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E-Book

Jenseits des Selbst

Dialoge zwischen einem Hirnforscher und einem buddhistischen Mönch

AutorMatthieu Ricard, Wolf Singer
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl380 Seiten
ISBN9783518747926
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR

Ist das, was wir wahrnehmen, die Wirklichkeit? Können wir unseren Geist trainieren und Achtsamkeit lernen? Ist Liebe steuerbar? Und wie können wir ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen, wenn Hirnstrukturen unsere Entscheidungen vorzeichnen?

In diesem Buch treten Wolf Singer, einer der weltweit führenden Hirnforscher und streitbarer Bezweifler der Willensfreiheit, und Matthieu Ricard, Molekularbiologe, buddhistischer Mönch und Bestsellerautor, in einen Dialog über Kernfragen unserer Existenz - über Glück, Selbstkontrolle und die Macht von Gefühlen.

Die Neugier und Offenheit der beiden Gesprächspartner ermöglicht es, dass ihre auf den ersten Blick gegensätzlichen Positionen gänzlich unerwartete Verbindungen sichtbar machen. Wissenschaftlich fundiert und auf der Basis jahrzehntelanger Erfahrungen denken sie gemeinsam darüber nach, was wir tun können, um gute und glückliche Menschen zu werden.



<p>Wolf Singer wurde 1943 in München geboren. 1962 begann er sein Medizinstudium an der dortigen Ludwig-Magimilians-Universität, das er 1968 mit dem Staatsexamen und der Promotion abschloss. Es folgte ein Ausbildungsaufenthalt an University of Sussex (England) im Jahr 1971 und vier Jahre später die Berufung zum wissenschaftlichen Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und zum Direktor an das MPI für Hirnforschung, Frankfurt am Main.</p> <p></p>

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Leseprobe

2
Unbewusste Prozesse und Emotionen


 

 

Was ist das Unbewusste? Wache Präsenz – das reine Gewahrsein – ist für den buddhistischen Mönch der tiefsinnigste Aspekt des Bewusstseins. Was die Psychoanalyse das Unbewusste nennt, sind aus seiner Sicht nur irgendwelche mentalen Konstrukte. Aus Sicht des Neurowissenschaftlers gibt es präzise Kriterien, mit deren Hilfe sich bewusste von unbewussten Prozessen unterscheiden lassen. Für ihn ist es wichtig, alles, was im Gehirn geschieht, zu identifizieren, da es der Vorbereitung bewusster kognitiver Prozesse dient. Im Anschluss daran geht es um Emotionen. Wie lassen sich Konflikte entschärfen? Wie unterscheidet sich die altruistische von der leidenschaftlichen Liebe? Ist Liebe das höchste Gefühl? Einigkeit besteht mit Blick auf die Wirksamkeit der kognitiven Therapie.

Über das Unbewusste


MR Lass uns nun ein wenig über die Auffassung des Unbewussten aus neurowissenschaftlicher und kontemplativer Perspektive sprechen. Wenn man über das Unbewusste spricht, geht es normalerweise um etwas tief in unserer Psyche Verborgenes, das dem normalen Bewusstsein nicht zugänglich ist. Auch im Buddhismus gibt es das Konzept gewohnheitsmäßiger Abläufe, die sich unserer bewussten Wahrnehmung entziehen. Sie sind Auslöser für verschiedene Denkmuster, die entweder spontan auftreten oder von etwas in der Außenwelt ausgelöst werden. Wir kennen das alle: Man sitzt einfach so da, denkt an nichts Bestimmtes, und plötzlich kommt einem der Gedanke an jemanden oder an ein bestimmtes Ereignis oder eine Situation – scheinbar aus dem Blauen heraus. Daraus entwickelt sich eine ganze Gedankenkette, und wenn man nicht aufpasst, kann man sich leicht in ihr verlieren.

