Jesus, der heilende Lehrer
Ein wesentlicher Teil seiner irdischen Aufgabe, zu der er später auch seine Jünger heranzieht, besteht darin, Menschen von ihren Krankheiten zu befreien. Krankheiten sind, wie wir heute begreifen, nicht selten Auswirkungen von tiefen liegenden Widersprüchen in unserer Psyche. Diese „neue“ Erkenntnis ist uralt und nur sehr schwer zu akzeptieren. Besonders in einer Zeit, in der wir gewohnt sind, alles und jedes auf physikalische, chemische, bzw. auf materielle Ursachen zurückzuführen10.
Allerdings scheint die vordergründige Erklärung, die zur Zeit Jesu üblich war, dass Krankheit die Folge geheimer Sünden wäre11, ebenso fragwürdig. Krankheit gehört zum Menschen, und auch Jesus geht nicht durch die Lande, um alle Kranken zu heilen. Im Gegenteil! Man könnte ihm sogar den Vorwurf machen, dass er seine Wundermacht nur ganz gezielt einsetzt, obwohl zweifellos ein größerer Menschenkreis seine heilende Zuwendung erlebte, als es nach oberflächlicher Betrachtung der Evangelien erscheinen mag. Immer wieder finden wir den Satz:
und man brachte die Kranken zu ihm und er heilte viele ...12
Doch ließe sich der Hinweis, und er heilte viele, auch dahingehend deuten, dass Jesus kein „Gießkannenheiler“ ist. Er tastet die Freiheit des Menschen niemals an, die Freiheit des Geschöpfes, die in den Augen Gottes so schwer wiegt, dass er seinen Sohn dafür in die Welt gesandt hat. Auch kranke Menschen müssen ernst genommen werden. Auch sie müssen bereit sein, mit ihrem Willen die Krankheit zu überwinden, das Leben zu wählen, anstelle des Siechtums oder den Tod.
Was ist dann aber mit Lazarus oder dem Jüngling von Nain? Oder dem Knecht des Hauptmanns von Karfarnaum?
Die Toten können doch nicht gefragt werden? Will Lazarus oder der Jüngling von Nain tatsächlich wieder ins irdische Leben zurückkehren?
Wenn wir die Erweckung des Jünglings von Nain hernehmen, dann lesen wir Folgendes:
Einige Zeit später ging er in eine Stadt namens Nain; seine Jünger und eine große Menschenmenge folgten ihm. Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie. Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! Dann ging er zu der Bahre hin und fasste sie an. Die Träger blieben stehen, und er sagte: ich befehle dir, junger Mann: Steh auf! Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen, und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück. (Lk7,11-15)
Auf den ersten Blick handelt Jesus in dieser Erzählung aus eigener Machtvollkommenheit. Er fragt weder den Jüngling noch seine Mutter, ob er den Toten ins irdische Leben zurückholen darf. Er befiehlt ihm einfach aufzustehen, und es geschieht. Wo ist also des Jünglings Freiheit geblieben? Wir könnten jetzt einwenden, dass er zu sprechen anfängt und sich offensichtlich über sein neu gewonnenes Erdendasein nicht beschwert. Doch diese Erklärung greift zu kurz. Es gilt daher zu überlegen, was über die Freiheit des Menschen zu stellen wäre. Wenn wir den Text nochmals durchgehen, dann lesen wir, dass Jesus Mitleid mit der Mutter hat.
Dass eine Mutter schwer zu tragen hat, wenn ihr ein Kind entrissen wird, versteht sich von selbst. Und dass eine kinderlose Witwe zurzeit Jesu doppelt leidet, weil sie einem ungewissen und schweren Schicksal im Alter entgegengeht, das ist Jesus und seiner Umgebung ebenso klar. Seine und unsere natürliche Reaktion wären Mitgefühl und der berechtigte Wunsch, dass der Jüngling seine Kraft und sein Leben der Mutter zuliebe zurückgewinnen möge. Im Gegensatz zu uns besitzt Jesus die Macht, diesen Wunsch zu erfüllen, und er setzt sie ein.
Er holt den Jüngling ins Leben zurück und übergibt ihn wieder seiner Verantwortung, die Jesus im Namen der Liebe über seine persönliche Freiheit stellt. Zweifellos ist es schwer zu begreifen, wenn wir nur den Gesetzen des logischen Denkens verpflichtet sind. Wenn wir uns aber die Mühe machen, Freiheit und Liebe auf einer Ebene zu denken, dann können wir vielleicht verstehen, warum Jesus so und nicht anders handeln konnte.
Freiheit wird heute vielfach verstanden als Freiheit von … Freiheit von Zwängen, Einschränkungen und anderes mehr. In diesem Fall steht das eigene Wohl im Mittelpunkt, das von anderen nicht beeinträchtigt werden darf. Wenn wir aber lieben, verwandelt sich die Freiheit von – die nur auf uns selbst bezogen ist – in eine Freiheit zu. Liebe setzt Freiheit voraus und umgekehrt. Ein wahrhaft liebender Mensch will den anderen nicht abhängig machen, nicht binden, nicht für sich haben. Er gesteht ihm den höchsten Grad von Freiheit zu, der darin besteht, ihn so sein zu lassen wie es für ihn am besten ist. Jesus holt den Jüngling zurück und übergibt ihn damit seiner in der Liebe begründeten Verantwortung.
