Einleitung
Jetzt – jener rätselhafte, flüchtige Zeitpunkt, der seine Bedeutung in jedem Augenblick ändert – verwirrt seit jeher Priester, Philosophen und Physiker, und das aus gutem Grund. Um das Jetzt zu verstehen, braucht man Kenntnisse über Relativitätstheorie, Entropie, Quantenphysik, Antimaterie, Zeitreisen in die Vergangenheit, Verschränkung, den Urknall und dunkle Energie. Erst jetzt verfügen wir über alle physikalischen Kenntnisse, um das Jetzt zu verstehen.
Die schwer fassbare Bedeutung von Jetzt war ein Stolperstein für die Entwicklung der Physik. Wir verstehen die Zeitdehnung durch Geschwindigkeit und Gravitation und sogar die Umkehr der Zeit in der Relativitätstheorie, aber wir haben keine Fortschritte gemacht, wenn es darum geht, die verblüffendsten Aspekte der Zeit zu verstehen: ihr Fließen und die Bedeutung des Jetzt. Das grundlegende Zeichenbrett der Physik, Raum-Zeit-Diagramm genannt, geht über solche Fragen hinweg; Physiker halten dieses Fehlen unsinnigerweise manchmal für eine Stärke und gelangen zu dem Schluss, das Fließen der Zeit sei eine Illusion. Aber das ist rückständig. Solange wir die Bedeutung des Jetzt nicht dingfest machen können, werden weitere Fortschritte in der Erforschung der Zeit – jenes Schlüsselaspekts der Realität – weiterhin auf Hindernisse stoßen.
Mit diesem Buch verfolge ich das Ziel, die wesentlichen physikalischen Aspekte zusammenzusetzen wie Puzzlesteine, bis sich ein eindeutiges Bild des Jetzt herauskristallisiert. Damit das klappt, müssen wir auch diejenigen Puzzlesteine finden und entfernen, die an den falschen Orten eingesetzt wurden.
Dass das Rätsel bisher so schwer zu lösen war, liegt daran, dass dazu ein breites Spektrum physikalischer Kenntnisse erforderlich ist. Physik ist weder einfach noch geradlinig, und deshalb behandelt dieses Buch eine ungeheure Menge von Themen – eigentlich vielleicht zu viele für einen einzigen Band. Man kann deshalb durchaus hin und her blättern und mit Hilfe des Registers wichtige Gedanken finden, die man vielleicht vermisst hat. Ebenso kann man sich meine Erzählung als eine Art Krimi vorstellen, in dem sich allmählich immer mehr Anhaltspunkte ergeben, bis sie schließlich zu einer bemerkenswerten Auflösung führen.
Mein Hintergrund ist vorwiegend die Experimentalphysik – die Konstruktion und Benutzung neuer Gerätschaften, mit denen man physikalische Tatsachen, die zuvor verborgen waren, vermessen oder gelegentlich auch neu entdecken kann. Zwei meiner Projekte standen in unmittelbarem Zusammenhang mit unseren Kenntnissen über die Zeit: eine Messung der Mikrowellentrümmer des Urknalls und eine genaue Vermessung der früheren Ausdehnung des Universums einschließlich der Entdeckung dunkler Energie, die diese Expansion beschleunigt. Ich muss zwar zugeben, dass ich auch einige rein theoretische Fachartikel geschrieben habe, das tat ich aber vor allem dann, wenn die Finanzmittel für Experimente knapp waren oder wenn die Theorie nach meiner Überzeugung vom richtigen Weg abgekommen war. So weit ich weiß, ist dies derzeit das einzige Buch, das gezielt von der Zeit handelt und von einem Physiker geschrieben wurde, der tief in der experimentellen Arbeit steckt; ich werde versuchen, einige Einblicke in die Herausforderungen und Frustrationen zu geben, mit denen solche Arbeiten verbunden sind.
Der Weg zum Verständnis des Jetzt besteht aus fünf Teilen.
In Teil I mit der Überschrift Verblüffende Zeit erläutere ich zunächst einige handfest nachgewiesene und dennoch erstaunliche Aspekte der Zeit, die im Wesentlichen von Albert Einstein entdeckt wurden. Zeit kann sich nicht nur dehnen, biegen und umkehren, sondern solche Verhaltensweisen haben auch Einfluss auf unser tägliches Leben. Das Satellitensystem GPS, das dafür sorgt, dass wir uns nicht verirren, stützt sich in großem Umfang auf Einsteins Relativitätsgleichungen, die von diesen seltsamen Eigenschaften der Zeit handeln. Die Relativitätstheorie hat uns den Begriff der vierdimensionalen Raumzeit beschert. Die wichtigste Aussage von Teil I lautet: Wir wissen eine Menge über die Zeit, und ihr Verhalten ist nicht einfach, aber gut bekannt. Wie schnell sie läuft, hängt von den lokalen Bedingungen der Geschwindigkeit und Gravitation ab, und selbst die Reihenfolge von Ereignissen – die Frage, welches Ereignis sich zuerst abgespielt hat – ist keine allgemeingültige Wahrheit. Darüber hinaus liefert uns Einsteins Relativitätstheorie einen großen Teil des Gerüsts, das wir brauchen, um die Bedeutung des Jetzt zu verstehen.