In der Öffentlichkeit, unter Psychologen und unter Neurowissenschaftlern herrschen unterschiedliche Ansichten darüber vor, was das Unbewusste ist. Was die Psychoanalyse die Tiefen des Unbewussten nennt, stellt aus der Perspektive der kontemplativen Wissenschaften die äußeren Schichten einer Wolkendecke dar, die auf mentalen Verwirrungen basiert und zeitweilig die Erfahrung der wahren Natur des Geistes verhindert. Wie kann es etwas Unbewusstes geben, wenn man sich im Zustand des reinen Gewahrseins, frei von jeglichem mentalen Konstrukt, befindet? Wenn man in der Sonne steht, gibt es kein Dunkel. Im Buddhismus ist das sonnenklare Gewahrsein, nicht das trübe Unbewusste, der tiefste und fundamentalste Aspekt des Bewusstseins. Natürlich spreche ich hier aus der Erste-Person-Perspektive. Ein Neurowissenschaftler, der sich dieser Thematik aus der Dritte-Person-Perspektive annimmt, wird das gewiss anders sehen.

WS Ja, ich sehe das tatsächlich anders. Wie bereits erwähnt, ist in der Architektur des Gehirns ein immenses Wissen gespeichert, aber wir sind uns der meisten dieser vorgegebenen Heuristiken, Annahmen und Konzepte nicht bewusst. Diese bestimmen zwar die kognitiven Prozesse, deren Ergebnis wir bewusst wahrnehmen, doch die strukturierten Abläufe, die zu diesen Ergebnissen führen, bleiben im Unbewussten verborgen. Normalerweise haben wir keine Kenntnis von den Regeln, nach denen wir die Signale der Sinnesorgane interpretieren und unsere Wahrnehmungen konstruieren. Dies gilt auch für die Gesetzmäßigkeiten, die unserem Lernen und Handeln, unseren Entscheidungen und Assoziationen zugrunde liegen. Es gelingt uns nicht, diese impliziten Hypothesen und Regeln bewusst zu machen, selbst wenn wir versuchen, unsere Aufmerksamkeit auf sie zu richten. Ganz anders verhält es sich mit den Inhalten des deklarativen Gedächtnisses, die während ihrer Abspeicherung mit Aufmerksamkeit belegt und bewusst wahrgenommen wurden. Es gilt als gesichert, dass aufmerksamkeitsgelenkte Prozesse den Zugang zum Bewusstsein kontrollieren. Die meisten Signale unserer Sinnesorgane können bewusst wahrgenommen werden, wenn sie mit Aufmerksamkeit belegt werden. Davon ausgenommen sind etwa bestimmte Geruchsstoffe wie zum Beispiel Pheromone, die in speziellen Subsystemen des Gehirns verarbeitet werden. Zudem gibt es viele Signale aus dem Körper selbst, die keinen Zugang zum Bewusstsein haben. Das betrifft etwa Informationen über den Blutdruck, den Zuckerspiegel etc. Man kann jedoch nicht häufig genug betonen, dass auch Signale, die von der bewussten Verarbeitung ganz oder – wie nicht beachtete Sinnesreize – vorübergehend ausgeschlossen sind, einen großen Einfluss auf das Verhalten ausüben. Außerdem können diese unbewussten Signale Aufmerksamkeitsmechanismen kontrollieren und dadurch bestimmen, welche der gespeicherten Erinnerungen oder sensorischen Signale Beachtung erfahren und die Ebene der bewussten Verarbeitung erreichen.

Eine weitere Einschränkung besteht in der begrenzten Kapazität des Arbeitsspeichers für bewusste Inhalte. Es können nur wenige Inhalte gleichzeitig bewusst verarbeitet werden. Noch immer wird intensiv darüber geforscht, ob diese Beschränkung an dem Unvermögen liegt, eine große Menge von Informationen gleichzeitig miteinander zu verknüpfen, oder an der begrenzten Kapazität des Arbeitsgedächtnisses. Der Speicher für bewusste Inhalte kann nicht mehr als vier bis sieben verschiedene Einheiten gleichzeitig aufnehmen. Dies entspricht auch der Anzahl von Inhalten, die gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis gehalten werden können. Eindrucksvoll belegt wird das durch das Phänomen der change blindness, der Veränderungsblindheit. Wird uns ein Bild vorgelegt und kurz darauf ein zweites, das dem ersten bis auf eine kleine Veränderung gleicht, sind wir unfähig, diese lokalen Veränderungen zu erkennen.