Ähnliches lässt sich auch über die Auferweckung eines Mädchens sagen, der einzigen Tochter des Vorstehers einer Synagoge.
Als Jesus (ans andere Ufer) zurückkam, empfingen ihn viele Menschen; sie hatten schon auf ihn gewartet. Da kam ein Mann namens Jairus, der Synagogenvorsteher war, und fiel Jesus zu Füßen und bat ihn, in sein Haus zu kommen. Denn sein einziges Kind, ein Mädchen von zwölf Jahren, lag im Sterben. Während Jesus noch redete, kam einer, der zum Haus des Synagogenvorstehers gehörte, und sagte (zu Jairus): „Deine Tochter ist gestorben. Bemüh den Meister nicht länger!“ Jesus hörte es und sagte zu Jairus: Sei ohne Furcht; glaub nur, dann wird sie gerettet. Als er in das Haus ging, ließ er niemand mit hinein außer Petrus, Johannes und Jakobus und die Eltern des Mädchens. Alle Leute weinten und klagten über ihren Tod. Jesus aber sagte: Weint nicht! Sie ist nicht gestorben, sie schläft nur. Da lachten sie ihn aus, weil sie wussten, dass sie tot war. Er aber fasste sie an der Hand und rief: Talita kum! Mädchen steh auf! Da kehrte das Leben in sie zurück, und sie stand sofort auf. Und er sagte, man soll ihr etwas zu essen geben. Ihre Eltern waren außer sich. Doch Jesus verbot ihnen irgendjemand zu erzählen, was geschehen war. (Lk8, 40-42;49-56)
Obwohl das Mädchen schon gestorben ist und es nach menschlichem Ermessen nicht mehr gerettet werden kann, bleibt Jesus ganz ruhig und lässt die Nervosität und Aufregung, die ihn von allen Seiten umgibt, von sich abgleiten. Er fordert nur den Vater auf, an seinem Glauben festzuhalten, um das Mädchen zu retten. Wieder ist es die Liebe, die siegreich bleibt. Der Vater vertraut ihm, und das Mädchen wird ihm zurückgegeben.
Wenn man sich der Stimmung dieses Textes überlässt, dann spürt man, dass Jesus in diesem Fall sehr behutsam vorgeht und die kleine Familie vor den Folgen des außergewöhnlichen Ereignisses zu schützen versucht. Schon im Augenblick, als er das Haus betritt, versucht er seine „Arbeit“ herunterzuspielen, indem er die Leute auffordert, ihr Klagen und Weinen einzustellen, weil das Mädchen nur schliefe. Damit kommt er aber bei den „Fachleuten der Realität“ an die falsche Adresse. Was will er, der überspannte junge Mann? Will er ihnen vielleicht weismachen, dass das Mädchen noch lebt?
Da lachen sie ihn aus, weil sie wissen, dass sie tot ist.
Sie lachen ihn einfach aus. Einfach so, weil er einen offensichtlichen Unsinn daherredet. Wie er sich dabei fühlt? Ob er verärgert ist? Wir wissen es nicht. Doch die Tatsache, dass er nur die Eltern des Mädchens und seine Lieblingsjünger in das Sterbezimmer des Kindes mitnimmt, lässt vermuten, dass er sich der Menge der Realisten „draußen“ zu entziehen sucht. Zu intim und fast zärtlich ist das, was sich in dem Zimmer abspielen wird.
Talita kum!
Sogar die aramäischen Worte, die Jesus wahrscheinlich wirklich gesagt hat, sind uns überliefert, ebenso wie die einfache Art und Weise, wie er die Eltern auf den Boden des gewöhnlichen Lebens zurückholt, indem er sie auffordert, dem Mädchen etwas zu essen zu geben. Dass ihnen Jesus verbietet, irgendjemandem zu erzählen, was geschehen ist, erscheint auf den ersten Blick ziemlich sinnlos, da kaum anzunehmen ist, dass die Leute von vorher an dem Schicksal des Mädchens jetzt nicht mehr interessiert wären. Im Gegenteil, jetzt erst recht möchten alle wissen, was passiert ist. Und dennoch spricht er es aus! Warum? Vielleicht um sich selbst oder die Eltern zu schützen?
Obwohl er immer wieder die Geheimhaltung seiner Wunder einfordert13, scheint es in diesem Fall nicht primär um ihn selbst zu gehen. Wenn er sonst die Geheimhaltung seiner Heilungskraft einfordert, versucht er vor allem dem Missbrauch seiner Person als „Wunderrabbi“ zu verhindern, um den Ernst seiner Sendung zu wahren. Jetzt spricht er das Verbot aber eher zum Schutz der überforderten Eltern aus. Wenn aus ihnen nichts herauszubringen ist, würde man...