00 – Vorwort
Der Göttinger Theologe Gerd Lüdemann behauptet, Jesus sei in seinem Grab verwest wie jede andere Leiche. Damit behauptet Lüdemann mehr, als er wissen kann, aber ich fürchte, er hat Recht.
Und wenn er Recht hätte – könnten wir noch Christen sein?
Ja, sagt Lüdemann. Christen könnten Christen bleiben, auch wenn sie »nicht an die Wiederbelebung eines Leichnams glauben«. Dem Christen helfe, »wenn er fortan vom Wenigen lebt, was er wirklich glaubt, nicht vom Vielen, was zu glauben er sich abmühen musste«.
Von diesem Wenigen handelt dieses Buch. Und davon, wie aus diesem Wenigen für mich seit ein paar Jahren immer mehr wird.
Vor rund drei Jahrzehnten, während meines Theologiestudiums, hatte ich gedacht, der kümmerliche Rest, der übrig bleibt, wenn man die Auferstehung und überhaupt die ganze Mythologie aus der Bibel streicht, hilft keinem Menschen mehr. Ich war überzeugt: Die Auferstehung, das zentrale Wunder des Neuen Testaments, ist der Eckstein des christlichen Glaubens. Wenn Theologen ihn zertrümmern, fällt das ganze Gebäude zusammen. Das hat schon Paulus gesagt: Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.
Darum erschien mir der damals von Dorothee Sölle geprägte Begriff atheistisch an Gott glauben als eine Absurdität, die damit zusammenhängende Tod-Gottes-Theologie als eine theologische Spinnerei, und auch mit dem von Dietrich Bonhoeffer geprägten religionslosen Christentum wusste ich nicht viel anzufangen. Das alles hielt ich für einen untauglichen Versuch, das unrettbar verlorene Christentum der Antike und des Mittelalters in die Neuzeit und in die Moderne hinüber retten zu wollen. Und auch als Ausdruck einer Feigheit vor dem letzten Schritt.
Dieser hätte darin bestehen müssen, dass die atheistischen Tod-Gottes-Theologen ihren Beruf aufgeben. Weil aber ihre wirtschaftliche Existenz davon abhing, haben sie sich trickreich ein Konstrukt zurechtinterpretiert, das es ihnen erlaubte, trotzdem weiter Theologie zu betreiben, dachte ich.
In diese Verlegenheit wollte ich gar nicht erst kommen. Darum habe ich mein Theologie-Studium an den Nagel gehängt und beschlossen, mich fortan als fröhlicher Agnostiker durch das Leben zu wursteln und die ewigen Fragen für den Rest meines Lebens als unbeantwortbar auf sich beruhen zu lassen.
Mir war, als ob man eine schöne antike Skulptur in ein Säurebad gelegt hätte, um zu sehen, was übrig bleibt. Und übrig geblieben ist ein amorpher Klumpen, von dem die Säure der Aufklärung alles weggeätzt hatte, was mir an der ursprünglichen Figur als schön und wertvoll erschienen war.
Ich war mit diesem Torso fertig, trauerte noch eine Zeit lang und versuchte, ihn zu vergessen. Scheinbar gelang das. Von Zeit zu Zeit hörte ich in diverse Rundfunkpredigten hinein, verfolgte von ferne das bunte Treiben auf den Kirchentagen, las mal hier ein Traktätchen, mal dort ein Hirtenwort, gelegentlich auch theologisches Schrifttum, aber kam jedes Mal zu dem Schluss: Sie beschwören noch immer die alten Formen ihrer antiken Skulptur und beschweigen den Torso. Verhüllen ihn sogar. Versuchen, ihn vor sich und der Gemeinde zu verbergen. Er erscheint ihnen selber als trostlos. Ich versäume also nichts, wenn ich den Kirchentag schwänze, die Gottesdienste meide. Es ist vorbei. Das Christentum ist nur noch Gerede und Geschwätz, Religionsausübung für die, die das noch brauchen. Es hat sich erledigt. Jesus ist in seinem Grab verwest. Das wird wohl das letzte Wort gewesen sein.
War es jedoch offenbar nicht. Jedenfalls nicht für mich, denn seit einiger Zeit betrachte ich den Torso mit neuen Augen. Er erscheint mir noch immer als amorphe Masse. Aber schimmert er nicht wie ein Klumpen Gold?
Heute sehe ich: Je mehr unhaltbares Zeug aus der schönen antiken Skulptur weggeätzt wird, desto weniger bleibt zwar übrig, aber desto deutlicher tritt tatsächlich die eigentliche Gestalt der christlichen Botschaft hervor. Sie erscheint uns nur deshalb als amorph und unansehnlich, weil unser Sehen so lange von der Schönheit der antiken Skulptur geprägt war. Wenn wir aber unseren Blick lösen von dieser Figur und uns innerlich für neue Seh-Erlebnisse bereit machen, bekommen wir etwas aufregend Neues zu sehen, das näher an der Wahrheit ist, der Aufklärung standhält und keine intellektuellen Opfer von uns verlangt.
Daher denke ich heute: Die Tod-Gottes-Theologen hatten recht. Auferstehung ist gar nicht der Eckstein des christlichen Glaubens. Die Christenheit hat diesem Pauluswort eine viel zu hohe Bedeutung beigemessen. Durch eine Relativierung des Auferstehungsglaubens kommt die eigentliche Botschaft der Bibel erst richtig zur Geltung.