Der Teil II trägt die Überschrift Ein gebrochener Pfeil. Hier entferne ich aus dem Puzzle ein Stück, das an die falsche Stelle gepresst wurde, eine Theorie, die den Fortschritt beim Verstehen des Jetzt mehr als jede andere behindert hat. Dieser falsch angebrachte Puzzlestein ist die Theorie des Physikers Arthur Eddington, die angeblich eine Erklärung für den Zeitpfeil liefert – für die Tatsache, dass die Vergangenheit über die Zukunft bestimmt und nicht andersherum. Um ihn aus dem Weg zu räumen, präsentiere ich zuerst die bestmögliche Argumentation, die seine Theorie unterstützt, und erst danach mache ich auf ihre tödlichen Schwächen aufmerksam.
Eddington führte das Fließen der Zeit auf die Zunahme der Entropie zurück, die ein Maß für die Unordnung im Universum darstellt. Heute wissen wir über die Entropie des Universums viel mehr als Eddington, der seine Theorie 1928 formulierte, und ich werde darlegen, dass er das Pferd von hinten aufzäumte. Das Fließen der Zeit verursacht die Zunahme der Entropie, nicht andersherum. Die Erzeugung von Entropie hat nicht die tyrannische Wirkung, die man ihr häufig zuschreibt. Wie sich herausstellt, ist die Kontrolle über die Wege der Entropie entscheidend für unser Verständnis des Jetzt.
Im Teil III, Gespenstische Physik, kommt ein weiteres wichtiges Element für das Verstehen des Jetzt hinzu: die geheimnisvolle Wissenschaft der Quantenphysik. Sie ist vielleicht die erfolgreichste Theorie aller Zeiten – Vorhersagen und Beobachtungen stimmen bis auf zehn Dezimalstellen überein –, und doch ist sie sowohl beunruhigend als auch besorgniserregend. Das gespenstische Verhalten der Quantenwellen und ihrer Messung verletzt in krasser Weise Einsteins Relativitätsprinzipien, allerdings nicht so, dass man es unmittelbar beobachten oder ausnutzen könnte. Das Verhalten der Quantenwelle stellt unser Realitätsempfinden in Frage und entwickelt es weiter – ein Empfinden, das sich als entscheidend erweisen wird, wenn wir Licht in das Jetzt bringen wollen. So ergibt sich aus der Quantenphysik unter Umständen die höchst beunruhigende – oder vielleicht auch befreiende – Folgerung, dass die Vergangenheit nicht mehr über die Zukunft bestimmt, oder jedenfalls nicht vollständig. Einige Aspekte der Quantenphysik, die der Intuition am stärksten widersprechen, insbesondere das seltsame Merkmal der Verschränkung, wurden experimentell bestätigt, und diese (überraschenden!) experimentellen Befunde legen die Vermutung nahe, dass die eingeschränkte Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, für alle Zeiten eine grundlegende Schwäche der Physik bleiben wird.
In Physik und Realität, dem Teil IV, untersuche ich die Grenzen der Physik. Keine Sorge, die Zeit und das Jetzt gehören nicht in diesen Bereich; sie haben ihren Ursprung in der Physik, aber wie wir sie wahrnehmen, hängt von unserem Gespür für die Realität ab, einem Gespür, das über die Physik hinausreicht. Die Mathematik bildet eine Welt der Realität ab, die sich nicht durch physikalische Experimente belegen lässt; das gilt sogar für etwas so Einfaches wie die Tatsache, dass die Quadratwurzel von 2 eine irrationale Zahl ist. Andere Themen dagegen sind real, gehören aber nicht in die Domäne für der Physik; dazu gehört zum Beispiel die Frage, wie die Farbe Blau eigentlich aussieht. Die Leugnung nichtphysikalischer und nichtmathematischer Wahrheiten wurde von Philosophen als Physikalismus bezeichnet. Der Physikalismus ist ein Glaube und hat alle Merkmale einer Religion. Leider führen die Indizien entgegen Einsteins glühender Hoffnung zu der Schlussfolgerung, dass die Physik unvollständig ist und nie in der Lage sein wird, die gesamte Realität zu beschreiben.
Im Teil V mit der Überschrift Jetzt werden die einzelnen Anhaltspunkte des Puzzles zusammengesetzt und zeigen in einem einheitlichen Bild, warum die Zeit fließt und welche Bedeutung der flüchtige Augenblick hat, den wir Jetzt nennen. Die Lösung liegt in einem Ansatz, der den Urknall vierdimensional betrachtet. Die Explosion des Universums schafft ständig nicht nur neuen Raum, sondern auch neue Zeit. Der vorderste, expandierende Rand der Zeit ist das, was wir als Jetzt bezeichnen, und der Fluss der Zeit ist die ständige Erschaffung von neuen Jetzts. Wir erleben den neuen Augenblick anders als den vorangegangenen, weil er der einzige ist, in dem wir Entscheidungen treffen und unseren freien Willen ausüben können, um damit die Zukunft zu beeinflussen und zu verändern. Allen Argumenten der klassischen Philosophen zum Trotz wissen wir heute, dass der freie Wille mit der Physik vereinbar ist; wer anders argumentiert, orientiert sich an der Religion des Physikalismus. Wir können die Zukunft...