Kapitel 2
Der Jesus der Evangelien
Jesus sagte: »Ich habe ein Feuer auf die Welt geworfen, und siehe, ich bewache es, bis es brennt.«
Thomas-Evangelium
Nun überspringen wir zwölf Jahre. Meine Zen-Lehrerin hatte mich gebeten zu lehren, und ich begann, das Dharma zu vermitteln, hielt Vorträge, gab Retreats und befand mich auf der Lebensbahn eines zeitgenössischen spirituellen Lehrers. Ich hatte als Lehrer nie das Ziel, Buddhismus zu verbreiten, und selbst meine Lehrerin hat mich nicht gebeten, dies zu tun. Was mich ursprünglich zur Spiritualität hingezogen hatte, war die Frage »Was ist Erleuchtung?«. Vor allem an dieser Frage bin ich als Lehrer interessiert, und meine Aufgabe ist es, sie in Herz und Geist der Menschen, die zu mir kommen, zu erwecken.
Im Verlauf der Jahre des Lehrens stellte ich fest, dass die Menschen sich angesprochen fühlten, sobald ich über die Jesus-Geschichte sprach. Das ist nicht verwunderlich, denn der westliche Geist ist über zweitausend Jahre lang vom Christentum beherrscht worden. Ob wir nun Juden, Buddhisten, Moslems oder selbst Atheisten sind, wir können gar nicht anders, als von dieser Geschichte beeindruckt zu sein. Schon aus diesem Grund ist die Geschichte es wert, neu untersucht zu werden, und wenn wir das tun, stellen wir vielleicht fest, dass der Jesus, von dem man uns erzählt hat, ganz anders ist als der Jesus in den Evangelien. Das ist es, was ich untersuchen möchte.
Die gute Botschaft lesen
Wie bei den meisten Menschen war mein Verständnis dafür, wer Jesus war, von der vorherrschenden Kultur bestimmt. Der Jesus, den ich kannte, war tatsächlich der Jesus, den ich im Fernsehen und in Filmen sah, der Jesus, dessen Bild von der Kanzel gepredigt wurde; später war es der Jesus, den ich im Studium der Mystiker fand, und das war ein mystischer Jesus. Das waren die Gesichter von Jesus, die ich in den ersten fünfunddreißig Jahren meines Lebens kennengelernt hatte. Es klingt vielleicht seltsam, aber selbst während meines Studiums der christlichen Mystiker setzte ich mich nie hin, um die vier Evangelien zu lesen. Ich hatte die biblische Jesus-Geschichte nie wirklich gelesen, aber als ich es tat, war ich erstaunt und geradezu überwältigt von dem, was ich herausfand.
Der Jesus, den ich in den Evangelien fand, war nicht der Jesus, den ich durch meine Kultur vermittelt bekam, und nicht einmal der Jesus der Mystiker. Ich fand vielmehr in der Geschichte eine unglaublich revolutionäre Figur, jemanden, der Schranken und Trennungslinien durchbrach, sowohl in der gesamten Kultur und auf politischem Gebiet als auch in der Religion, in der er aufgewachsen war. Als ich die Evangelien las, verband sich etwas in mir zutiefst mit Jesus, dem revolutionären Mystiker, der tatsächlich so mutig war, sein Leben von der Dynamik seiner spirituellen Essenz führen und inspirieren zu lassen. Jesus durch das Brennglas des spirituellen Revolutionärs zu sehen, bewirkt eine machtvolle Transformation; wenn wir diesen Geist in uns verkörpern können, beginnen wir, die inneren Mauern zu durchbrechen, die uns voneinander, von der Welt und von unserer eigenen Göttlichkeit trennen.
Es gibt viele Blickwinkel, von denen aus wir die Jesus-Geschichte betrachten können. Jesus, der Revolutionär, ist nach meiner Meinung einer der wirkungsvollsten für unsere gegenwärtige spirituelle Kultur. Die Kultur und Religion unserer Zeit brauchen den Einstrom neuen Lebens. Ich meine, die Kirchen in diesem Land müssen neu belebt werden; sie brauchen diese herausfordernde Präsenz von Jesus, die sagt: »Es ist wichtig, dass du die Wahrheit deines Seins erkennst. Die Konsequenzen aus dem Leben in Dunkelheit sind gravierend.« Wie Jesus im Thomas-Evangelium sagt: »Wenn ihr nicht das hervorbringt, was in euch ist, wird das, was ihr nicht hervorbringt, euch zerstören.« (Thomas-Evangelium 70)
Jesus, der Revolutionär, ist ein wirkungsvoller Blickwinkel, aber wie ich bereits sagte, ist es nicht der einzige. In jedem der vier Evangelien des Neuen Testaments begegnen wir einem einzigartigen Porträt von Jesus. Jeder Evangelist betrachtet Jesus und seine Geschichte durch eine ganz eigene interpretatorische Brille; jedes der Evangelien von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes bietet eine andere Interpretation der Geschichte an. Die Evangelisten unterscheiden sich gravierend darin, wohin sie einzelne Elemente der Geschichte stellen; einige Evangelisten stellen gewisse Szenen an den Anfang, andere ans Ende. Es ist klar, dass die Evangelisten diese Geschichte sehr kreativ bearbeitet haben, um unterschiedliche Bedeutungen herauszuarbeiten und unterschiedliche Zeitabläufe darzustellen. Jeder bietet ein anderes Porträt von Jesus an.