Vom Christentum bleibt dann nur noch wenig übrig, eigentlich fast nichts, hatte ich jahrzehntelang gedacht. Heute denke ich: Es mag wenig sein, aber es könnte die Welt retten.
Darin steckt das für mich aufregend Neue, um dessentwillen ich dieses Buch schreibe, mit dem ich Atheisten, Agnostikern und kirchlich Randständigen sagen möchte: Dieses Neue wird auch Euch einleuchten, die Ihr nicht an Wunder, Jungfrauengeburt, Auferstehung und die Unfehlbarkeit des Papstes glauben könnt. Ihr haltet es mit dem Philosophen Ernst Tugendhat, der die Ansicht vertritt, Religion sei ein anthropologisches Grundbedürfnis, dem nachzugeben aber intellektuell unredlich sei.
Er hat Recht. Aber an einem durch das Säurebad der Aufklärung gegangenen, von allen Mythen gereinigten Christentum zielt seine Kritik vorbei, denn dieses Christentum ist keine Religion mehr. Es ist zwar noch ein Glaube, vielleicht die von Sölle gemeinte atheistische Form des Glaubens und gewiss die von Bonhoeffer intendierte religionslose Form des Christentums, aber eben nicht mehr jene Art von Religion, welche ein bestimmtes anthropologisches Grundbedürfnis befriedigt, sondern die einzig noch redliche, mit dem geistigen Stand des 21. Jahrhunderts vereinbare Form des Glaubens, von der ich früher dachte, sie sei überflüssig und absurd, von der ich heute denke, sie sei nötiger denn je.
Und dabei handelt es sich nicht, wie ich lange dachte, um den gut gemeinten Versuch, eine überholte Weltanschauung neuzeitkompatibel zu machen, sondern um den Versuch, unter heutigen Bedingungen besser zu verstehen, was die alten Texte meinen, und genau dieses bessere Verständnis führt zu der Entdeckung, dass der Unterschied zwischen Religion und jüdisch-christlichem Glauben schon von Anfang an da war und bereits im Alten Testament angelegt ist. Dieser Unterschied scheint auf in dem beständigen »Murren« des Volkes Israel über seinen Gott. Die anderen »Völker dienten ihren Göttern gern«, sagt der Neutestamentler Gerhard Lohfink. »Die Ägypter, die Assyrer und Babylonier, die Griechen und Römer, sie alle ... feierten mit Lust ihre religiösen Feste.« Dagegen Israel: Ein Teil seiner Geschichte kann gelesen werden als ständige Rebellion gegen seinen Gott. Warum ist das so?
Lohfink sagt: Israel wollte religiös sein, wie die anderen Völker auch, und die ganze Bibel erzählt davon, dass Gott etwas ganz Anderes wollte. Religion frage nach den großen Rätseln des Daseins. Alles, was dem religiösen Menschen als Geheimnis begegne, ihn erschüttere, fasziniere, erschaudern lasse, mache er zu seinen Göttern: das Schicksal, den Tod, die Liebe, den Rausch, die Fruchtbarkeit, den Krieg, die Sehnsucht, die Macht, die Schönheit – all das werde als göttlich erfahren und deshalb vergöttlicht und angebetet. Das aber sei nicht schwer. Im Gegenteil. Den Göttern der Macht und der Liebe zu dienen, sei sogar eine Lust.
Israel aber bekommt es mit einem Gott zu tun, dem zu dienen eine Last ist. Sein fremder Wille kommt den natürlichen Bestrebungen des Menschen immer wieder in die Quere und ruft dessen Widerwillen hervor. So einen Gott, der einem nicht zu Diensten ist, sondern einen in Dienst nimmt, projiziert man nicht in den Himmel. Darum muss es sich um den wahren Gott handeln. Darum kam mit dem jüdischen Glauben eine erste Religionskritik, eine erste Aufklärung in die Welt. Schon in seinen Ursprüngen war der jüdisch-christliche Glaube religionslos. Und genauso wurde er von den religiösen Völkern empfunden. Für diese waren die Sterne Götter, für Israel waren es Lampen – in den Augen der anderen eine Blasphemie. Dafür wurden die Juden von den religiösen Völkern gehasst.
Religion geht vom Menschen aus, von seinen Wünschen, seinen Sehnsüchten. Israels Glaube geht von Gott aus, fragt, was er will, und die Antwort gefällt dem Menschen nicht. Israels Glaube – das sehen wir heute schärfer als frühere Generationen – verlangt von Anfang an, dem anthropologischen Grundbedürfhis nach Religion zu widerstehen. Deshalb zielt Tugendhats Religionskritik am Judentum und Christentum, sofern sie aufgeklärt sind, vorbei. Deshalb kann man auch heute weiterhin Christ sein, muss es aber auf eine religionslose Weise sein.
Wie und warum ich heute anders denke als früher, wie es zu dem Sinneswandel kam, und warum ich heute überzeugt bin, dass der aufgeklärte christliche Glaube näher bei sich selbst, an Jesus und den Propheten ist als die christliche Religion vor der Aufklärung, versuche ich in diesem Buch verständlich zu machen.
Ich versuche es, indem ich meine eigene Glaubensgeschichte erzähle. Bewusst verzichte ich auf eine intellektuelle Auseinandersetzung mit Tugendhat und der ganzen philosophisch vorgebrachten Religionskritik. Bewusst erzähle ich einfach nur, so schlicht wie möglich, was aus meinem Kinderglauben im Lauf meines Lebens geworden ist. Das hat vier Gründe:
Erstens erscheint von mir, fast zeitgleich mit diesem Buch, ein...