteilung der Ernährungspyramide (siehe >) so viel essen, wie es möchte.
Es ist ein schwerer Fehler, seinem Kind Essen vorzuenthalten und ihm sozusagen den Teller wegzuziehen aus Angst, von allein würde es nie aufhören zu essen. Bei Babys und jüngeren Kindern kommt es allerdings nur sehr selten dazu. Eltern, die ihren kleinen Kindern regelmäßig zu wenig zu essen geben – aus Angst, diese würden sonst zu dick – haben wir glücklicherweise nur vereinzelt kennen gelernt. In solchen Extremfällen muss man sich Sorgen um das Kindeswohl machen.
? Streichen von Süßigkeiten und Zwischenmahlzeiten
In der folgenden Geschichte geht es dagegen um ein Thema, das vielen Eltern geläufig ist: das Begrenzen der Naschereien zwischen den Mahlzeiten.
Melanie war vier Jahre alt, als ihre Mutter zur Beratung kam. In jeder Beziehung testete Melanie ihre Grenzen aus, auch beim Essen. Bei den Mahlzeiten am Familientisch aß sie eher wenig, quengelte und maulte oft. Manchmal verweigerte sie alles.
Zwischen den Mahlzeiten verlangte sie jedoch immer häufiger nach Essen, besonders nach Süßigkeiten.
Melanie schien den ganzen Tag ans Essen zu denken. Ihre Mutter versuchte es mit Diskutieren, gab anfangs aber sehr oft nach – bis sie feststellte, dass Melanie zunahm und nicht mehr in ihre Hosen passte. Melanies Mama bekam einen Schreck und versuchte es mit Konsequenzen: Süßigkeiten wurden gar nicht mehr eingekauft. Zwischen den drei Hauptmahlzeiten wurde nichts mehr angeboten. Was dann passierte, machte Melanies Mutter völlig fassungslos: Sie erwischte ihre Tochter zweimal dabei, wie sie sich im Supermarkt eine Packung Kekse unter den Pullover schob. Melanie hatte geklaut – im Alter von vier Jahren!
Wie konnte es dazu kommen? Melanies Mutter hatte doch konsequent gehandelt! Offensichtlich hatte sie zu stark auf die Essbremse getreten und damit Druck auf ihre Tochter ausgeübt. Nur noch morgens, mittags und abends etwas angeboten zu bekommen und nie etwas Süßes oder richtig Leckeres – das war zu viel für Melanie.
Sie dachte wirklich nur noch ans Essen. Sie musste sich irgendwie etwas Süßes zu essen besorgen, und deshalb griff sie im Supermarkt zu.
Einfach nachzugeben und Melanie unbegrenzt mit Süßigkeiten zu füttern konnte aber auch nicht die Lösung sein. Wir fanden zusammen folgenden Ausweg: Es gab jeden Mittag eine kleine Portion süßen Nachtisch. Den bekam Melanie auf jeden Fall, ob sie von dem Rest der Mahlzeit etwas gegessen hatte oder nicht. Manchmal gab es nachmittags Kuchen, dann fiel der süße Nachtisch weg. So kam ihre Mutter dem Bedürfnis nach Süßem entgegen, ohne die Kontrolle zu verlieren.
Und noch etwas besprachen wir:
Melanie liebte Clementinen. Ihre Mutter kaufte reichlich davon ein. Zwischen den Mahlzeiten durfte Melanie so viele Clementinen essen, wie sie mochte. Und das tat sie. Am ersten Tag waren es achtzehn Stück, davon zehn hintereinander! Es war für Melanie ganz wichtig, endlich einmal aus dem Vollen schöpfen zu dürfen, ohne dass jemand mit ihr schimpfte oder ihr erklärte: »Hör doch endlich auf!
Das ist nicht gut für dich! Deine Hosen passen schon nicht mehr!« So kam ihre Mutter Melanies Bedürfnis entgegen, bei einer Lieblingsspeise die Menge selbst bestimmen zu dürfen.