Im Grunde sind unsere Wahrnehmungen nicht so holistisch, wie es uns vorkommt. Wir analysieren komplexe Szenen seriell, und vieles von dem, was wir als Gesamteindruck wahrnehmen, rekonstruieren wir aus der Erinnerung, aus gespeicherten Informationen. Zahlreiche Faktoren, sowohl bewusste als auch unbewusste, bestimmen, welche Signale tatsächlich bewusst wahrgenommen werden. Entscheidend ist, welchen Informationen wir Beachtung schenken, und dies wiederum wird sowohl von externen als auch von internen Faktoren bestimmt. Starke oder neue Reize ziehen die Aufmerksamkeit automatisch auf sich, aber die Aufmerksamkeit kann auch zielgerichtet auf ausgewählte Inhalte gelenkt werden. Dabei können die steuernden Motive bewusst sein, sie können aber auch Ursachen haben, deren wir uns nicht bewusst sind. Und dann kann es natürlich vorkommen, dass selbst die aufmerksame und bewusste Suche nach einem Inhalt, der sich im deklarativen Gedächtnis befindet, nicht ausreicht, um diesen ins Bewusstsein zu heben. Wir alle kennen das, wenn uns ein Zusammenhang oder ein Name einfach nicht einfallen will und dann im Verborgenen ein unbewusster Prozess weitersucht und schließlich den gesuchten Inhalt unerwartet auf die Ebene des Bewusstseins hebt. Offenbar gelingt es uns nicht immer, zu kontrollieren, welcher Inhalt Zugang zum Bewusstsein hat.

Die Arbeitsebene, auf der bewusste Prozesse ablaufen, erlaubt es offenbar, beliebige Informationen aus den verschiedenen Teilbereichen des Gehirns zu bündeln und in einen kohärenten Strom von bewusst wahrgenommenen Inhalten zu verwandeln. Der Zugang zu dieser Arbeitsebene, oft wird sie auch die »Plattform« oder der workspace des Bewusstseins genannt, ist privilegiert und wird von Aufmerksamkeitsmechanismen kontrolliert. Darüber hinaus sind die Regeln, nach denen bewusste und unbewusste Prozesse ablaufen, wahrscheinlich verschieden. Erstere folgen rationalen, logischen und syntaktischen Regeln. Die Suche nach einer Lösung ist prinzipiell ein serieller Prozess, in dem Argumente und Fakten nacheinander genau untersucht und mögliche Ergebnisse kritisch hinterfragt werden. Deshalb ist dieser Prozess zeitaufwendig. Hingegen scheinen unbewusste Abläufe eher auf Parallelverarbeitung zu beruhen, wobei zahlreiche neuronale Erregungsmuster, die jeweils für eine bestimmte Lösung stehen, miteinander in Wettstreit treten. Ein Algorithmus nach dem Motto »Es kann nur einen Sieger geben« sorgt dann dafür, dass das Muster, welches dem aktuellen Kontext am besten entspricht, stabilisiert wird. Demnach sind bewusste Prozesse immer dann für die Lösung eines Problems am geeignetsten, wenn genügend Zeit zur Verfügung steht, die Menge der zu berücksichtigenden Variablen überschaubar ist und diese hinreichend exakt definiert sind, um einer rationalen Analyse unterworfen zu werden. Die unbewusste Verarbeitung kommt ins Spiel, wenn schnelle Reaktionen nötig sind oder eine Vielzahl von unbestimmten Variablen vorliegt, die gleichzeitig gegen andere Informationen abgewogen werden müssen, die vom Bewusstsein nicht bearbeitet werden können, wie beispielsweise die Masse an implizitem Wissen, vage Gefühle sowie verborgene Motive oder Antriebe.

Die Ergebnisse unbewusster Verarbeitung manifestieren sich dann entweder in dem, was wir »Bauchgefühl« nennen, oder in unmittelbaren Verhaltensreaktionen. Häufig können wir gar nicht angeben, warum wir in genau dieser Weise reagiert haben oder warum wir manche Dinge für richtig halten und andere nicht. Experimentell kann sogar nachgewiesen werden, dass die Begründungen für oder gegen eine bestimmte Reaktion nicht immer den »echten« Gründen entsprechen. Aufgrund des umfassenden heuristischen Wissens, auf das die unbewusste Verarbeitung zugreifen kann, zeigt sich manchmal, dass unbewusste Prozesse bei komplexen Problemen mit verschiedenen interdependenten Variablen zu besseren Ergebnissen führen als bewusstes Abwägen. Angesichts der großen Menge an Informationen und implizitem Wissen, zu dem das Bewusstsein keinen oder nur...

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