Das Markus-Evangelium
Ich finde die Brille, durch die das Markus-Evangelium Jesus betrachtet, besonders stark. In diesem Evangelium wird Jesus als wahrer Revolutionär porträtiert und als jemand, der während der ganzen Geschichte ein Paradox verkörpert: Er ist zur Wirklichkeit seiner eigenen Göttlichkeit erwacht, aber er sucht noch immer nach seiner Rolle in der gesamten Kultur und nach Möglichkeiten, das zu vermitteln, was er erfahren hat. Ich glaube, diese sich entwickelnde Rolle, diese Suche nach der vollkommenen Offenbarung dessen, wer und was er wahrhaft ist, ist besonders wichtig für unsere Kultur.
Der Jesus, der im Markus-Evangelium dargestellt wird, hat wahre spirituelle Autonomie; im modernen Sprachgebrauch könnte man sagen, er ist er selbst. Nun haben vermutlich viele Menschen von der Autonomie des Ego gehört, die darin besteht, einen Platz innerhalb der eigenen Psychologie zu erreichen, der stimmiger und nicht so konfliktreich ist, sodass man kraftvoll und lebendig in der Welt stehen kann. Aber spirituelle Autonomie, wie Jesus sie verkörpert, geht weit darüber hinaus.
Spirituelle Autonomie bedeutet, zu wissen, wer und was Sie sind – zu wissen, dass Sie göttliches Sein selbst sind, zu wissen, dass Ihre Essenz Göttlichkeit ist. Sie bewegen sich in der Welt von Zeit und Raum, erscheinen als menschliches Wesen, sind aber dennoch ewiges, göttliches Sein: das Zeitlose, das sich Bahn bricht und innerhalb der Welt der Zeit agiert. Für Jesus ist der Geist alles. Nichts ist wichtiger als der Geist, oder, wie ich es lieber ausdrücke, göttliches Sein. Göttliches Sein ist es, wofür Jesus steht; es ist die lebendige Quelle, aus der heraus er sich bewegt, aus der heraus er spricht, aus der heraus er seine Kritik formuliert. Er ist die lebendige Gegenwart des göttlichen Seins. Er ist auch ein menschliches Wesen, aber er ist da, um göttliches Sein zu enthüllen, und das wird am deutlichsten im Markus-Evangelium.
Dieses Evangelium zeigt in großartiger Weise die Suche von Jesus nach sich selbst. Der Jesus von Markus ist ein suchender Jesus: Er sucht nach seiner Identität, er sucht nach seiner Rolle, er experimentiert, er findet heraus, was funktioniert und was nicht. Er ist auf einer Reise, und er lädt uns alle ein zu dieser Reise mit ihm, als wären auch wir die Jünger.
Wie ich sagte, zeigt Markus von allen Evangelisten am deutlichsten Jesus als spirituellen Revolutionär. In diesem Evangelium prangert Jesus geradezu unerbittlich die Korruption auf allen Ebenen an; er kritisiert die Religion, in der er aufwuchs. Jesus ist von Anfang bis Ende der Geschichte ein Jude; er ist als Jude geboren und stirbt als Jude. Nie verwirft er seine Religion, aber er will sie revolutionieren.
Jesus tat, was alle wahren Propheten tun: Er brachte neues Leben und frischen Geist in die gewohnten Denkweisen und alten Geschichten. Er verwandelte sie in etwas, das wirklich zu unseren Herzen spricht, zu dem in uns, das eine Beziehung zum Strahlen des Göttlichen sucht und im Grunde dieses Strahlen selbst werden und verkörpern will. Letztendlich ist der Jesus, den Markus schildert, nur daran interessiert, Menschen zum ewigen Leben zu erwecken und sie das göttliche Sein in sich selbst entdecken zu lassen.
Zwei Themen ziehen sich durch dieses ganze Evangelium. Eins davon ist die sich entfaltende Rolle von Jesus – wie er sich selbst sieht, wie er seine Lehre übermittelt, wie er im Verlauf der Geschichte das Verständnis für seine Aufgabe im Leben entwickelt. Das andere Thema hat damit zu tun, wie eine rechte Beziehung zum göttlichen Sein hergestellt werden kann. Damit meine ich: Wie sind wir in der rechten Beziehung zur Göttlichkeit in uns selbst? Wie können wir uns in guter und hilfreicher Weise dem Mysterium unserer eigenen Existenz zuwenden? Diese beiden Themen stehen im Zentrum des gesamten Markus-Evangeliums.
Matthäus, Lukas und Johannes
Auch wenn Markus meine Interpretation am meisten inspiriert, werde ich ergänzend Texte aus den anderen Evangelien untersuchen. Das Matthäus-Evangelium verwendet etwa achtzig Prozent des Materials, das wir im Markus-Evangelium finden, aber Matthäus fügt auch eine Menge hinzu; Matthäus ist fünfzig Prozent länger als Markus. Matthäus betont in seinem Evangelium die Gemeinde der Kirche und die Beziehung der Jesus-Geschichte zur Kirche. Deshalb ist das Matthäus-Evangelium wahrscheinlich das, welches Priester am liebsten verwenden. In diesem Evangelium wird Jesus als der gute Hirte dargestellt, als die liebende und einladende Präsenz des Seins. Natürlich finden wir bei Matthäus immer noch den revolutionären Jesus, aber die hinzugefügte Bedeutung Jesu als Verkörperung der Liebe schimmert hindurch, und deshalb ist dieses Evangelium so populär.
Das Lukas-Evangelium zeigt Jesus als Erfüllung der...