Obst braucht nicht begrenzt zu werden. Nach einer Woche wurden weniger Clementinen eingekauft. Melanie akzeptierte es. Vier Stück am Tag reichten ihr mittlerweile auch, und die isst sie jetzt am Tisch während der mittlerweile eingeführten Zwischenmahlzeiten. Der Kampf um das Thema Essen war ausgestanden.
Melanies Mutter hatte geschwankt zwischen Nachgiebigkeit und übertriebener Konsequenz. Melanies Geschichte zeigt: Zu viel Begrenzung und der völlige Entzug von Süßem können Druck ausüben und fatale Folgen haben. Eine für Mutter und Kind annehmbare Lösung konnte gefunden werden. Das machte einen weiteren Machtkampf überflüssig.
? Brutale Begrenzung
Eine andere Geschichte erzählte mir eine erwachsene junge Frau. Ihr wurden nicht nur Süßigkeiten verboten, sondern auch bei den Mahlzeiten wurde ihre Essensmenge kontrolliert und begrenzt.
Sara, mittlerweile 24 Jahre alt, erinnerte sich, dass ihr Vater früher wenig Zeit für sie hatte und sich nicht gerade liebevoll um sie kümmerte.
Eines war ihm aber wichtig: Er wollte eine schlanke Tochter haben. Er achtete streng darauf, dass sie beim Mittagessen keine zweite Portion bekam. Er achtete darauf, dass sie keine Süßigkeiten aß. Er verbot seiner Tochter, zwischendurch an den Kühlschrank zu gehen. Als er sie einmal dabei erwischte, wurde die Küche abgeschlossen. Immer wieder bekam sie zu hören: »Du wirst zu dick!«
Sara wusste noch genau, wie furchtbar und demütigend sie das fand. Sie bekam zu wenig Taschengeld, um sich selbst einmal etwas Süßes kaufen zu können. Das änderte sich mit ihrer Kommunion. Plötzlich hatte sie 300 Mark zur freien Verfügung. Es ist nicht schwer zu erraten, was Sara mit dem Geld machte: Nach zwei Wochen war nichts mehr davon übrig. Sara hatte es für Süßigkeiten ausgegeben. Sie hatte alles ganz allein aufgegessen – heimlich und mit schlechtem Gewissen.
Saras Geschichte ist eine sehr traurige Geschichte. Sie spiegelt das Verhältnis zwischen Vater und Tochter wider: Er vertraute ihr nicht, achtete nicht ihre Bedürfnisse, übte Druck aus und demütigte sie. All das tat er auch, indem er ihr Essen vorenthielt.
Je schlimmer der Druck war, desto häufiger musste Sara ans Essen denken. Bis heute hat Sara mit den Folgen zu kämpfen: Sobald sie zu Hause auszog – und das tat sie so früh wie möglich –, nahm sie rasant zu. Es fällt ihr bis heute schwer, mit dem Essen aufzuhören, wenn sie satt ist.
Gift für das Selbstvertrauen
Auch wenn Sie selbst niemals so brutal vorgehen und die Küche abschließen oder Ihrem Kind einen Nachschlag verweigern würden: Die Versuchung, sich einzumischen und Druck auszuüben, ist sehr groß, sobald Sie Ihr Kind tatsächlich »zu dick« finden.
Sie können kaum mit ansehen, welch große Portionen Ihr Kind vertilgt. Sie haben ein schlechtes Gefühl, wenn es Eis oder Kuchen oder Süßigkeiten isst.
Der Satz »Du solltest nichts mehr essen, weil du zu dick wirst« spukt Ihnen zuerst eine Weile im Kopf herum, und dann ist er Ihnen doch »herausgerutscht«. So ein Satz ist Gift für das Selbstvertrauen Ihres Kindes.
Sie können sich leicht in die Lage Ihres Kindes hineinversetzen: Stellen Sie sich vor, Sie haben Gäste, und es gibt Ihren Lieblingsnachtisch. Sie wollen gerade genussvoll ein zweites Mal zulangen. Da...